Substanzbezogene Störungen bei Kindern und Jugendlichen: Verlust als Hinweis

26.10.2022 | Medizin

Dissoziales Verhalten, Angststörungen bis hin zur Suizidalität können Hinweise auf eine substanzbezogene Störung im Kindes- und Jugendalter sein. Klassisch für das Vorliegen einer Sucht ist der Verlust von Interessen. Die Vulnerabilität des Gehirns, das sich bis in die dritte Lebensdekade entwickelt, unterstreicht die Wichtigkeit einer zügigen Therapie.

Julia Fleiß

„Der menschliche Körper ist sehr regenerierfähig, aber die Auswirkungen von Cannabis- und Alkoholabusus sind stark an die Dauer des Substanzkonsums gekoppelt“, erklärt Philipp Kloimstein, ärztlicher Leiter der Stiftung Maria Ebene, dem Kompetenzzentrum für Suchterkrankungen in Vorarlberg. „Je schwerer die Suchterkrankung, aber auch Begleiterkrankungen sind, umso mehr Spuren hinterlässt der Substanzmissbrauch im Gehirn. Gerade psychiatrische Störungen neigen zur Chronifizierung“, so Kloimstein.

Abweichungen von der Norm erkennen

Bei Verdacht auf Substanzmissbrauch gilt es prinzipiell, zwischen risikoarmem/problematischem Konsum und Abhängigkeit zu unterscheiden. So ist der regelmäßige Konsum über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten mit wiederkehrenden Rauschzuständen jedenfalls ernst zu nehmen. Cannabis sei in den letzten Jahren gesellschaftsfähig geworden und eher verbreitet, berichtet Kloimstein aus dem klinischen Alltag. Hingegen geht der Alkoholkonsum bei Jugendlichen eher zurück und wird vom Missbrauch anderer Substanzen abgelöst.

Der Konsum von Cannabis ist am Geruch, an roten Augen sowie am Leistungsabfall erkennbar, während Alkohol eher zu Konfliktsituationen und auffälligen Verhaltensänderungen im Rauschzustand führt. Ein Screeningtest kann Hinweise auf riskante Konsummuster geben (siehe Kasten). Hinweise für eine potentielle substanzbezogene Störung im Kindes- und Jugendalter sind dissoziales Verhalten, erlebte negative und erhoffte positive Folgen des Substanzkonsums und Angststörungen bis hin zu Suizidalität. „Ein zentrales Merkmal der ICD-10-Kriterien für das Vorhandensein einer Sucht ist der Verlust von Interessen“, erklärt Kloimstein.

Bei substanzbezogenen Störungen im Kindes- und Jugendalter müssen vier Ebenen berücksichtigt werden: körperliche Auswirkungen, psychische Funktionsstörungen, Entwicklungsstörungen und komorbide psychische Störungen. Voraussetzung für die Diagnostik ist eine gute Beziehung zum Betroffenen. Kloimstein dazu: „Aufgrund des persönlichen Kontakts kann der Hausarzt viel bewirken, indem er bei Verdacht auf Substanzmissbrauch bei Routineuntersuchungen die richtigen Fragen stellt.“ Die „Königsdisziplin“ bei Kindern und Jugendlichen sei es laut Kloimstein, „ein Problembewusstsein zu schaffen und Angehörige einzubeziehen ohne eine Verurteilung des Betroffenen heraufzubeschwören.“

Offene und empathische Gesprächsführung

„Schon eine singuläre Intervention durch den Hausarzt kann zum gewünschten Erfolg führen“, ist Univ. Prof. Gabriele Fischer von der Suchtforschung und Suchttherapie an der Medizinischen Universität am AKH Wien überzeugt. Der motivierenden Gesprächsführung komme hier besondere Bedeutung zu, betont Kloimstein. Mit einer offenen, wertschätzenden und partnerschaftlichen Atmosphäre erzeuge der Arzt im Idealfall eine intrinsische Motivation. „Das Wichtigste dabei ist, nicht als moralisierender Behandler aufzutreten, sondern in erster Linie als professioneller empathischer Partner“, ist Kloimstein überzeugt. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass es „auf die Zeitressourcen in der Praxis ankommt“. Wenn diese zu knapp sind, sollte an eine Suchtberatungsstelle oder an einen klinischen Psychologen überwiesen werden.

„Das Gefährliche bei Jugendlichen sind akute Intoxikationen, die sogar tödlich enden können“, warnt Fischer. Beim Konsum von Cannabis warnen die Experten vor allem davor, dass damit unwissentlich auch Substanzen konsumiert werden, mit denen Cannabis versetzt ist. Diese imitierten die Wirkung des psychotropen THC und können hochpotent und toxisch sein. Auch Kloimstein bestätigt, dass bei den ab 15-jährigen Patienten in der Suchtklinik in den wenigsten Fällen eine körperliche Entzugsproblematik vorliegt. Therapieziel bei der Suchttherapie von Kindern und Jugendlichen ist grundsätzlich Abstinenz, um die psychische, physische und soziale Entwicklung der jungen Menschen nicht zu gefährden sowie gefährliche Intoxikationen zu verhindern. Auch multidimensionale Familientherapien, bei denen das gesamte Lebensumfeld der Betroffenen miteinbezogen wird, haben sich bewährt – „denn Suchtbehandlung ist immer multiprofessionelles Teamwork,“ betont Kloimstein. Eine zentrale Frage bei Kindern und Jugendlichen mit Substanzmissbrauch laute immer: Welche Funktion nimmt die Substanz ein? Dabei kann es sich ebenso um eine vermeintlich therapeutische Wirkung von Substanzen, wie auch um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe handeln.

Affektive Störungen abklären

Als „entscheidend“ bezeichnet es Fischer, dass „gesunde Personen in diesem Alter keine Abhängigkeit entwickeln“. Dem problematischen Substanzkonsum im Kindes- und Jugendalter liegen den Aussagen der Expertin zufolge in den meisten Fällen affektive Störungen wie Depressionen und Angststörungen oder aber ein ADHS zugrunde. Kommt es daher zu einer stationären Aufnahme in Folge einer Intoxikation, sollte der Betroffene nach der Ausnüchterung nicht sofort entlassen werden, sondern „die Zeit für die Diagnostik genützt werden. Eine umfassende Abklärung ist angezeigt, um die Ursache für den Substanzmissbrauch herauszufinden und dann entsprechend zu behandeln“, unterstreicht Fischer.


Drogensituation in Europa

83,4 Millionen Menschen zwischen 15 und 64 Jahren (29 Prozent) haben jemals eine illegale Droge konsumiert; davon sind 50,5 Millionen Männer und 33 Millionen Frauen. Dabei konsumieren die meisten Personen gleichzeitig eine Reihe von Substanzen.

Cannabis in Europa

Knapp 48 Millionen Männer und 31 Millionen Frauen über 15 Jahren geben an, schon einmal Cannabis konsumiert zu haben. Laut dem aktuellen europäischen Drogenbericht ist Cannabis damit die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Europa.

Hanf-Drogen sind laut dem Jahresbericht der Vereinten Nationen der Grund für rund 30 Prozent aller Drogentherapien. Das auf dem Markt erhältliche Haschisch und Marihuana werde immer stärker und führe – regelmäßig konsumiert – zu einem Anstieg der Sucht und der psychischen Erkrankungen in Westeuropa, konstatiert das United Nations Office on Drugs and Crime (UNDOC). Der durchschnittliche THC-Gehalt (Tetra-Hydro-Cannabinol) in Harz wiederum beträgt derzeit 21 Prozent und ist damit fast doppelt so hoch wie in Cannabiskraut (elf Prozent). Bisher galt der THC-Gehalt in Cannabiskraut als höher.

Das Durchschnittsalter der Cannabis-Konsumenten beim Erstkonsum liegt bei 16 Jahren; das Durchschnittsalter bei der erstmaligen Aufnahme für eine Behandlung bei 25 Jahren. 84 Prozent der Konsumenten sind Männer, 16 Prozent Frauen. Cannabis wird durchschnittlich an 5,3 Tagen pro Woche konsumiert.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2022