Adipositas in den USA: Überproportionale Zunahme

25.03.2022 | Politik

Schon vor der Pandemie war massive Adipositas – bei Jung und Alt – ein großes ­Thema in den USA. Die Pandemie hat das noch weiter verschärft – vor allem Kinder und ­Jugendliche haben überproportional zugenommen. Die Aussichten sind düster.

Nora Schmitt-Sausen

Seit Sommer des vergangenen Jahres wird empirisch sichtbar, was viele bereits ahnten: Die Corona-Pandemie mit Schulschließungen, der veränderten Alltagsroutine, weniger Bewegung, sozialer Isolation und erhöhtem Stresslevel hat Auswirkungen auf die körperliche Verfassung von Amerikas Kindern und Jugendlichen. Eine Studie zu Veränderungen des Body-Mass-Index (BMI) während der Pandemie zeigt: Adipositas ist seit Corona ein zunehmendes Problem – besonders bei Kindern zwischen fünf und elf Jahren.

In dieser Altersgruppe gibt es demnach einen signifikanten Zuwachs von Fettleibigkeit oder Übergewicht von fast neun Prozent. Der BMI-Wert verschob sich im Durchschnitt um 1,57. Die Fünf- bis Elfjährigen haben während der Pandemie durchschnittlich 2,3 Kilogramm an Gewicht zugenommen. Bei älteren Kindern ist der Studie nach ebenso eine Gewichtszunahme zu erkennen – allerdings nicht ganz so dramatisch. Der BMI stieg um durchschnittlich 0,91 bei den Zwölf- bis 15-Jährigen und um 0,48 bei Teenagern im Alter von 16 und 17 Jahren.

Grundlage der Studie, die im August 2021 im Journal der American Medical Association (JAMA) erschienen ist, sind die ­Gesundheitsdaten von 200.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 17 Jahren aus Kalifornien, die retrospektiv anhand von elektronischen Gesundheitsakten analysiert wurden. Ver­glichen wurden Daten aus dem Vor-Pandemie-Zeitraum – März 2019 bis Januar 2020 – mit Daten, die während der ­Pandemie – März 2020 bis Januar 2021 – erhoben wurden. „Wir wissen, dass Kinder während der Pandemie an Gewicht zugenommen haben, aber die Zahlen sind schockierend und schlimmer, als ich erwartet hatte“, sagte Adipositas-Spezialistin Sarah Barlow vom Children‘s Medical Center in Dallas (Texas) im Gespräch mit der New York Times.

Eine weitere, deutlich breiter angelegte Studie, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Eine Erhebung des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) vom Spätsommer 2021 ergibt, dass die Adipositas-Rate in Pandemiezeiten bei 22,4 Prozent lag, im Jahr vor der Pandemie waren es noch 19,3 Prozent. Auch hier zeigt sich die stärkste Gewichtszunahme bei jungen Schulkindern. Auffallend: Problematisch ist die Pandemie vor allem für Kinder und Jugendliche, die bereits vor Corona eine Veranlagung zu Adipositas hatten. Sie haben der Studie zufolge während der Pandemie durchschnittlich knapp 0,5 Kilogramm zugenommen – monatlich. Der CDC-Studie liegen Gesundheitsdaten von mehr als 430.000 Heranwachsenden USA-weit zu Grunde. Die untersuchte Altersspanne beträgt zwischen zwei und 19 Jahren. Auch hierfür wurde der BMI als Vergleichsmaß herangezogen. Verglichen wurde der Zeitraum 1. Januar 2018 bis 29. Februar 2020 mit der Periode 1. März 2020 bis 30. November 2020.

Die Autoren der Studie bezeichnen das Ergebnis als „substantiell und alarmierend“. Als Ursachen für die Gewichtszunahme identifizierten sie „Schulschließungen, veränderte Routinen, erhöhter Stress und verminderte Möglichkeiten zu körperlicher Aktivität und gesunder Ernährung“. In den USA waren während der ­Pandemie öffentliche Schulen landesweit monatelang ­geschlossen oder lediglich eingeschränkt geöffnet. Diejenigen ­Experten, die positiv denken, gehen davon aus, dass sich die unnatürlichen Gewichtssprünge mit der Normalisierung des Alltags der Kinder wieder einpendeln. Doch dies dürfte längst nicht bei allen Kindern der Fall sein – vor allem, da eine ­weite Verbreitung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ­bereits vor der Corona-Pandemie ein gravierendes Problem in den USA war.

Bezugspersonen und Vorbilder betroffen

Daten der Gesundheitsbehörde CDC zeigen: Im Jahr 2018 ­waren knapp 20 Prozent der Kinder zwischen zwei und 19 ­Jahren ­adipös. Zusätzliche 16 Prozent galten als übergewichtig. Im Jahr 1980 litten lediglich fünf Prozent der amerikanischen Kinder und Jugendlichen unter Adipositas. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur immer mehr Kinder und Jugendliche unter starkem Übergewicht leiden, sondern häufig auch ihre direkten Bezugspersonen und Vorbilder: Eltern, Verwandte und Erzieher. Fettleibigkeit ist auch in der erwachsenen Bevölkerung der USA weit verbreitet und erfährt durch die Pandemie eine weitere ­Dynamik.

Mehrere Umfragen zeigen, dass die Zahl der Erwachsenen, die in der Pandemie zugenommen haben, jenseits der 40 Prozent liegt. So ergab etwa eine Umfrage der American Psychological Association von Februar 2021, dass viele Befragten mehr als zehn Kilo zugenommen haben. Zehn Prozent der Befragten gaben gar an, mehr als 20 Kilogramm zugenommen zu haben. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die ohnehin bereits hohe Adipositas-Rate der amerikanischen Bevölkerung. Laut einer Studie der Non-Profit-Organisation Trust for America‘s Health lag im Jahr 2020 in 16 von 50 US-Bundesstaaten die Adipositas-Rate jenseits von 35 Prozent. Das sind mit Delaware, Iowa, Ohio und Texas vier Bundesstaaten mehr als im Jahr 2019.

Die Steigerung sei mit der Pandemie verbunden, heißt es in dem Report. Diese habe „Essgewohnheiten verändert, Sicherheit bei der Lebensmittelversorgung verringert, Hürden für körperliche Aktivität geschaffen und Stress verstärkt“. All dies habe „die jahrzehntelangen Muster von Adipositas“ in den USA verstärkt. Zum Vergleich: Im Jahr 2012 hatte die Hürde von 35 Prozent noch kein Bundesstaat erreicht. Im Jahr 2000 gab es in keinem US-Bundesstaat eine Fettleibigkeitsrate jenseits von 25 Prozent.

Das Problem ‚Adipositas‘ beschränkt sich nicht allein auf diese 16 Spitzenreiter. Kombinierte Daten der CDC aus den Jahren 2018 bis 2020 zeigen, dass das Problem in den USA landesweit verbreitet ist. Demnach haben alle 50 Bundesstaaten Adipositas-Raten von mehr als 20 Prozent. In 20 Bundesstaaten liegt die Rate zwischen 30 und 35 Prozent. Regional betrachtet leben im Mittleren Westen und im Süden der USA die meisten Menschen mit Adipositas (Prävalenz jeweils 34,1 Prozent), gefolgt vom Westen (29,3 Prozent) und dem Norden (28 Prozent). Erhebungen zeigen wiederholt ­immer gravierendere Unterschiede in Bezug auf die soziale, biologische und ethnische Herkunft. Adipositas ist besonders unter Menschen mit niedrigem Bildungsstand verbreitet und in sozial schwachen Familien; überproportional betroffen sind Afro-Amerikaner.


Auswege

Langfristige und breit angelegte Konzepte scheinen der einzige Ausweg aus der Adipositas-Epidemie der USA zu sein.

Zu den Kernsäulen zählen mehr Aufklärung, mehr Investi­tionen in Programme zur Verstärkung der Adipositas-Prävention sowie ein verbesserter Zugang zum Gesundheitssystem. Zu konkreten Ansatzpunkten bei der jungen Generation zählen Punkte wie kostenfreies, gesundes Schulessen für einen breiteren Kreis von Kindern, der Ausbau von sicheren Schulwegen, damit Schüler zur Schule gehen oder mit dem Rad fahren können, und die Verteuerung von zuckerhaltigen Getränken durch Steuern. Letzteres bewerten Gesundheitsexperten als Erfolg versprechend. Bemühungen in diese Richtung wurden jedoch fast überall in den USA von der Lebensmittelindustrie blockiert.

Die Gesundheitsbehörde CDC betont, wie wichtig es ist, bei Kindern und Jugendlichen frühzeitig gesunde Lebensgewohnheiten zu fördern. Als konkrete Bausteine zur Bewältigung der Adipositas-Endemie der jungen Generation nennt die Behörde „Screenings durch Gesundheitsdienstleister in Bezug auf BMI, Ernährungsgewohnheiten und die sozialen Aspekte von Gesundheit“ sowie einen besseren und niedrigschwelligen Zugang zu evidenzbasierten pädia­trischen Programmen zur Gewichtskontrolle. Wichtig sei außerdem der Ausbau von ­Ressourcen der Ernährungsberatung auf staatlicher, kommunaler und schulischer Ebene.

Außerstaatliche Akteure fordern Interventionen auf breiter Ebene. „Die politischen Entscheidungsträger werden nicht in der Lage sein, die Adipositas-Trends umzukehren, ohne die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen anzugehen, die der Krise zugrunde liegen“, formuliert es etwa Trust for America‘s Health, der bereits zum 18. Mal einen Report zu Adipositas-Daten in den USA vorgelegt hat. Und weiter: „Die Lösung der landesweiten Fettleibigkeitskrise wird höhere Investitionen und mutige politische Maßnahmen erfordern.“ Es seien „Sektorenübergreifende multidisziplinäre Ansätze“ sowie die Konzentration der Maßnahmen auf jene Bevölkerungsgruppen erforderlich, „die einem unverhältnismäßig hohen Risiko für Fettleibigkeit“ ausgesetzt seien. Daran beteiligt müssten Akteure aus Politik, Bildungswesen, Gesundheits­sektor und Lebensmittelindustrie sein.

Ein großes Problem ist, dass es in manchen Regionen der USA nicht einfach ist, gesunde Lebensmittel zu erhalten. Weit verbreitet – und billig – sind dagegen Fast Food und stark zucker- und salzhaltige Produkte. Ebenso fehlen in manchen Bevölkerungsteilen das Wissen und auch das Verständnis, dass zu viel Gewicht zu massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann.


Düstere Prognose

Schon bevor die Corona-Pandemie das Adipositas-Problem in den USA verschärft hat, war der Blick in die Zukunft düster. In einer ­Studie vom Dezember 2019 im NEJM legten renommierte Gesundheitsforscher eine Berechnung vor, wonach im Jahr 2030 fast jeder zweite Amerikaner adipös sein wird. In 29 der 50 US-Bundesstaaten leben in ­weniger als zehn Jahren demnach mehr als 50 Prozent der Menschen mit Adipositas. In keinem Bundesstaat liegt die Adipositas-Rate mehr unter 35 Prozent. Dieser Prognose zufolge wird außerdem das Phänomen massive Adipositas zunehmen. Davon soll im Jahr 2030 fast einer von vier Amerikanern betroffen sein. Sollte nicht massiv gegengesteuert werden, werde „Adipositas die neue Normalität in diesem Land sein“, zitierte die New York Times Zachary J. Ward, Experte für Public Health an der Harvard University.
Die Gründe für diese Entwicklung sehen die Autoren vor allem im weit verbreiteten Zugang zu billigem, ungesundem Essen; dem zu hohen Konsum von stark verarbeiteten Lebensmitteln; zu viel Zucker – vor allem in Getränken; zu viel Fett; zu viel Salz; zu großen Portionen; zu häufigen Snacks – schon ab dem Kindesalter. Auch diese Untersuchung verdeutlicht, wie wichtig landesweite Bemühungen in puncto Ernährung und Gesundheit sind, um den Trend noch aufhalten zu können.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 06 / 25.03.2022