Horizonte: Ernst Simmel – Stationäre Betreuung der Psyche

15.12.2022 | Service

Mit seinem progressiven Zugang zur Ätiologie von psychischen Erkrankungen, der darauf basierenden Idee der stationären Betreuung der Patienten und der Gründung einer psychoanalytischen Klinik in Berlin-Tegel legte Ernst Simmel den wesentlichen Grundstein für eine psychosomatische Medizin. Sein Todestag jährte sich im November zum 75. Mal.

Manuela-C. Warscher

Rund eine halbe Million „Kriegszitterer“ ließ der Erste Weltkrieg in Deutschland und Österreich-Ungarn zurück. Sie litten unter Störungen der Muskulatur, Sprache und Organe. Diesen Kriegsneurotikern verdankt die Medizin die psychoanalytische Psychosomatik nach Ernst Simmel (1882–1947). Nachdem sich nämlich der deutsche Psychoanalytiker 1914 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, folgte nach Stationen als Militärarzt und Chefarzt für Nierenerkrankungen eine Oberarztstelle im Festungslazarett 19 in Posen. In diesem Speziallazarett wurden Kriegsneurotiker, deren Neurosen vielseitige Symptome aufwiesen, betreut. Akribisch dokumentierte Simmel diverse Persönlichkeitsveränderungen infolge der Kriegstraumata und korrespondierende Symptome wie veränderte Gemütslage, Angst, körperliche Schwäche und Erregungszustände – und fasste sie unter dem Begriff Kriegsneurosen zusammen.

Ausgehend von Sigmund Freuds (1856–1939) und Josef Breuers (1842–1925) Konversionsmodell interpretierte er diese Symptome als Konvertierung des Psychischen ins Somatische beziehungsweise sah den Körper als Ausdrucksmittel der Seele: „Nervenstränge selbst sind bei der Neurose in Ordnung; aber das, was in tiefen Nervenbahnen zwischen Gehirn und den einzelnen Organen hin- und hergeleitet wird, [ist …] gestört.“ Daher führe auch das „Abfließen von Empfindungen in äußere Körperregionen und innere Organe“ – ähnlich einer Verdrängung unlustbetonter Affekte und Vorstellungen ins Unbewusste – zur Entstehung von körperlichen Symptomen. Weiters definierte er die aus der Verdrängung des Empfindungskomplexes entstandenen kriegsneurotischen Symptome als „eingeschaltete Sicherung“, wodurch sich das narzisstische Gleichgewicht wiederherstellen ließe und den Betroffenen vor der Entwicklung einer Psychose bewahre.

Psychoanalyse für Kriegsneurotiker

Simmel behandelte Kriegsneurotiker mit Hilfe von psychoanalytischen Methoden nach Freud. Damit grenzte er sich klar gegen die vorherrschende Kaufmann-Kur ab – eine Behandlung von Kriegsneurosen mit Gleich- und Wechselstrom kombiniert mit Wortsuggestion. Die Kritiker von Simmel beurteilten diesen Therapieansatz als zu harmlos und unterstellten ihm, dass sein einziges Behandlungsziel die Diensttauglichkeit der Soldaten wäre. Doch es war die schmerzvolle Kaufmann-Kur, die aufgrund von Todesfällen im Dezember 1917 verboten wurde, während Simmel seine Erfahrungen mit seiner Therapie in seinem Werk „Kriegsneurosen und Psychisches Trauma“ (1918) skizzierte. Mit einem der positiven Kritiker, Sigmund Freud, sollte ihm ab diesem Zeitpunkt eine jahrelange Freundschaft verbinden, die erst mit dem Tod des Wiener Psychiaters 1939 im englischen Exil endete.

Psyche als Ausgangspunkt

Den Weg von Simmel in die psychosomatische Medizin ebneten bereits seine Forschungen für seine Dissertation über die Dementia praecox, wie die Schizophrenie vor 1911 genannt wurde. Dabei stellte er fest, dass „es seltsam [ist], aber tatsächlich der Fall, bisher hat man bei der Betrachtung der erkrankten Psyche, die psychische Pathologie über der physischen fast gänzlich außeracht (sic!) gelassen“. So stellte er in den folgenden Jahren einerseits Überlegungen hinsichtlich innerer und äußerer Konflikte bei der Entstehung von Erkrankungen an, die Simmel als Vertreter des bio-psychosozialen Krankheitsmodells ausweisen. Andererseits entwickelte er das Konzept einer psychosomatischen Medizin, das die postnatale – intestinale – Libido als Basis von psychosomatischen Prozessen definierte. Demnach war der Verdauungstrakt nicht nur Ernährungsorgan, sondern Zentralapparat, um die postnatal gestörte narzisstische Libido-Ökonomie auszubalancieren. Als Kliniker konnte Simmel nämlich beobachten, dass Appendizitiden gehäuft in Kombination mit psychischen Erkrankungen beziehungsweise im Laufe von psychoanalytischen Behandlungen auftraten – und beschrieb sie als „Bewältigung von etwas, was psychisch nicht zu bewältigen ist“. Somit brachte Simmel ursächlich die psychische Überbelastung eines Organs aufgrund des erhöhten Ich-Libido-Anspruchs in Verbindung mit dem Krankheitsausbruch und schrieb ausgehend von Freuds Unbewussten die Wurzel der Krankheit der „tiefsten Schicht der Seele“ zu. Im 1927 gegründeten Sanatorium Schloss Berlin Tegel setzte Simmel das Konzept der integrierten Psychosomatik um.

Zeit seines Lebens wurde Simmel sowohl aufgrund seiner jüdischen Abstammung als auch seiner politischen Aktivitäten im Verein sozialistischer Ärzte verfolgt. Ein Anruf eines befreundeten Polizisten während einer Psychotherapiesitzung mit einem Patienten soll Simmel die Flucht vor der Gestapo ermöglicht haben. Das berichtete zumindest ein Psychoanalytiker in seinen Erinnerungen. Simmel konnte mit Hilfe des Patienten durch ein Fenster aus seiner eigenen Praxis fliehen, wurde aber kurz darauf dennoch verhaftet. 1933 konnte er über Zürich in die USA emigrieren. Er litt an einer koronaren Herzerkrankung und starb dort am 11.  November 1947 im Alter von 65 Jahren.

Simmel hinterließ mehr als 60 wissenschaftliche Arbeiten. Im Grunde war er einer der frühen Vertreter einer personalisierten Medizin: Seiner Meinung nach war jede Erkrankung eine Leistung der Persönlichkeit und somit nur vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte zu verstehen – und eine individuell angepasste Therapie somit unumgänglich.

Quellen: Lockot: Simmel (2010); Staar: Simmel (2014)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 /15.12.2022