Portrait Anna Maria Coclite: Künstliche Haut mit Gefühl

10.11.2022 | Politik

Während die bisher entwickelten Arten von künstlicher Haut nur auf Druck reagierten, reagiert die von Anna Maria Coclite entwickelte Smart Skin auch auf Feuchtigkeit und Temperatur. Und toppt mit 20.000 Sensoren pro Quadratmillimeter besonders sensible Regionen der menschlichen Haut.

Ursula Scholz

Als Kind wollte Anna Maria Coclite Astronautin werden – und als Chemikerin und Materialforscherin hat sie sich schließlich in die höchsten Sphären hinaufgearbeitet: Ihr ist es gelungen, in feinsten Schichten eine Form von künstlicher Haut zu erfinden, die gleich auf drei Stimuli reagiert. „Mein Ziel war es, die sensorischen Funktionen der Haut so umfassend wie möglich zu rekonstruieren“, erzählt die 39-jährige außerordentliche Professorin für Festkörperphysik an der Technischen Universität Graz. Die drei Empfindungsmöglichkeiten ihrer Smart Skin stellt sie mittels dreier interagierender Materialkomponenten her: Auf eine netzartige Schablone aus Polyurethan wird in deren Löcher zunächst Zinkoxid und dann ein Hydrogel aufgetragen. Trifft Feuchtigkeit auf das Hydrogel oder variiert die Umgebungstemperatur, verändert es seine Form und trifft auf die piezoelektrische Zinkoxid-Schicht, die darauf – ebenso wie auch auf Druck von außen – mit einem elektrischen Signal reagiert.

All diese Vorgänge spielen sich in kleinsten Dimensionen ab: Die Materialschichten sind im Mikrometerbereich angesiedelt und werden in Vakuum-Reaktoren aufgedampft. Geschichtet wird vertikal – also sozusagen in Stäbchen-Form –, denn bei horizontaler Schichtung kann der Reiz nie so punktuell aufgenommen werden: Immer wird die Nachbarregion in die Wahrnehmung mit einbezogen. Mit 20.000 Sensoren pro Quadratmillimeter toppt die SmartSkin besonders sensible Regionen der menschlichen Haut.

Während die bisherigen Arten von künstlicher Haut meist ausschließlich auf Druck reagieren, sind bei Coclites Smart-Skin Feuchtigkeit und Temperatur zusätzliche Parameter. Allerdings lassen sich reine Drucksensoren bereits mit dem menschlichen Gehirn verbinden – ein Ziel, das Coclite auch für ihre Variante der künstlichen Haut anstrebt, aber noch nicht erreicht hat. Der Mehrwert der Temperatur-Sensitivität lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Eine Prothese, die Druck wahrnimmt, ermöglicht dem Träger, einen Becher zu ergreifen und an die Lippen zu führen. Reagiert die Prothese aber zusätzlich auf die Temperatur, wird deren Träger den Becher mit dem noch zu heißen Tee gar nicht erst zum Mund führen. In puncto Temperatur möchte Coclite die Fähigkeiten ihrer SmartSkin ebenfalls erweitern: „Derzeit erkennt die SmartSkin die Spanne zwischen 30 und 50 Grad Celsius. Da verschiedene Hydrogele aber jeweils eine eigene kritische Temperatur haben, suchen wir nach zusätzlichen Stoffen, um einen größeren Bereich – etwa ab zehn Grad – abzudecken.“

Mikroorganismen ertasten

Mögliche Einsatzbereiche für die SmartSkin und ihre zukünftigen Varianten sind neben der Prothetik auch die Roboterchirurgie. Durch die ultrafeine Auflösung des Ertasteten soll es sogar möglich werden, Mikroorganismen wahrzunehmen, in letzter Konsequenz also auch, Bakterien zu spüren. Experimentiert wird mit allen drei Komponenten: mit dem Material der Schablone – hier könnte etwa Silikon für Flexibilität sorgen –, mit den Hydrogelen und der Zinkoxid-Schicht. Ließen sich die sensorischen Materialien auch wie Farbe auf Textilien auftragen, wären smarte Handschuhe, Socken, aber auch T-Shirts denkbar. Sie könnten die Hautfeuchtigkeit beim Sport überwachen, aber auch Informationen über den pH-Wert der Haut liefern.

Forschung für die Anwendung

Ein Hauptziel für Coclite war immer die Anwendbarkeit ihrer Forschungsergebnisse. Als Tochter zweier Mathematiker entschloss sie sich bewusst für die angewandte Wissenschaft und studierte in ihrer Heimatstadt Bari Chemie, absolvierte dort den Master in Chemischer Wissenschaft und Technologie und dissertierte bereits über ultradünne Schichten und deren Anwendungsmöglichkeiten. Anschließend forschte sie drei Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology in Boston, bevor sie die Sehnsucht nach der Heimat wieder nach Europa brachte. „Es war sehr cool, dort zu arbeiten und die Infrastruktur nutzen zu können. Aber ich wollte zurück nach Europa.“ In Graz fand sie die Möglichkeit, sich nicht allzu weit von ihrer süditalienischen Heimat entfernt zu habilitieren.

„Ich vermisse schon noch die warmen, trockenen Sommer. Die Luft ist einfach ganz anders daheim“, erzählt Coclite. „Aber mindestens dreimal im Jahr fahre ich mit meiner Familie nach Italien.“ Mit den beiden kleinen Kindern stellt allerdings auch eine innereuropäische Reise durchaus eine Herausforderung dar. Freizeit für nicht Familien-bezogene Aktivitäten bleibt neben dem Job derzeit keine. „Vor der Geburt meiner Kinder habe ich viel Yoga gemacht“, so Coclite. „Jetzt gehen wir in den Park, auf den Spielplatz, lesen miteinander, legen Puzzles …“ Ihrer Tochter vorzuleben, dass auch Mädchen und Frauen jeden erdenklichen Beruf ergreifen können – und darin erfolgreich sein können –, ist ein prioritäres Ziel von Coclite.

Coclite hat ihre Studien jeweils Magna cum laude abgeschlossen und verfolgt ihre Ziele mit Eifer, Ausdauer und Geduld. Dabei kommt auch der Humor nicht zu kurz, etwa wenn sie vor Studenten über ihre Forschungserkenntnisse spricht. Da will sie mit ihnen kommunizieren und neben ihrer Expertise auch ihre unerschöpfliche Begeisterung vermitteln. Mit einem Filmausschnitt aus „Mrs. Doubtfire – das stachelige Kindermädchen“ etwa illustriert sie, wie wichtig Temperatursensoren der Haut sind. Nur ein ausgestopfter Busen kann – so wie im Film – beim Kochen Feuer fangen, richtige Haut hätte längst die Hitze gespürt. Seriöse Information und humorvolle Aufbereitung sind für Coclite kein Widerspruch.

Einen Teil ihres Erfolges verdankt die junge Professorin ihrer optimistischen Einstellung. „Jeder Schritt ist ein Schritt, auch wenn er im Moment noch nicht zum Erfolg führt“, betont sie. „Ob etwas wirklich ein Misserfolg ist, stellt sich ja erst mit der Zeit heraus.“ Die zahlreichen nationalen wie internationalen Ausschreibungen, an denen sie mit ihrem Team mit dem Projekt teilnimmt, sieht sie nicht als lästige Pflicht an, sondern als „Denkmöglichkeit, in welche Richtung unser Team noch gehen könnte“. Schon im Jahr 2016 ist es ihr gelungen, einen Starting Grant des European Research Council in der Höhe von eineinhalb Millionen Euro zu akquirieren. Derzeit ist sie Work Package Leader in einem dreieinhalb Millionen-Projekt zum intelligenten Oberflächendesign für effizienten Vereisungsschutz. Darüber hinaus leitet sie an der TU Graz das Forschungsfeld „Advanced Material Science“. Egal, welche Projekte sich noch ergeben werden: An der Entwicklung von künstlicher Haut möchte Coclite in jedem Fall dranbleiben und die Verbindung zum menschlichen Gehirn.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2022