Porträt Polina Kameneva: Wissenschaft als Passion

15.07.2022 | Politik

Ihre Passion für die Wissenschaft führte die Biochemikerin Polina Kameneva auf der Suche nach den besten Forschungsmöglichkeiten nach Wien. Für ihre Entdeckungen von potentiellen Zelltypen, die die Entstehung eines Neuroblastoms begünstigen, wurde sie kürzlich mehrfach ausgezeichnet.

Ursula Scholz

Ich wusste schon sehr früh, dass ich die Geheimnisse der Natur erforschen möchte“, erzählt Polina Kameneva, Postdoc an der Abteilung für Neuroimmunologie am Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien. Sie engagierte sich in den naturwissenschaftlichen Schul-Olympiaden und stieg dort in den Russland-weiten Wettbewerben in die oberste Liga auf, wodurch ihr alle Studienmöglichkeiten offenstanden. Die Entscheidung für Biochemie als Hauptfach fiel letztlich aus altruistischen Gründen: „Ich wollte etwas für die Menschheit Bedeutsames erforschen und die Biochemie liefert wichtige Grundlagen für die Pharmakologie und die Entwicklung von Arzneimitteln.“

Schon als Doktorandin am Nationalen Forschungszentrum für Meeresbiologie FEB RAS in Wladiwostok befasste sich Kameneva mit einem Thema von medizinischer Bedeutung: mit Lebensmittelvergiftungen nach dem Genuss von Schalentieren aufgrund der Giftstoffanreicherung in deren Organismus. „In meiner Heimat-region ist dieses Problem ein weit verbreitetes und eine echte Herausforderung für das Gesundheitswesen.“

Von Wladiwostok nach Wien

Kameneva wuchs in einer Kleinstadt nahe Wladiwostok auf, einem Gebiet mit atemberaubender Meereslandschaft, mit Inseln, Buchten und Russlands einzigem fernöstlichen maritimen Naturschutzgebiet. Sie studierte in Wladiwostok, jener russischen Stadt, die an drei Seiten an den Pazifischen Ozean grenzt. „Es ist eine Region, in der sehr abenteuerlustige und kreative Menschen leben und arbeiten und es ist niemals langweilig“, schwärmt Kameneva. Dass sie ihre heiß geliebte Heimat trotzdem verlassen hat, resultiert aus ihrer Passion für die Wissenschaft. Schon während ihrer Studienzeit verbrachte sie zwei Semester am Elmhurst College in Illinois und Anfang 2018 übersiedelte sie nach Schweden, um am Karolinska Institut für Physiologie und Pharmakologie im Labor ihres Landsmannes Prof. Igor Adameyko zu forschen. Die wissenschaftliche Arbeit von Adameyko war damals schon unter anderem den Tumoren der Neuralleiste gewidmet. Als er im Jahr 2020 nach Wien berufen wurde, folgte ihm Kameneva kurz darauf in sein neues Labor, wo sie sich heute ebenfalls mit dem Neuroblastom, den induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC) sowie der Differenzierung von menschlichern Neuralleisten-Zellen befasst.

Managetta-Förderpreis

Für ihre in Nature Genetics erschienene Arbeit zur Entstehung des Neuroblastoms „Single-cell transcriptomics of human em-bryos identifies multiple sympathoblast lineages with potential implications for neuroblastoma origin“ erhielt sie kürzlich den Johann Wilhelm Ritter von Mannagetta-Förderpreis für Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dieser Preis ist jungen Forschenden vorbehalten, deren Dissertation nicht mehr als vier Jahre zurückliegt. Für dieselbe Publikation, die in Kooperation mit zwei Arbeitsgruppen an der Harvard Medical School sowie mit dem schwedischen Karolinska Institut und dem russischen Endocrinology Research Center entstanden ist, ernannte die MedUni Wien Kameneva im April 2022 zum „Researcher of the month“. Die multidisziplinäre Arbeit klärt  humanspezifische Merkmale der Entwicklung von chromaffinen Zellen im Nebennierenmark und Sympathoblasten-Linien auf und identifiziert kritische Entwicklungsaspekte für die Entstehung eines Neuroblastoms. Dieses ist immerhin der zweithäufigste solide Tumor im Kindes- und Jugendalter: etwa eines von 100.000 Kindern erkrankt daran.

Nachweis der Zelldifferenzierung

Kameneva konnte einen bisher unbekannten humanspezifischen Beitrag von Nervenzell-assoziierten Schwann-Zellvorläufern (SZVs) zu unreifen proliferativen Sympathoblasten innerhalb der Nebenniere aufzeigen und die Differenzierung dieser SZVs im Nebennierenmark nachweisen, wo sie dann große proliferierende ganglienähnliche Strukturen unter anderen Zelltypen bilden. Die embryonalen intramedullären Sympathoblasten, Brückenzellen und SZVs entsprechen jenen Untergruppen von malignen adrenergenen Zellen und SZV-ähnlichen Zellen, die üblicherweise im Zuge von Neuroblastom-Biopsien gefunden werden. „Einfach gesagt: Aus den anfänglich pluripotenten Zellen kann noch jede Art von Zelle werden, wie bei einem Kind noch das Potential vorhanden ist, jeden Beruf zu ergreifen. Dann findet bei den Zellen die Ausdifferenzierung statt. Schaffen sie es aber nicht rechtzeitig, sich vom potenten zum spezialisierten Stadium zu entwickeln, können sich aus den entwicklungsverzögerten Zellen bestimmte Arten von Krebs entwickeln. Vor allem jene Tumoren, die bei sehr kleinen Kindern auftreten“, erklärt Kameneva.

Mit modernen Technologien ist es mittlerweile möglich, mit höchster Präzision Neuroblastom-Zellen mit normal ausgereiften Zellen zu vergleichen, um in weiterer Folge Faktoren zu finden, mit denen der Entwicklungsvorgang von „gefangenen“ Neuroblastom-Zellen möglicherweise wieder in Gang gesetzt werden kann. Bis zur Identifikation der entsprechenden Faktoren wird jedoch noch viel Forschungsarbeit notwendig sein. Die nötige Geduld, die Hartnäckigkeit, an noch ungelösten Fragen dranzubleiben, bringt Kameneva mit. So wie sie in Pandemie-Zeiten begonnen hat, Sauerteigbrot selbst zu backen – wozu auch ein entsprechendes Maß an Geduld notwendig ist – bleibt sie an der Neuroblastom-Forschung dran.

Gemeinsam mit ihrem Mann kocht sie auch gerne; die restliche Freizeit teilt sie auf Lesen (inklusive Diskussionen im Buchclub) sowie das Spielen auf der Ukulele auf. Musikalisch hat Kameneva ein klares Ziel vor Augen: Irgendwann in der Zukunft möchte sie auch Klavier spielen lernen. Das Bedürfnis nach Harmonie – nicht nur nach musikalischer – spielt auch bei ihren weiteren Lebenszielen eine große Rolle:  Sie möchte eine glückliche Familie haben und in einer Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen leben. „Ich bin sehr glücklich, im Adameyko-Lab in genauso einer unterstützenden Gemeinschaft zu arbeiten“, betont Kameneva.

Auch mit den Ressourcen des Labors und der Abteilung für Neuroimmunologie ist Kameneva zufrieden. „Die Finanzierung passt und wir werden von der Medizinischen Universität ausreichend unterstützt. Dadurch können wir eine entsprechende Infrastruktur für State of the Art-Technologien wie die Einzelzellanalyse mittels räumlicher Transkriptomik schaffen und mit modernsten Methoden arbeiten.“ Am ehesten könnte sich Kameneva eine Verbesserung im Bereich der Personalressourcen vorstellen: „Um ehrlich zu sein: die wertvollste Ressource für einen Wissenschafter bleibt doch die Zeit.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2022