Interview Karl Hochgatterer: „Dynamik setzt ein“

26.09.2022 | Politik

Der Bedarf an arbeitsmedizinischer Expertise ist durch die Pandemie weiter gestiegen. Gleichzeitig kämpft das Fach damit, die Versorgung flächendeckend aufrechtzuerhalten. Die Österreichische Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention (AAMP) forciert mit einem neuen Konzept den Nachwuchs, wie deren Präsident Karl Hochgatterer im Gespräch mit Martin Schiller berichtet.

Braucht die Arbeitsmedizin ein neues Image? Im betrieblichen Setting als Arzt tätig zu sein, ist durchaus herausfordernd und man benötigt einen langen Atem. Etablierte klinische Fächer brauchen aktuell nicht so sehr um Nachwuchs kämpfen wie wir. Gerade die Pandemie hat aber gezeigt, wie wichtig und wertvoll es ist, medizinische Expertise im Unternehmen zu haben.

Apropos Pandemie: Ergeben sich aus dem verstärkten Teleworking neue Implikationen für die Arbeitsmedizin? Die Unternehmen sind gefordert, arbeitsmedizinische Beratung für die Arbeit im Home-Office durchzuführen. Es geht dabei um Themen wie die Gestaltung des Arbeitszimmers, die Platzierung des Schreibtisches, Lichteinflüsse, Bestuhlung und das Arbeiten inmitten eines familiären Settings. Die Arbeitsmedizin bietet aber auch Beratung für Führungskräfte an. Eine wichtige Frage ist beispielsweise, wie man Mitarbeiter betreut, die vermehrt im Home-Office arbeiten.

Welche Kernkompetenzen definieren Sie für die Arbeitsmedizin? Sie umfasst jede Verhinderung von Schäden, sei es am Stütz- und Bewegungsapparat, an der Haut, an den Augen etc. Zu dieser Primärprävention gesellt sich aber seit einigen Jahren eine besondere Form der Sekundärprävention. Die sogenannte Wiedereingliederungsteil-zeit ermöglicht seit 1. Juli 2017 jenen Menschen, die in Beschäftigung stehen und für längere Zeit physisch oder psychisch erkrankt sind, einen schonenden Wiedereinstieg in den beruflichen Alltag. Voraussetzung dafür ist eine arbeitsmedizinische Zustimmung. Weitere Kernkompetenzen bestehen bei allen Auswirkungen, die der tägliche Umgang mit Chemikalien haben kann. Ein anderer wichtiger Punkt ist die psychische Komponente. Die steigende Arbeitsdichte ist für viele Menschen ein bedeutender Faktor geworden. Hier ist die Arbeitsmedizin gefragt, Strategien gegen überbordende Belastungen zu entwickeln.

Die Arbeitsmedizin sucht dringend Nachwuchs. Wie steht es aktuell um die Versorgung in Österreich? Wir haben einen relevanten Arbeitsmedizinermangel in Österreich. Laut den Daten, die wir bis 2020 erhoben haben, fehlen 530 diplomierte Arbeitsmediziner. Bis 2028 werden weitere 350 mit einem arbeitsmedizinischen Diplom in Pension gehen. Wenn wir einen Blick auf Fachärzte für Arbeitsmedizin und Angewandte Physiologie werfen, so zeigt sich, dass derzeit 107 Personen in der Ärzteliste registriert sind. Über 30 Personen sind allerdings über 65 Jahre alt*. In den nächsten fünf Jahren sind schon 61 Fachärzte im Pensionsalter, es stehen uns also nur noch 43 Prozent zur Verfügung. Das alles ist besorgniserregend. Hinzu kommt die Problematik, dass uns jetzt bereits Facharztausbildungsstellen ausfallen, weil zu wenige Personen dafür zur Verfügung stehen.

Worin sehen Sie die Ursachen dieses Mangels? Im Industrieland Österreich ist es leider nicht Usus, dass es an allen Universitäten ein arbeitsmedizinisches Institut gibt. Aktuell ist das nur in Wien der Fall. Meiner Meinung nach kommen daher viele Medizinstudenten zu wenig mit dem Fach der Arbeitsmedizin in Berührung. Schaffen wir es, dass rund fünf Prozent eines Studierendenjahrgangs dafür begeistert werden, wäre schon etwas erreicht

Welche Maßnahmen werden gesetzt, um dem Mangel entgegenzuwirken? Wir haben ein Konzept erarbeitet, in dem wir die Attraktivität des Arbeitsmedizinerberufs herausstreichen. Wir richten uns damit an junge Ärzte, Studierende und auch an schon länger tätige Ärztinnen und Ärzte, die eventuell umsteigen möchten. Das Konzept wird von der Ärztekammer, vom Sozialministerium, vom Arbeitsministerium und von der AUVA unterstützt.

Merkt man bereits erste Effekte in der Ausbildung? Ja, es hat bereits eine Dynamik im positiven Sinn eingesetzt. Die Zahlen in den Ausbildungskursen steigen und ich bin guten Mutes, dass sich dies auch später bei den Diplomarztzahlen zeigen wird.

* Stand: März 2022

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2022