USA: Kinder in der Krise

11.04.2022 | Politik

Die Corona-Pandemie verstärkt ein Problem, mit dem die USA schon seit Jahren zu ­kämpfen haben: die psychische Gesundheit von ­Kindern und Jugendlichen. Bei der Suche nach den ­Ursachen rücken vor allem die vermuteten ­negativen Effekte von Social media in den Fokus.

Nora Schmitt-Sausen

Pandemie-bedingte Ängste, getriggert durch soziale Isolation, unterbrochene Alltagsroutinen, Sorge, Verlust und Trauer breiten sich in den USA in Kinderzimmern und in den Schulen aus. Eltern und Lehrer berichten landesweit von verstörendem Verhalten: Weinen, Wutanfälle oder Rückzug bei jüngeren Kindern; vermehrte Gewalt an Schulen und Mobbing bei Kindern im ­Teenageralter – und teils auch Schlimmeres.

Um die psychische Gesundheit der jungen Generation in den USA steht es so schlecht, dass Präsident Joe Biden das Thema im März 2022 in seiner Rede zur Lage der Nation adressierte. Er räumte ein, dass die Pandemie weitreichende Folgen auf die Psyche der jungen Generation habe, da sie das Leben vieler Kinder und Jugendlicher „auf den Kopf gestellt“ habe. Biden macht die psychische Gesundheit von Amerikas Jugend zu einer Top-Priorität auf seiner politischen Agenda (siehe Kasten). Er hat gute Gründe dafür, denn die Lage im Land ist ernst.

Gegen Ende des Pandemie-Sommers 2021 vermeldete das Children’s Hospital of Philadelphia, eines der bekanntesten Kinderkrankenhäuser der USA, dass fast alle seiner 600 Betten belegt seien. Der Grund dafür waren nicht COVID-19-Infektionen, sondern neben vielen Kindern mit schweren Atemwegsinfekten eine überproportional hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen mit massiven mentalen Problemen. Die jungen Patienten litten unter schweren Depressionen und Angstzuständen, die sich in einigen Fällen in Selbstverletzungen, Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenmissbrauch und sogar Suizidversuchen äußerten.

Berichte von Kinderkrankenhäusern, die wegen der Behandlung von psychischen Notfällen an die Grenzen ihrer Kapazität gelangen, gibt es flächendeckend quer durch die USA. „Wir sehen die Probleme vor Ort“, zitierte ABC-News etwa die Kinderärztin Deborah Levine, die an einem New Yorker Krankenhaus arbeitet. „Wir suchen nach Wegen, um die Krise zu lindern, und in der Zwischenzeit behandeln wir aktiv die Kinder, die Hilfe brauchen.“ Die Krise sei so massiv, dass die Krankenhäuser sie kaum bewältigen könnten. Als Reaktion versuchen viele, ihre Bettenkapazität zu erhöhen.

Statistiken belegen Erfahrungen

Die Statistiken decken die Erfahrungsberichte: Nach einer Erhebung der Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich wegen einer mentalen Notsituation in Krankenhäuser begeben haben, während der Corona-Pandemie stark gestiegen. Zwischen April und Oktober 2020 gab es in der Gruppe der Fünf- bis Elfjährigen eine Zunahme von 24 Prozent, bei den Zwölf- bis 17-Jährigen gar um 31 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019. Noch dramatischer ist die Situation im Hinblick auf Suizidversuche: Hier verzeichneten die US-amerikanischen Krankenhäuser Anfang 2021 einen starken Anstieg bei den Behandlungen. Bei zwölf- bis 17-jährigen Mädchen etwa stieg die Rate im Vergleich zu 2019 um 51 Prozent.

Drei führende medizinische Fachgesellschaften – darunter die American Academy of Pediatrics (AAP) – sahen sich wegen der dramatischen Entwicklung dazu veranlasst, einen nationalen Gesundheitsnotstand der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auszurufen. Zusammen repräsentieren diese drei Gesellschaften 77.000 Ärzte und 200 Kinderkrankenhäuser. „Junge Menschen haben während dieser Pandemie so viel ertragen müssen, und während viel über die Folgen für die körperliche Gesundheit gesprochen wird, können wir die eskalierende Krise der psychischen Gesundheit, mit der unsere Patienten konfrontiert sind, nicht übersehen“, betonte AAP-Präsident Lee Savio Beers in einem Statement. Die aktuellen Zahlen der Kranken­häuser zeichneten ein „alarmierendes Bild“. Nicht nur der stark eingeschränkte Alltag habe Auswirkungen; auch hätten viele Kinder Verlust hautnah zu spüren bekommen. Bis heute haben in den USA mehr als 200.000 Heranwachsende in der Pandemie einen Elternteil oder eine andere enge Bezugsperson verloren.

Epidemie an Herausforderungen

Der Aufschrei der Ärzte wurde erhört: Kurz vor Jahreswechsel wandte sich der Surgeon General der USA, Vivek Murthy, an die US-amerikanische Öffentlichkeit – ein ungewöhnlicher, weil seltener Schritt. Beim „Surgeon General“ handelt es sich quasi um einen Arzt an der Spitze der Nation für alle Fragen der öffentlichen Gesundheit. Murthy sprach in US-amerikanischen Medien von einer „Epidemie an Herausforderungen“ für die psychische Gesundheit der jungen Generation. Er legt einen Bericht vor, der die drastischen Auswirkungen der Pandemie auf die junge Generation darlegt – und aber auch darauf hinweist, dass die Lage bereits zuvor brenzlig war. Denn: Die Pandemie verstärkt ein Problem, mit dem die USA bereits seit Jahren zu kämpfen haben.

Schon vor der Corona-Pandemie wies bis zu einem von fünf Kindern im Alter von drei bis 17 Jahren ein behandlungs­bedürftiges psychisches Gesundheitsproblem wie Depressionen, Angststörungen oder ADHS auf. Zwischen 2009 bis 2019 stieg der Anteil der Schüler an weiterführenden Schulen, die über anhaltende Gefühle von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit berichteten, um 40 Prozent. Damit ist mehr als einer von drei Schülern betroffen. Ebenso nahm das suizidale Verhalten von Schülern an weiterführenden Schulen in den zehn Jahren vor der COVID-19-Pandemie ebenfalls drastisch zu. So stieg die Suizidrate bei den Zehn- bis 24-Jährigen zwischen 2007 und 2018 um 57 Prozent. Damit war Suizid bereits im Jahr 2018 die zweithäufigste Todes­ursache von jungen Menschen in dieser Altersgruppe. Die Ärzte der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (AACAP) bringen es auf den Punkt: „Wir waren schon vor der Pandemie besorgt über die emotionale und psychische Gesundheit von Kindern. (…) Wir kümmern uns um junge Menschen mit steigenden Raten von Depressionen, Angstzuständen, Traumata, Einsamkeit und Suizida­lität, die nachhaltige Auswirkungen auf sie, ihre Familien, ihre Gemeinschaften und unser aller Zukunft haben werden“, sagte AACAP-Präsidentin Gabrielle A. Carlson. „Dies ist ein ­nationaler Notfall, und jetzt ist die Zeit für schnelles und überlegtes Handeln gekommen.“

Forderungen der Kinderärzte

Zu den Forderungen der Kinderärzte zählen etwa der Ausbau und verbesserte Zugang zu psychologischen und psychia­trischen Anlaufstellen, mehr Telemedizin sowie verbesserte Versorgungsangebote an Schulen. Denn: Ein zentrales Problem der USA ist, dass Krankenhäuser häufig die einzige Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in einer psychischen Notlage sind. Therapeuten und Therapieplätze stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Dort, wo überhaupt Ressourcen vorhanden sind, ­beträgt die Wartezeit Monate – selbst im Akutfall.

Auf der Suche nach den Ursachen

Bei der Suche nach den Ursachen für diese massive Krise geraten vor allem die von der Politik vermuteten negativen Effekte von Social Media in den Fokus. Für Kinder und Jugendliche, die ohnehin schon unter Ängsten, Depressionen, einem niedrigen Selbstwertgefühl oder unter sozialem Druck litten, könne ausgeprägter Social Media-Konsum und das damit verbundene Zur-Schau-Stellen eine weitere Abwärtsspirale in Gang setzen – und bis hin zu Essstörungen und Selbstverletzungen führen, sagen Experten. Cyber-Bullying und Ausgrenzung sind weitere Trends, die mit Social Media in Verbindung gebracht werden. Auch das sprach Präsident Joe Biden in seiner Rede zur Lage der Nation an. Er forderte den US-amerikanischen Kongress dazu auf, den Schutz der Privatsphäre von Kindern zu stärken, die gezielte Werbung für Kinder zu verbieten und die Technologieunternehmen dazu aufzufordern, das Erheben von Personen-bezogenen Daten von Kindern einzustellen. „Diese psychische Gesundheitskrise der Jugend wird durch große Social-Media-­Plattformen verschärft, die seit Jahren ein nationales Experiment mit unseren Kindern durchführen und ihre Daten verwenden, um sie zum Klicken zu bringen – mit enormen Folgen. Während Technologie-Plattformen unser Leben in gewisser Weise verbessert haben, gibt es immer mehr Beweise dafür, dass soziale Medien der psychischen Gesundheit, dem Wohlbefinden und der Entwicklung vieler Kinder und Jugendlicher schaden“, heißt es aus dem Weißen Haus.

Als weitere Ursachen dafür, dass immer mehr US-amerikanische ­Kinder und Jugendliche aus dem Gleichgewicht geraten, gelten zunehmender hoher familiärer oder schulischer Druck, das Aufwachsen in ­finanziell oder sozial instabilen Verhältnissen, die Vernachlässigung und ­unbehandelte chronische Erkrankungen von Körper oder Psyche.


Stärkung der psychischen Gesundheit

Die Regierung von Präsident Joe Biden legte im März 2022 eine Agenda vor, die sich mit der psychischen Gesundheit der US-Amerikaner – jung und alt – befasst. Neben einem besonderen Fokus auf der Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Teenagern werden dabei auch Versorgungslücken bei Erwachsenen angesprochen. Denn: Zwei von fünf US-Amerikanern leiden laut offiziellen Erhebungen seit der Corona-Pandemie unter Angstzuständen und Depressionen.

Der Biden-Plan enthält folgende Kernpunkte
• Mehr Anlaufstellen:
Biden will breite und niedrigschwellige Angebote schaffen, um Kinder und Jugendliche, die mit psychischen Problemen kämpfen, in die Versorgung zu bringen. Bereits durch frühe Hilfsangebote an Schulen sollen Wege geöffnet werden, dass Heranwachsende möglichst frühzeitig Kontaktstellen finden, um zu vermeiden, dass psychische Schieflagen zu lebensprägenden und lebensgefährdenden Situationen werden.
• Mehr Behandler: Es sollen finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um mehr Behandler ausbilden zu können. Ein gravierender Mangel an Therapeuten besteht in den USA landesweit. Ärzte sollen – so Biden – bei der Weiterqualifizierung unterstützt werden. Ausgebaut werden sollen auch Weiterbildungsmöglichkeiten für Sozialarbeiter und Krankenschwestern, die Ärzte, Psychologen und Psychiater bei ihrer Arbeit unterstützen können.
• Mehr Hilfe im Notfall: Ab Sommer dieses Jahres sollen alle US-Amerikaner, die sich in einer akuten psychischen Notlage befinden, eine zentrale Nummer kontaktieren können, um von dort aus zu jeder Zeit lokal Hilfe zu erhalten. Hinter der Nummer 988 zur Suizidprävention steht ein Netzwerk von Krisenzentren. Für bereits existierende mobile Kriseninterventionsteams soll mehr Geld zur Verfügung gestellt werden.
• Mehr Kostenübernahme: Die Biden-Regierung möchte erreichen, dass Krankenversicherungen Behandlungen für psychische Erkrankungen breiter übernehmen als dies bislang der Fall ist. Drei Sitzungen für Verhaltenstherapie jährlich sollen ohne Zuzahlung möglich sein. Auch der Zugang zur Telemedizin soll dauerhaft und möglichst ohne oder nur mit geringer Zuzahlung möglich sein.
• Mehr Mittel für Forschung: Die Biden-Regierung will die Gelder für Forschung zu Effekten von Social Media auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen deutlich erhöhen.

Der Plan von Biden ist der erste umfassende Vorstoß zur Stärkung der psychischen Gesundheit seit Jahrzehnten – und laut Experten dringend notwendig. Biden erhält für seine Vorhaben viel Zuspruch. Inwieweit alle Punkte umgesetzt werden können, hängt in weiten Teilen von der Bereitschaft des US-amerikanischen Kongresses ab, die dafür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Es gibt allerdings Grund zur Hoffnung, dass sich an der derzeitigen Unterversorgung etwas ändern wird: Im politischen Washington herrscht beim Thema Stärkung der psychischen Gesundheit seltene Einigkeit. Politiker beider Lager zeigen sich gesprächsbereit, wohl auch deshalb, weil Kinder und Jugendliche – und auch viele Erwachsene – in allen Landesteilen der USA betroffen sind. Erste Diskussionen und Anhörungen laufen bereits.


Pandemie legt soziale Ungleichheiten offen
Die Corona-Pandemie hat in den USA einmal mehr den Blick auf das starke soziale Gefälle im Land deutlich gemacht. Dies gilt auch mit Blick auf die psychische ­Gesundheit der jungen Generation. Die negativen Auswirkungen der Pandemie treffen diejenigen am ­stärksten, die bereits vor Beginn der Pandemie gefährdet waren: junge Menschen mit Behinderungen, Minderheiten, LGBTQ-Jugendliche, Jugendliche mit niedrigem Einkommen, junge Menschen aus ländlichen Gebieten, Kinder und Jugendliche aus Migrantenhaushalten, Jugendliche, die Berührungspunkte mit dem Jugendamt oder Jugendgerichtssystem haben und obdachlose junge Menschen.

Vom Verlust eines Elternteils oder einer anderen zentralen Bezugsperson durch COVID-19 waren in den USA besonders Kinder und Jugendliche nicht-weißer Herkunft betroffen, deren Familien häufig keinen oder nur einen erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 07 / 10.04.2022