Schmerz­as­sess­ment bei kogni­ti­ven Stö­run­gen: Ver­suchs­weise Orientierung

25.11.2022 | Medizin

Der über­wie­gende Teil der älte­ren Men­schen lei­det an nozi­zep­ti­ven mus­ku­los­ke­letta­len Schmer­zen. Lei­den sie dar­über hin­aus an einer kogni­ti­ven Beein­träch­ti­gung, gibt es keine Sicher­heit dafür, dass die Schmerz­the­ra­pie auch tat­säch­lich erfolg­reich ist. Die Behand­lung beruht auf ver­suchs­wei­ser Orientierung.

Julia Fleiß

Bei über 65­Jährigen liegt die Schmerz­prä­va­lenz zwi­schen 50 und 86 Pro­zent; auch Men­schen mit einer kogni­ti­ven Beein­träch­ti­gung sind davon betrof­fen. Unter­su­chun­gen zufolge lei­den 45,8 Pro­zent der Pati­en­ten mit Alzheimer­Demenz an Schmer­zen; 56,4 Pro­zent der Men­schen mit vas­ku­lä­rer Demenz und 53,9 Pro­zent der­je­ni­gen, die an gemisch­ter Demenz lei­den. „Die Mehr­zahl der alten Men­schen lei­det an nozi­zep­ti­ven mus­ku­los­ke­letta­len Schmer­zen“, erklärt Univ. Prof. Burk­hard Gus­torff von der Abtei­lung für Anäs­the­sie, Intensiv­ und Schmerz­me­di­zin an der Kli­nik Otta­kring in Wien. Dabei han­delt es sich um Schmer­zen durch Mus­kel­ver­kür­zun­gen und Fehl­hal­tun­gen, Arthrose­bedingte sowie auch Schmer­zen der Kno­chen­haut, die durch osteo­po­ro­ti­sche Ver­än­de­run­gen ent­ste­hen. Dass Schmer­zen bei älte­ren Men­schen gene­rell „eher“ (Gus­torff) unter­be­han­delt blei­ben, liegt unter ande­rem im Under­re­port­ing: Ältere Men­schen neh­men Schmer­zen als unab­wend­bare Begleit­erschei­nung des Alterns hin und the­ma­ti­sie­ren sie daher sel­te­ner. Außer­dem haben viele Sorge davor, in einer sta­tio­nä­ren Ein­rich­tung unter­ge­bracht zu wer­den. Dazu kommt, dass die ver­bale Aus­drucks­fä­hig­keit von älte­ren Men­schen ein­ge­schränkt sein kann – etwa nach einem Insult oder auf­grund einer höher­gra­di­gen kogni­ti­ven Beeinträchtigung.

Mit zuneh­men­dem Lebens­al­ter steigt auch die Zahl der­je­ni­gen mit einer demen­ti­el­len Erkran­kung: So lei­den bis zu 15 Pro­zent der über 65­Jährigen an Demenz. Jeder zweite von den über 85­Jährigen hat M. Alz­hei­mer, davon 28 Pro­zent schwer. Damit eine schmerz­the­ra­peu­ti­sche Unter­ver­sor­gung von kogni­tiv oder kom­mu­ni­ka­tiv beein­träch­tig­ten Pati­en­ten ver­mie­den wer­den kann, muss die stan­dar­di­sierte Erfas­sung des Schmer­zes und der The­ra­pie inte­gra­ler Bestand­teil der Behand­lung sein. „Je wei­ter fort­ge­schrit­ten die Demenz ist, umso kür­zer soll­ten die Beur­tei­lungs­in­ter­valle sein“, fasst Wolf­gang Hal­der von der Abtei­lung für Innere Medi­zin und Akut­ger­ia­trie am Lan­des­kran­ken­haus Hochzirl­Natters zusammen.

Selbst­aus­kunft der Patienten

Bei der Schmerz­er­fas­sung kom­men in ers­ter Linie Instru­mente zum Ein­satz, die auf der Selbst­aus­kunft der Pati­en­ten beru­hen wie zum Bei­spiel ver­bale Rating­Skalen (VRS), nume­ri­sche Rating­Skalen (NRS) und visu­elle Ratings­ka­len. „Bei gering­gra­di­ger Demenz ist ein ver­ba­ler Aus­tausch immer noch mög­lich. Hier ist der Zugang eine ein­fa­che, auf die Gegen­wart bezo­gene Befra­gung“, sagt Gus­torff. Auch eine ruhige, lang­same und deut­li­che Spra­che wirkt sich laut dem Exper­ten posi­tiv auf das Befra­gungs­er­geb­nis aus.

Bei Men­schen mit fort­ge­schrit­te­ner Demenz muss der Beob­ach­ter Signale der non­ver­ba­len Kom­mu­ni­ka­tion beob­ach­ten und ein­schät­zen wie etwa laut­sprach­li­che Äuße­run­gen, mimi­sche Hin­weise wie Gri­mas­sie­ren oder Stirn­run­zeln, Ver­hal­tens­in­di­ka­to­ren wie Ver­hal­tens­än­de­run­gen, Appe­tit­ver­lust oder aber auch phy­si­sche Indi­ka­to­ren wie Tachy­kar­dien oder ein ver­än­der­ter Atem­rhyth­mus. Zur­zeit wird die Ver­wen­dung eines struk­tu­rier­ten Fra­ge­bo­gens – BESD (Beur­tei­lung von Schmerz bei Demenz) – emp­foh­len. Die Fremd­ein­schät­zung unter­liege laut wis­sen­schaft­li­cher Unter­su­chun­gen jedoch gro­ßen Fehl­ein­schät­zun­gen. „Am bes­ten gelingt diese Schmerz­be­ur­tei­lung in Lang­zeit­ein­rich­tun­gen, wenn Ärzte und Betreuer die Pati­en­ten­gut ken­nen“, weiß Halder.

Chro­ni­scher Schmerz

Schmer­zen bei älte­ren Men­schen sind meist chro­nisch, durch kli­ni­sche Dia­gno­sen belegt und daher ein­deu­tig behan­del­bar. „Wir spre­chen von chro­ni­schem Schmerz, wenn er min­des­tens sechs Monate auf­tritt“, erklärt Hal­der. Die Her­aus­for­de­rung dabei ist es, eine Ver­schlech­te­rung der bestehen­den Sym­pto­ma­tik von einem neu auf­ge­tre­te­nen Pro­blem zu dif­fe­ren­zie­ren. Aku­ter Schmerz kann „sicht­bar sein“: als Häma­tom oder Schwel­lung. Bei „unsicht­ba­ren“ Schmerz­ur­sa­chen wie zum Bei­spiel ent­zünd­li­chen Pro­zes­sen von inne­ren Orga­nen jedoch gelte es laut Hal­der, Ver­mei­dungs­ver­hal­ten oder schmerz­be­dingte Schon­hal­tun­gen zu erkennen.

„Die Vor­gangs­weise ist, auch die Gegen­re­gion zur schmerz­haft Ver­mu­te­ten zu unter­su­chen. Nur so erhält man einen Reak­ti­ons­ver­gleich“, ergänzt Gus­torff und rät, immer auch einen der Region zuor­den­ba­ren Ner­ven­schmerz in Betracht zu zie­hen. Hal­der wie­derum gibt zu den­ken: „Die Schwie­rig­keit bei demen­ten Per­so­nen ist, dass sie auch unab­hän­gig von Schmerz Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten wie Abwehr­hand­lun­gen bei Pfle­ge­maß­nah­men oder moto­ri­sche Unruhe auf­wei­sen kön­nen.“ Dem Betreu­ungs­per­so­nal und auch Ange­hö­ri­gen kommt daher eine wich­tige Rolle zu. So kön­nen etwa vor allem nachts auf­tre­tende Schmer­zen, wenn der Betref­fende nicht schla­fen kann und wim­mert, auf Schmer­zen hin­deu­ten. Abso­lute Sicher­heit wie bei kogni­tiv gesun­den Men­schen gebe es laut den bei­den Exper­ten nicht: Die Behand­lung beruhe auf ver­suchs­wei­ser Orientierung.

„Bei älte­ren Per­so­nen sind nicht ste­ro­idale Anti­rheu­ma­tika auf­grund der poten­ti­el­len Nie­ren­schä­di­gung und bei Herz­/​Kreislauf­Erkrankungen kon­tra­in­di­ziert. Daher blei­ben Par­acet­amol mit rela­tiv gerin­ger Wir­kung, weil es zu 50 Pro­zent bereits im First­Pass­Effekt absor­biert wird, und als zweite Wahl Met­ami­zol“, so Gus­torff. Der Vor­teil die­ser Prä­pa­rate liege darin, dass sie keine kogni­tive Ein­schrän­kung bewirken.

„Unter Berück­sich­ti­gung von Ein­nah­me­mo­da­li­tä­ten und Neben­wir­kungs­ri­si­ken wer­den in vie­len Fäl­len Mor­phine ein­ge­setzt“, berich­tet Hal­der und zwar unter dem Motto „Start low – go slow.“ Gus­torff wie­derum rät, Opio­ide bei mobi­len kogni­tiv beein­träch­tig­ten Pati­en­ten zurück­hal­tend ein­zu­set­zen, da sie „zen­tral­ner­vös dämp­fend wir­ken, was das Sturz­ri­siko erhöht.“ Im Zwei­fels­fall sollte man auf Prä­pa­rate zurück­grei­fen, die schon ver­ord­net und auch ver­tra­gen wur­den. Gus­torff dazu: „Das gene­ti­sche Kon­zept, wel­ches Prä­pa­rat wie wirkt, ändert sich nicht.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2022