Interview Johannes Steinhart: „Mehr Dialog“

01.07.2022 | Politik

In der Gesundheitspolitik gebe es einen unheilvollen Trend einsparen zu wollen, kritisiert der neu gewählte ÖÄK-Präsident Johannes Steinhart. Warum er gegen die Ökonomisierung der Medizin ist, die Usability das goldene Maß bei der Digitalisierung ist und warum er den Dialog ganz generell forcieren will, das erklärt er im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

Nach der Wahl zum Präsidenten der Ärztekammer Wien wurden Sie nun auch gleich zum ÖÄK-Präsidenten gewählt, ohne zuvor eine Periode als Präsident in der Landesärztekammer aktiv gewesen zu sein. Das ist erstmals Michael Neumann gelungen und zwar 1986. Sie sind ja schon mehr als 30 Jahre lang in der Standespolitik tätig. So ist es. Ich habe 23 Jahre lang die Kurie niedergelassene Ärzte in der Wiener Ärztekammer geführt und war zehn Jahre lang an der Spitze der Bundeskurie niedergelassene Ärzte. Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als oberster Repräsentant der Österreichischen Ärztekammer? Ich denke, es kommt eine relativ schwierige Zeit auf uns zu – mindestens so schwierig wie in den vergangenen Jahren. Einiges wird sich vermutlich noch aggravieren wie etwa die Aufgaben im übertragenen Wirkungsbereich. Hier zieht ja die Politik hemmungslos Befugnisse von uns ab, für die eigentlich die ÖÄK kompetent ist. Ganz grundsätzlich ist für mich das Wichtigste, dass der Arzt-Beruf ein freier Beruf ist. Freier Beruf bedeutet, dass man die medizinischen Richtlinien vor ökonomische, bürokratische und politische Richt-linien stellt. Das ist deswegen wichtig, weil es in den letzten Jahren immer wieder Versuche gab, die Medizin zu ökonomisieren. Durch den EU-Beitritt drängen zunehmend Konzerne in den Gesundheitsbereich. Wir sehen das aktuell in Deutschland, wo sich einige Bundesländer massiv gegen diese Entwicklung ausgesprochen haben und sich deswegen sogar an den Gesundheitsminister gewendet haben. Denn sie haben gemerkt, dass die medizinische Qualität sinkt, wenn die Gesundheit in der Hand von Konzernen liegt. Es ist ein Recht des Patienten, dass ihn jemand behandelt, der diesem Gesetz des freien Berufs unterliegt.

Sie kennen die Arbeit als niedergelassener Facharzt in einer Kassenordination, waren lange als Spitalsarzt und dort auch im Spitals-Management tätig. Jetzt sind Sie für beide Bereiche verantwortlich. Wo liegt die größte Herausforderung? Ich finde es gut, dass ich in meiner jetzigen Funktion die Erfahrung aus beiden Bereichen mitbringe. Ich habe mehr als 30 Jahre im Spital gearbeitet, davon 23 Jahre zusätzlich als ärztlicher Leiter und Geschäftsführer. Dadurch war ich elf Jahre lang auch in einem Spitalskonzern tätig und habe gesehen, wie die Entscheidungskriterien in solchen Konzernen sind. Es ist ganz klar, dass man auch solche Bereiche berücksichtigen muss, aber manchmal ist mir der rein medizinische Aspekt zu kurz gekommen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass das Thema freier Arzt auch für angestellte Ärztinnen und Ärzte gilt und dass es auch hier dazu kommen wird müssen, mehr darauf zu achten, welche medizinisch-fachliche Meinung Ärzte haben und dass Entscheidungen dann auch so fallen.

Was bringen Sie aus Ihrer Tätigkeit als niedergelassener Kassenarzt mit? Die Niederlassung war eine logische Ergänzung zu meiner fachärztlichen Tätigkeit. Ich habe hier ja den Wandel in der Niederlassung miterlebt und in der Bundeskurie mitgestaltet. Ich komme aus einer Generation, in der die Einzelordination das übliche Modell war. Die jungen Kolleginnen und Kollegen heute arbeiten gerne in Teams und sie delegieren viele Aufgaben. Ich glaube, dass wir in Zukunft beides haben werden: sowohl Einzelordinationen als auch größere Organisationseinheiten. Die Zentrenbildung hat den Vorteil der längeren Öffnungszeiten und auch, dass sich mehrere Fächer unter einem Dach zusammenfinden können. Der Nachteil ist, dass die Wohnortnähe verloren geht, wenn man hier etwa an die Primärversorgung denkt. Darauf müssen wir unbedingt achten, denn die Wohnortnähe ist besonders für ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind und oft auch schon chronisch krank sind, ein wichtiges Kriterium.

Von den neun Präsidenten der Landesärztekammern sind aktuell sechs als niedergelassene Ärzte tätig, drei sind Spitalsärzte – eine Konstellation, die in es in der ÖÄK schon lange nicht mehr gegeben hat. Wie ist das zu beurteilen? Die Rolle der angestellten Ärztinnen und Ärzte steht genauso im Fokus wie auch bisher schon. Ich bin auch überzeugt davon, dass wir als Ärztekammer und somit als Vertretung der angestellten Ärztinnen und Ärzte künftig auch entsprechende Planungsaussagen treffen werden müssen. Wir werden uns mit den Fachleuten und Politikern, die in diesem Bereich Pläne entwickeln, zusammensetzen. Sie sollen sich einer fachlichen Diskussion mit den betroffenen Ärztinnen und Ärzten stellen und dann kann sich eine Meinung herausbilden. Ich möchte ganz grundsätzlich den Dialog in jeder Form steigern.

In der ÖÄK-Spitze ist keine Frau vertreten, obwohl rund 60 Prozent aller Ärzte Frauen sind. Wieso? Wir haben durchaus versucht, auch an die Spitze der ÖÄK Frauen zu bekommen. Dabei hat sich etwas gezeigt, was ich auch schon beim Führungsgremium der Wiener Ärztekammer erlebt habe: Es gibt diese jüngeren Power-Frauen, die toll in ihrem ärztlichen Beruf sind und die sich auch standespolitisch engagieren wollen. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie nicht die repräsentativen Positionen in der Landesärztekammer besetzen wollten, sondern im operativen Bereich aktiv sein möchten unter dem Motto: Wir wollen etwas bewegen. Wir haben diese Entscheidung respektiert. Ich glaube, das zeigt sich auch auf ÖÄK-Ebene. Dass es momentan nicht so viele Frauen in der Führungsebene gibt, stimmt nur bedingt. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass sehr viele Positionen in der ÖÄK im operativen Bereich mit toughen Frauen besetzt sind.

Stichwort niedergelassener Bereich: Kassenordinationen sind unattraktiv geworden, ganz besonders in der Allgemeinmedizin, die Patientenmilliarde lässt auf sich warten … Ja, die Patientenmilliarde ist versprochen, aber nicht eingehalten worden. Im Gegenteil: Man hat noch Geld aus der ÖGK genommen, was falsch ist. In der Gesundheitspolitik gibt es ja in den letzten 15, 20 Jahren den unheilvollen Trend, einsparen zu wollen. Bei der Allgemeinmedizin haben wir das Problem, dass es für viele Leistungen zu wenig Geld gibt. Wenn man sich die Cent-Beträge ansieht, die es für manche Leistungen gibt, muss man wirklich sagen: Das ist erbärmlich. Immerhin gibt es schon Hinweise auf erste Verhandlungserfolge. Aber wir haben noch immer nicht das Niveau einer ordentlichen Honorierung erreicht. Ganz besonders hapert es in den Bereichen, wo es um Zuwendungsmedizin geht.

Die Wahlärzte sind zuletzt in Diskussion geraten mit den verschiedensten Vorschlägen wie etwa Zwangsverpflichtungen. Das ist unglaublich. Ich bin fassungslos, dass man im Jahr 2022 in Österreich mit einer Zwangsverpflichtung konfrontiert wird. Die Politik befindet sich offensichtlich in einer Position der Hilflosigkeit. Wie gesagt: Wir erleben seit rund 20 Jahren eine völlig verkehrte Doktrin mit dem sogenannten Dämpfungspfad von 3,6 Prozent im Gesundheitswesen, der in Wirklichkeit Einsparung bedeutet. Der tatsächliche Bedarf der Menschen an medizinischer Versorgung ist um vieles höher. Eine Einsparung von 3,6  Prozent bedeutet weniger Leistung, weniger Qualität, weniger Struktur und auch weniger Personal. Dass unter diesen Bedingungen immer weniger Kolleginnen und Kollegen ärztlich tätig sein wollen, liegt auf der Hand. Zwangsverpflichtungen sind definitiv kein Weg. Hier werden sich dann viele von vornherein gegen eine ärztliche Tätigkeit entscheiden oder ins Ausland gehen.

Im Spitalsbereich wollen einige Bundesländer eine Aufweichung des KA-AZG.  Auch hier erinnert die Reaktion der Politik auf Probleme im Spitalsbereich an die Idee zur Zwangsverpflichtung von Wahlärzten. Anstatt die zugrunde liegenden Probleme anzugehen und hier für eine Lösung zu sorgen mit mehr Personal in den Spitälern, Entlastung der Spitalsambulanzen, weniger Bürokratie und Administration sowie einer adäquaten Bezahlung versucht man, den Ärzten, die zusätzlich durch die Pandemie noch gefordert sind, noch mehr zu belasten. Themenwechsel: Die Ärztekammer hat sich von Anfang an für eine Impfpflicht ausgesprochen. Vor kurzem wurde bekannt, dass sie nun doch nicht kommt.  Die Impfpflicht wurde zu einem Zeitpunkt beschlossen, als keiner mehr einen Nutzen darin gesehen hat. Da wir immer eine gewisse Latenzzeit der Politik sehen, hat man die Impfpflicht eben jetzt abgeschafft. Für mich ist entscheidend, dass man die Menschen aufklärt und motiviert. Diese beiden Punkte – Aufklärung und Motivation – haben leider im Zuge der ganzen Pandemie nicht wirklich funktioniert. Wo die Impfungen in den Ordinationen stattgefunden haben, hat es funktioniert. Dort, wo man die Ordinationen kurzgehalten hat, waren die Ergebnisse bescheiden.

Noch kurz zur Digitalisierung: Es gibt einen Stopp beim E-Rezept, weil es technische Probleme in den Apotheken gibt. Manche Personen, denen man in Verhandlungen gegenübersitzt, glauben, dass ein Problem gelöst ist, sobald man es am Bildschirm ansieht. Andere wiederum glauben, der technische Fortschritt erreicht sie nie. Entscheidend für alle Anwendungen im Bereich der Digitalisierung ist die Usability. Das ist das goldene Maß, nach dem man entscheidet, ob etwas gut ist oder nicht. Gerade in Ordinationen, wo vieles sehr schnell und automatisiert gehen soll, geht es um Usability. Man hat uns in der Vergangenheit in der Niederlassung Dinge zugemutet, die zu einer weit verbreiteten Digitalisierungsskepsis unter Ärztinnen und Ärzten geführt hat. Und da rede ich jetzt noch gar nicht davon, dass es in Krankenhäusern unterschiedliche elektronische Dokumentationssysteme zwischen Ambulanzen und OPs gibt und alles doppelt oder sogar dreifach eingegeben werden muss.

Zur Person

Johannes Steinhart, Jahrgang 1955, Medizinstudium an der Universität Wien, Promotion 1983. Anschließend Ausbildung zum Facharzt für Urologie an der Krankenanstalt Göttlicher Heiland in Wien, wo er in der Folge viele Jahre als Oberarzt tätig war.  Ab 2015 war er auch ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des Krankenhauses; seit 1. Oktober 1993 niedergelassener Facharzt für Urologie in Wien Simmering mit allen Kassen. Steinhart hat den Universitätslehrgang für Krankenhausmanagement an der Wirtschaftsuniversität Wien absolviert.
Die standespolitische Karriere von Steinhart begann 1989, als er Mitglied der Vollversammlung und des Vorstands der Ärztekammer Wien wurde; 1999 wurde er Vize-Präsident und Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte der Ärztekammer Wien. Damit begann auch seine Tätigkeit auf ÖÄK-Ebene als Mitglied der Bundeskurie niedergelassene Ärzte. Von 2012 an war er Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und zunächst 3. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer, ab 2017 dann 2. Vize-Präsident der ÖÄK.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2022