Portrait Hannes Mikula: Keine Minute ist so produktiv wie die letzte

15.12.2022 | Politik

Mit dem Designen von chemischen Kaskaden-Reaktionen, um damit Tumore zeitlich und räumlich punktgenau zu bekämpfen, befasst sich Ass. Prof. Hannes Mikula.  Dem Experten für die in diesem Jahr ausgezeichnete „Click-Chemie“ wurde kürzlich ein ERC Starting Grant zugesprochen.

Ursula Scholz

Zwei Moleküle finden einander, verbinden sich und bleiben dann fix zusammen. „Click-Chemie“ heißt der hochselektive Vorgang, denn nur die zueinander Gehörenden binden sich aneinander. Dieser Zweig der Chemie, der sich seit rund zwei Jahrzehnten entwickelt, umfasst extrem schnelle Reaktionen, für die nur geringe Mengen der reagierenden Stoffe vonnöten sind und die auch im lebenden Organismus ablaufen können. In-vivo-Chemie oder bioorthogonale Chemie bezeichnet man diese Art von kontrollierter Reaktion im lebenden Körper. „Die Click-Reaktion findet aber nur statt, wenn die beiden Moleküle einander extrem gern haben“, betont Hannes Mikula, Assistenzprofessor am Institut für Angewandte Synthesechemie an der Technischen Universität Wien mit einer Prise Humor. Während der Chemie-Nobelpreis 2022 für die sozusagen liebevolle und treue Verbindung zwischen Alkinen und Aziden vergeben wurde, experimentiert Mikula mit Tetrazin und Trans-Cyclooktenen, die einander ebenso sympathisch sind.

Antikörper als Shuttle

Eine Herausforderung dabei ist das beste Timing. Für die Bildgebung beispielsweise bringt es wenig, wenn ein mit einem Trans-Cyclookten bestückter Antikörper als Shuttle zur Zelle zwei bis drei Tage braucht, bis er im Körper bei den Tumorzellen landet und dabei ein Radionuklid mit einer Halbwertzeit von nur wenigen Stunden zur punktgenauen Lokalisation der Tumorzellen transportiert. Bis die Tumorzelle radioaktiv markiert ist, ist das Radionuklid bereits größtenteils zerfallen. „Wir können den Prozess aber zweiteilen“, berichtet Mikula. „Wir schicken zunächst die Antikörper mit dem Trans-Cyclookten zu den Tumorzellen und erst, wenn sie an Ort und Stelle sind, senden wir das schnellere Tetrazin mit dem Radionuklid nach und die beiden verbinden sich in einer Click-Reaktion.“

Auf diese Weise können Antikörper auch als Shuttle für Wirkstoffe verwendet werden. Rund ein knappes Dutzend medizinische Antikörper-Wirkstoff-Konjugate ist bereits zugelassen; sie funktionieren jedoch alle aufgrund der Aufnahme des Antikörpers in Tumorzellen. Nachdem es viele Andockstellen gibt, wo dies nicht möglich und somit für den Antikörper außen an der Zelle Endstation ist, soll abermals die bioorthogonale Chemie aushelfen. Das Tetrazin kann auch als molekulare Schere verwendet werden, um den Wirkstoff vom an der Tumorzelle angedockten Antikörper zu spalten. Die erwünschte Reaktion wird bereits in klinischen Studien getestet, ist aber noch nicht als Behandlungsmethode zugelassen.

Steuerung des Wirkstoffs

Den Eintritt des Wirkstoffs in die Tumorzelle zu steuern, ist die nächste große Aufgabe, die sich der 39-jährige Chemiker vorgenommen hat. Fast alle Antikörper-Wirkstoff-Konjugate zielen auf Lymphome ab und nur eines auf einen soliden Tumor. „Antikörper sind vergleichsweise groß und binden oft nur außen am Tumor. Spaltet man gleich nach dem Andocken den Wirkstoff ab, besteht die Gefahr, dass er an Krebszellen vorbei davonschwimmt und sein Ziel nie erreicht.“ Mikula versucht nun mit seiner Forschungsgruppe, ein Molekül mit einer chemischen Schere nachzusenden, das im richtigen Moment den Wirkstoff an der richtigen Stelle abschneidet und gleichzeitig dafür sorgt, dass dieser ausschließlich in der Krebszelle landet und alle anderen verschont. Diese Reaktionskaskade vergleicht er mit einem Beispiel aus dem Alltag: „Wenn ich jemanden mit dem Flugzeug nach Wien schicke, ist diese Person noch lange nicht am eigentlichen Ziel, zum Beispiel in Schönbrunn angekommen. Wenn ich ihr am Flughafen jedoch ein U-Bahn-Ticket und die Wegbeschreibung nach Schönbrunn in die Hand drücke, kann ich damit gute Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie nach Schönbrunn findet. Die Schwierigkeit in unserer Reaktionskaskade besteht sozusagen im Umsteigen auf den Nahverkehr.“

Mikula möchte daher ein Molekül designen, das auch über eine Art chemische Speerspitze verfügt, um sich den Weg in das Zellinnere zu bahnen. Für dieses Forschungsvorhaben wurde dem vielfach Preisgekrönten, der zuvor schon einen START-Grant vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) erhalten hatte, nun vom European Research Council (ERC) der mit 1,5 Millionen dotierte Starting Grant zugesprochen.

Zwar laufen Click-Reaktionen üblicherweise sehr schnell ab, wird das Molekül aber so gestaltet, dass es einen Wirkstoff Huckepack nimmt, der später bioorthogonal abgeschnitten werden kann, verlangsamt sich der Click-Prozess wieder. „Es hat fünf bis sechs Jahre Forschungsarbeit gekostet, die Reaktion wieder auf das notwendige Geschwindigkeitslevel zu bringen“, erzählt Mikula. Einen Teil der dafür entscheidenden Erkenntnisse hat er als Schrödinger-Stipendiat an der Harvard Medical School in Boston erlangt.

Zielgerichtete Versuche

Auf die Frage, wie man denn letztlich die richtige chemische Verbindung finden kann, um den Prozess zu beschleunigen, lacht er und meint verschmitzt: „Unser Molekül ist zur Hälfte auch vom Himmel gefallen. Aber wenn man bereits lange in diesem Bereich forscht, probiert man schon sehr zielgerichtet etwas aus.“ Hat man dann die passende Variante gefunden, müssen die Gutachter bei der Vergabe der Forschungsgelder noch von deren Potential überzeugt werden, im schriftlichen Antrag, in den Interviews … „Das ist nichts, was mir fehlen wird“, meint Mikula retrospektiv. In Wettbewerbssituationen fühlt er sich nur mäßig wohl. Er ist überzeugt davon, dass sich viele eingereichte Forschungsvorhaben auf einem ähnlichen Niveau befinden und bei der Vergabe auch das Glück eine Rolle spielt. Dass Ansuchen um Forschungsgelder generell oft vergeblich sind, bevor man eine Förderung bekommt, nimmt er jedoch mit Gelassenheit: „So läuft ja auch die Arbeit im Labor: so lange experimentieren, bis der Durchbruch kommt.“

Kein Wunder, dass die erste Eigenschaft, mit der er sich selbst beschreiben würde, die Ausdauer ist. Sie kann allerdings auch darin ausarten, dass er mehrere Tage hintereinander mit einem Minimum an Schlaf auskommen muss, weil die Arbeit wieder einmal last minute passiert. „Da bin ich wie im Tunnel. Ich bin auch sonst nicht Multitaskingfähig.“ Seine Kinder haben bereits den Blick dafür, wenn er die Nacht durchgearbeitet hat, und richten sich die Schuljause dann lieber selbst, als ihn vom Schreibtisch aufzujagen. „Auch wenn es viel einfacher sein könnte: Es ist keine Minute so produktiv wie die letzte“, lautet sein Credo.

Würde sich vor ihm allerdings eine Zeitfalte auftun, Zeit, die dann nicht an anderer Stelle fehlt, würde er sie jedenfalls mit der Familie verbringen, denn ebenso wichtig wie sein Ehrgeiz ist ihm sein soziales Netz. Er würde viel Zeit im Freien verbringen – für einen gebürtigen Burgenländer verspürt Mikula eine erstaunliche Affinität zu Bergen, die ihm sofort ein Urlaubsgefühl verleihen – und mit der Familie kochen, ganz klassisch: Wiener Schnitzel.

„Ich habe mich auch in den USA nie ganz von zu Hause getrennt gefühlt. Via Skype waren sogar die Großeltern für die Kinder immer präsent“, erzählt er. Emotional herausfordernd sind für Mikula immer die Abschiede, nicht der Alltag an einem anderen Ort. Auch der Abschied von Boston fiel ihm schwer – so wie seinerzeit der Abschied von Österreich, aber auch der Abschluss seiner Schullaufbahn nach Beendigung der Chemie-HTL in Wien. „Es ist für mich immer schlimm, wenn etwas vorbei ist.“ Mit dem ERC Starting Grant fängt das Spannende allerdings gerade wieder an.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2022