Porträt Agnes Mistlberger-Reiner: Von der Markt- zur Zellkommunikation

10.03.2022 | Politik

Über den Umweg der Marktkommunikation gelangte Agnes Mistlberger-Reiner zur Kommunikation auf inter- und intrazellulärer Ebene. Sie beforscht die Rolle von Bitterrezeptoren bei Karzinomen. Bisherige Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Anregung von Bitterrezeptoren antikanzerogen wirken kann.

Ursula Scholz

Geschlossene Labore öffnen den Geist für neue Fragestellungen. Als im ersten harten Lockdown der COVID-19-Pandemie die Forschenden aus ihren eigenen Laboren ausgesperrt waren, legten sie ihren ganzen Eifer in Literaturstudien. Agnes Mistlberger-­Reiner, Postdoc-Forscherin am Institut für Physiologische Chemie der Universität Wien, wandte sich der Frage zu, welche Rolle Bitterrezeptoren bei onkologischen Erkrankungen spielen. „Bei vielen Patienten zeigt sich unter der Chemo­therapie eine verstärkte Wahrnehmung von Bitterstoffen. Oft haben sie auch unabhängig von Mahlzeiten einen metallischen oder bitteren Geschmack im Mund, der eine ausreichende und ausgewogene Ernährung erschwert“, erklärt ­Mistlberger.

Bitterrezeptoren finden sich außerdem in den verschiedensten Körperzellen: von der Darmschleimhaut bis in die Lunge. Man vermutet, dass sie im angeregten Zustand neben zahlreichen anderen Auswirkungen die Entwicklung von Krebs beeinflussen. „Die bisherige Forschung legt nahe, dass die Anregung von Bitterrezeptoren antikanzerogen wirken kann“, formuliert Mistlberger-Reiner vorsichtig. Trotz erstaunlich umfangreicher Forschung zum Thema, die das Pandemie-bedingte Literaturstudium zutage gefördert hat, bleiben noch viele Fragen offen.

Mistlberger-Reiner bleibt am Thema dran. Die Labore sind wieder zugänglich und dort experimentiert sie zusammen mit einer Dissertantin Homoeriodictyol (HED), einem Stoff, der an manche der immerhin 25 verschiedenen Bitterrezeptoren bindet. „Gemischt mit HED schmeckt beispielsweise Koffein um 40 Prozent weniger bitter“, so Mistlberger-Reiner. „Im HED liegt ein großes Potential. Möglicherweise lässt es sich auch als Spüllösung vor einer Mahlzeit verwenden, um den ständigen Bittergeschmack bei einer Chemotherapie abzumildern.“

Außerdem versucht das Team des vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds WWTF geförderten Projektes, im Labor jenen Mechanismus zu entschlüsseln, mit dem Chemotherapeutika das Geschmacksempfinden überhaupt verändern. Und zu klären, inwiefern Bitterrezeptoren im Krebsgewebe als therapeutischer Angriffspunkt genutzt werden könnten.

Geschmacksforschung & Krebs

Als die heute 34-jährige Forscherin in die Arbeitsgruppe von Univ. Prof. Veronika Somoza am Institut für Physiologische Chemie aufgenommen wurde, war die Geschmacksforschung dort schon etabliert. Mistlberger-Reiner hingegen brachte das Thema Krebs neu ein. Sie beschäftigt sich schon seit ihrer Master­arbeit, die sie im Jahr 2013 an der Wiener Universität für Bodenkultur im Bereich Biotechnologie abgeschlossen hat, mit onkologischer Forschung. Waren es zunächst die „Blutbasierten Marker zur Diagnose von Brustkrebs“, die sie in der Arbeitsgruppe Molekulare Onkologie des Departments für Geburts­hilfe und Gynäkologie an der MedUni Wien identifiziert hat, erforschte sie im Zuge ihrer Dissertation extrazelluläre Vesikel und deren Detektion mittels plasmonischer Biosensoren zur Diagnose von Eierstockkrebs. Dass Mistlberger einmal im Bereich Mamma­karzinom forschen würde, war ihr sozusagen in die Wiege gelegt. Ihre Eltern (und mütterlicherseits auch die Großeltern) sind Ärzte: ihre Mutter war Pathologie-Professorin und spezialisiert auf Senologie, ihr Vater Chirurgie-Primar mit Schwerpunkt Brustkrebs.

Früher Wechsel

Für Mistlberger-Reiner war nach der Matura allerdings klar, dass sie keinesfalls Medizin studieren wollte. Sie interessierte sich für Werbung, insbesondere für ausgefeilte Werbestrategien. Also studierte sie zunächst Marktkommunikation. Die Erkenntnis, dass die von ihr favorisierte strategische Ausrichtung erst in der Chefetage gefragt ist und man dort nicht direkt einsteigen kann, ließen Mistlberger die Branche noch vor dem Berufseinstieg wechseln. Rasch fand sie ihre Leidenschaft für die Zellforschung und landete damit doch im familiären Fahrwasser. „Die vielfältigen Miniprozesse in Zellen sind einfach so spannend“, betont die junge Forscherin. Aber nicht nur, wie innerhalb der Zelle kommuniziert wird, sondern auch die Sprache der Zellen untereinander, fasziniert sie. So stieß sie auf die extrazellulären Vesikel, die von verschiedensten Zellarten sezerniert und von anderen wiederaufgenommen werden, wobei sie sozusagen den Fingerabdruck jener Zelle tragen, die sie abgesondert hat.

Diesen Fingerabdruck versucht Mistlberger-Reiner im Bereich der Diagnostik zu nutzen. Ihr PhD-Studium absolvierte sie im Rahmen eines Joint-Degree-Programms der Universität für Boden­kultur und der Nanyang Technological University ­Singapur. Kooperationspartner waren auch das Austrian Institute of Technology AIT, die MedUni Wien sowie die Agency for ­Science, Technology and Research A*STAR Singapore.

Auf Basis der Oberflächenplasmonen-Resonanz entwickelte sie eine Methode, um Ovarialkarzinom-Vesikel zu detektieren. Dabei werden auf eine feine Goldschicht Antikörper aufgetragen, an die nur diese spezielle Art von Vesikelprotein bindet. Dadurch verändern sich die optischen Eigenschaften der Oberfläche, womit sich das Vorhandensein des Proteins nachweisen lässt. „Die Methode befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Das ganze Vesikelfeld ist noch relativ jung“, erläutert Mistlberger. „Im Bereich der Diagnostik wird noch auf Laborebene geforscht; die Therapie mit Vesikeln, Spezialgebiet meiner Betreuerin in Singapur, ist schon weiter fortgeschritten.“ Auch in ihrer jetzigen Arbeit hat Mistlberger-Reiner extrazelluläre Vesikel im Fokus: diesmal allerdings Magenzell-Vesikel und deren Einfluss auf die Magensäuresekretion.

Singapur als Vorbereitung

Die beste Vorbereitung auf den Eintritt in die Geschmacksforschung, in deren Rahmen Mistlberger auch an institutsinternen Degustationen teilnimmt, war ihr 15-monatiger Aufenthalt in Singapur. Denn während sie mit dem tropischen Klima dort eher zu kämpfen hatte, verkostete sie wagemutig allerlei fernöstliche Zutaten. „Mein Mann und ich haben beschlossen, jede Woche eine neue Sorte der Obst- und Gemüseabteilung auszuprobieren. Das ging fast immer gut. Nur die Stinkbohne haben wir letztlich doch nicht gegessen.“

Grundsätzlich kocht Mistlberger-Reiner gerne. In ­stressigen Zeiten wird aber auch einmal das Abendessen beim Liefer­­service bestellt, sobald ihre kleine Tochter im Bett liegt. Entspannung findet sie in der Natur, bei wenig kompetitiven Aktivitäten wie Laufen, Bergsteigen oder Schifahren. Die Bereitschaft, ein Ziel mit 100 Prozent Systematik und voller Kraft bis zum vor­liegenden Ergebnis zu verfolgen, spart sie sich lieber für den Beruf auf.

Mistlberger möchte aber nicht nur Wissen generieren, sondern dieses auch mit anderen teilen. „Sachverhalte wissenschaftlich korrekt und dabei doch verständlich wiederzugeben, liegt mir am Herzen. Dabei muss man allerdings jedes Wort abwägen“, erklärt sie. Zugute kommt ihr dabei, dass sie nicht nur Expertin für interzelluläre, sondern auch für menschliche Kommunikation ist. Schließlich hat sie es sogar geschafft, ihre Dissertation so überzeugend in einem Drei-Minuten-Pitch in Berlin zu präsentieren, dass sie damit den Preis der Wissenschaftsplattform Falling Walls Lab gewonnen hat. ◉

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 05 / 10.03.2022