USA: Die neue Schlaflosigkeit

10.05.2022 | Politik

Schon vor der Pandemie litten mehr als 50 Millionen US-Amerikaner an einer manifesten Schlafstörung. Die neue Schlaflosigkeit – Corona-Somnia, COVID-Somnia – ist laut Experten vorallem auf veränderte Lebensumstände und Änderungen in der Alltagsroutine zurückzuführen.

Nora Schmitt-Sausen

Die US-amerikanische Gesellschaft war noch nie für gutes Schlafverhalten bekannt. Im Gegenteil: Bereits vor der Pandemie litten mehr als 50 Millionen US-Amerikaner an einer manifesten Schlafstörung. Ein Drittel der Bürger berichtete sogar, regelmäßig weniger als die empfohlene Zeit zu schlafen. Probleme beim Ein- oder Durchschlafen, frühes Aufwachen oder schlechte Schlafqualität während der gesamten Nacht gehörten für viele US-Amerikaner bereits seit Jahren zum Alltag. Die Corona-Pandemie hat all das noch weiter verschärft.

Laut einer Erhebung der American Academy of Sleep Medicine (AASM) im Frühjahr 2021 berichten mehr als 56 Prozent der Amerikaner von Corona-bedingten Schlafstörungen. Die Betroffenen leiden unter Einschlafproblemen und haben Schwierigkeiten, durchzuschlafen. 46 Prozent der Befragten gaben an, weniger zu schlafen als in den Zeiten vor Corona, 45 Prozent schlafen schlechter und 36 Prozent berichten von schlechten Träumen. In anderen Umfragen kam heraus, dass manche Amerikaner seit der Pandemie mehr schlafen als zuvor: zu viel, als dass man es als gesundes Schafverhalten bezeichnen kann.

Weitere Indikatoren belegen den Einfluss der Pandemie auf den Schlaf der US-Bürger: Allein die Verkaufszahlen von Melatonin stiegen im ersten Pandemiejahr 2020 um 42 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, ermittelte das Marktforschungsinstitut Nielsen. Melatonin ist in den USA rezeptfrei erhältlich. Außerdem: In den ersten Pandemiemonaten 2020 stiegen die Google-Suchanfragen mit dem Begriff „Insomnia“ um 58 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren. Verbessert hat sich die Situation mit dem Andauern der Pandemie nicht. Im Gegenteil. In vielen Fällen ist aus gelegentlichen Schlafproblemen Schlaflosigkeit geworden.

Neue Bezeichnung

Experten haben mit „COVID-Somnia“ oder „Corona-Somnia“ bereits einen Begriff geprägt, um Schlafprobleme, die in Verbindung mit dem Pandemie-Stress stehen, zu beschreiben. Kernmerkmale von Insomia sind, dass es nicht nur Probleme beim Ein- und Durchschlafen gibt, sondern dass daraus Beeinträchtigungen am Tag wie Müdigkeit und erhöhte Reizbarkeit resultieren. Männer berichteten häufiger von COVID-Somnia als Frauen, wie ein detaillierter Blick auf die AASM-Umfrage zeigt. Und: Am meisten betroffen von manifesten Pandemie bedingten Schlafschwierigkeiten war die Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen. 70 Prozent von ihnen berichteten von COVID-Somnia-Symptomen.

Die neue Schlaflosigkeit sei laut Experten vor allem auf veränderte Lebensumstände und Routinen zurückzuführen. So hätten sich bei vielen Amerikanern durch die Pandemie etwa die Aufsteh- und Zubettgehzeiten verändert, die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit sei verlorengegangen. Auch weitere Aspekte wie vermehrter Fernsehkonsum und mehr Zeit vor dem Smartphone seien treibende Faktoren, ebenso erhöhter Alkoholkonsum, unregelmäßiges Essen, weniger Bewegung und weniger Tagesslicht. Ein zentrales Problem der langen Phasen von Home-Office, die für nicht wenige Amerikaner auch zwei Jahre nach Pandemie-Beginn noch andauern: Alles passiert zu Hause in den eigenen vier Wänden: arbeiten, Fitness-Training, virtuelle oder persönliche Treffen. Teils findet all das gar im Schlafzimmer statt. Noch dazu seien mit dem vielen Zuhause-Sein häufig vermehrte Stress-Situationen und erhöhte Frustrationslevel verbunden.

Angst, Sorgen und Trauer als Ursache

Angst, Sorgen und Trauer sind weitere Treiber für Schlafprobleme: Angst davor, sich mit dem Virus zu infizieren oder dass ein nahestehender Mensch infiziert wird; Sorgen wegen finanzieller Nöte durch pandemiebedingten Jobverlust; Trauer über den Tod von Angehörigen oder Freunden. Die USA sind mit einer Million Corona-Toten von der Pandemie stärker betroffen als andere Industrienationen. Dazu kommen Gefühle von Einsamkeit wegen sozialer Isolation oder auch Überforderung, das Leben in der Pandemie zu meistern. Die Tatsache, dass lange Zeit kein normaler Alltag möglich war und es teilweise noch immer nicht ist, und gewohnte Freiheiten eingeschränkt sind, belastet viele. Auch die Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft und der regelmäßige Konsum der vielen Nachrichten dieser Zeit tragen ihren Teil zur inneren Unruhe der Menschen und den daraus resultierenden Schlafproblemen bei.

Der Stresslevel ist durch die Pandemie aus zahlreichen Gründen gestiegen. Und Stress jeglicher Art gilt als einer der Haupttrigger für Schlaflosigkeit. „COVID-Somnia kann durch mehrere Stressoren verursacht werden: Ängste vor der Pandemie, Sorge um geliebte Menschen, finanzielle Nöte und ein eingeschränktes Sozialleben“, fasst Jennifer Martin, klinische Psychologin und Vorstandsmitglied der American Academy of Sleep Medicine, zusammen. Die Schlaflosigkeit der US-Amerikaner beunruhigt Experten zunehmend. Denn Schlafprobleme könnten massive Auswirkungen auf die körperliche und mentale Gesundheit haben, resümiert die AASM. „Jahrzehntelange Forschung bringt chronischen Schlafentzug mit einem erhöhten Risiko für Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Typ-2-Diabetes und Problemen mit der Immunfunktion in Verbindung. Mehr oder weniger Schlaf als empfohlen – typischerweise sieben bis neun Stunden pro Nacht – ist ein signifikanter Indikator für den Tod jeglicher Ursache“, heißt es darin. Und weiter: „Schlafstörungen behindern auch soziale, motorische und kognitive Fähigkeiten und können das Selbstmordrisiko, Depressionen und andere psychische Gesundheitsprobleme erhöhen.“

Die Psychologin und Schlafexpertin Michelle Drerup von der Cleveland-Clinic warnte schon im Herbst 2021 in einem Interview vor einem „Teufelskreis“: Die Kombination aus Müdigkeit durch Schlafmangel gepaart mit dem vermehrten Stress durch die Pandemie sei eine gefährliche Kombination. „Wenn ich müde bin, werde ich weniger Sport treiben und weniger Dinge tun, die meine Stimmung verbessern. Und dies verschlimmert die anderen Ängste und Stressoren und sogar Depressionen, die Menschen möglicherweise bereits erleben“, sagt Drerup. Erhöhte Raten von Angstzuständen und Depressionen sowie gestiegener Alkoholkonsum im Zusammenhang mit pandemischem Stress gingen in den USA dieser Tage mit erhöhten Raten von Schlafstörungen Hand in Hand.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 09 / 10.05.2022