Knochen und Bewegungsmangel: Regulation durch Osteozyten

10.02.2022 | Medizin

Der Bewegungsapparat muss bewegt werden, damit er sich in richtiger Weise entwickelt. Eine zentrale Rolle bei der Anpassung des Knochens an Bewegung spielen Osteozyten als Regulationsorgane. Die Auswirkungen eines langfristigen Bewegungsmangels sind erst nach rund zwölf Monaten in der Knochendichtemessung sichtbar.

Sophie Fessl

Wir wissen erst aus der Raumfahrt, dass sich Schwerelosigkeit negativ auf den Knochen niederschlägt“, berichtet Univ. Prof. Heinrich Resch von der II. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin, Gastroenterologie, Hepatologie, Stoffwechsel- und Entzündungsmedizin am Krankenhaus Barmherzige Schwestern Wien. „Die Raumfahrt führte schließlich auch zur Entwicklung des ersten Knochendichte-Messgeräts.“

Dass sich fehlende Belastung – ob durch Bewegungsmangel oder Schwerelosigkeit – auch auf den Knochen auswirkt, ist für viele Patienten überraschend, berichtet Priv. Doz. Lukas Holzer von der Abteilung für Orthopädie und Traumatologie am Unfallkrankenhaus Klagenfurt am Wörthersee. „Der Knochen wird oft als solide Struktur betrachtet. Doch ganz im Gegenteil: Der Knochen ist ein lebendiges und elastisches Organ, das einem permanenten Adaptationsprozess unterliegt.“ Durch das „Remodelling“, einen permanenten Umbau, kann sich der Knochen entsprechend den äußeren Einflussfaktoren anpassen. „Form follows function“, betont auch Orthopäde Univ. Prof. Stefan Nehrer vom Universitätsklinikum Krems. „Wir müssen den Bewegungsapparat bewegen, damit er sich in richtiger Weise entwickelt.“

Gemäß dem Erfordernisprinzip wird der Knochen bei Bettlägrigkeit, Immobilität oder auch Bewegungsmangel aufgrund einer erhöhten Knochenresorption abgebaut. Dieser Prozess ist durch Bewegung rasch reversibel, insbesondere Krafttraining verbessert die Knochendichte. „Stoßbelastung – etwa durch Erschütterungen bei Aerobic, beim Laufen oder beim Springen – stimuliert besonders den Knochenaufbau“, berichtet Nehrer. Besonders belastete Strukturen bauen sich dabei stärker auf als weniger belastete Strukturen. Ab-und Aufbau der Knochen stehen aber auch in einem steten Wechselspiel mit den Muskeln, betont Resch. „Knochen und Muskel sind Korrespondenten der Bewegung.“

Bewegung ist Erschütterung

Der Knochen ist höchstempfindlich auf mechanische Belastung: Bewegung wird im Knochen als relative Erschütterung registriert. Über das feine Kapillarsystem des Knochens kommt es in weiterer Folge zur Bewegung von Zilien, die wiederum in Proteinsynthese und Synthese von Knochenzellen übersetzt werden. Als verbindendes Element dienen die Mechano-Sensoren der Osteozyten. „Alle Kräfte, beim Springen etwa die dumpfe Energie der Erschütterung, pflanzen sich in der Knochenbewegung weiter und stimulieren Osteozyten, welche Stoffe produzieren, damit sich der Knochen an die Bewegung anpasst und aufbaut“, erläutert Resch. „Die Funktion von Osteozyten war jahrhundertelang unbekannt. Sie wurden als bloße eingemauerte Osteoblasten betrachtet. Jetzt wissen wir: Osteozyten sind hochintelligente Regulationsorgane, mit einer zentralen Aufgabe in der Anpassung des Knochens an Bewegung.“

Aufgrund von Belastung kommt es zu einer vermehrten Bildung von Knochenmatrix, auch Kortikalis und Spongiosa werden dichter und die Knochenstrukturen mechanisch stabiler, fügt Nehrer hinzu. Wird bei einem Mangel an physikalischer Aktivität keine Energie an den Knochen weitergeleitet, so wird auch kein neuer Knochen mehr gebildet. Da der Knochen einem ständigen Abbauprozess unterliegt, dem sonst durch Knochenaufbau aufgrund von Bewegung entgegengehalten wird, kommt es bei Bewegungsmangel zur Knochenresorption.

Bewegung ist bereits in der Jugend wichtig, um den Knochen bis zur sogenannten Peak Bone Mass, der lebenslang höchsten Knochen dichte, aufzubauen. Aufgrund von Belastung, Sport, Anpassung und Ernährung wird die maximale Knochendichte bis zum 25. und dann bis zum 35. Lebensjahr aufgebaut. Vor dem Hintergrund hormoneller Veränderungen und aufgrund des Alterungsprozesses erhöht sich später die abbauende Aktivität der Osteoklasten.

Ein Prozent Verlust jährlich

„Ab dem 40. Lebensjahr verlieren wir rund ein Prozent Knochenmasse pro Jahr“, erläutert Nehrer. „Wer schon in Jugendjahren einen sitzenden Lebensstil verfolgt mit Bewegungsmangel, bildet keine hohe Peak Bone Mass aus. Es geht von einem niedrigen Knochendichte-Niveau bergab, womit man im Alter in eine schwierige Situation kommt.“ Bei einer niedrigen Peak Bone Mass kann eine Osteoporose bereits früher auftreten, das Knochenbruch-Risiko steigt und der Knochen ist nicht ausreichend belastbar. „In der Jugend ist Sport wichtig, um überhaupt eine Peak Bone Mass auszubilden und ausreichend Kredit für den späteren Abbau aufzubauen.“

Im Alter befindet sich der Knochen hingegen bereits in einem Abbauprozess. „Wenn keine weiteren Belastungen durch Bewegung gesetzt werden, so kommt es sukzessive und schneller zu einem weiteren Abbau des Knochens“, berichtet Nehrer. Mit Bewegung könne hingegen der Knochenabbau zwar nicht rückgängig gemacht, aber merkbar verlangsamt werden.

Auch bei einer kurzen Phase der Inaktivität wird ein Abbau von Knochen- und Muskelmasse beobachtet, berichtet Holzer aus der Praxis. „Wir sehen an Patienten, dass es bereits nach wenigen Tagen Bettruhe zu einer signifikanten Reduktion von Muskel- und Knochenmasse kommt. Auch die mikrostrukturellen Parameter der Knochen ändern sich nach kurzer Zeit. Daher ist auch die frühzeitige Mobilisierung bei stationärer Behandlung von großer Bedeutung.“ Konsequenzen eines langfristigen Bewegungsmangels sind nach rund zwölf Monaten in der Knochendichtemessung sichtbar, erläutert Resch, da deutliche Veränderungen erst nach einem Jahr statistisch belegbar dargestellt werden können.

Die verfügbaren Messmethoden – die Knochendichtemessung mittels DXA-Messung sowie die Mikro-Computertomographie – begrenzten allerdings die Aussagefähigkeit, betont Holzer. Da die Knochendichtemessung am proximalen Femur und an der Lendenwirbelsäule durchgeführt wird und die Mikro-Computertomographie die Bereiche am distalen Unterarm beziehungsweise der distalen Tibia erfasst, beziehen sich die meisten verfügbaren Daten zur Veränderung von Knochen aufgrund von Bewegung auf diese Regionen. „Da die Untersuchungsmethoden limitiert sind, können wir Veränderungen in anderen Knochen nicht so gut erfassen. Es ist aber anzunehmen, dass die Effekte – also Aufbau durch Bewegung und Abbau aufgrund von Bewegungsmangel – in anderen Körperregionen ähnlich sind.“

An der Wirbelsäule wirkt sich Bewegungsmangel vor allem durch die Abnahme der Stützfunktion der Muskelmanschette aus. Bei einer Atrophie aufgrund von Bewegungsmangel kommt es zu einer vermehrten axialen Belastung der Wirbelsäule, berichtet Holzer. „Diese Belastung wirkt sich negativ auf die Bandscheiben und die Wirbelgelenke aus. Sofern eine hochgradige Osteoporose besteht und die umliegende Muskulatur atrophiert ist, kann bereits eine geringe Krafteinwirkung zu spontanen Frakturen der Wirbelkörper mit gravierenden Konsequenzen führen.“

Als erstes Symptom einer herabgesetzten oder reduzierten Bewegung treten allerdings Rückenschmerzen auf, die über 80 Prozent der Bevölkerung im Lauf des Lebens betreffen. „Aufgund der vermehrten axialen Belastung werden sämtliche Strukturen
im Bereich der Wirbelsäule überlastet.“ Leitsymptom sei dabei der Schmerz. Doch auch Bandscheibenvorfälle, Irritationen der Nervenwurzel sowie Arthrosen im Bereich der Wirbelgelenke können in Folge eines Bewegungsmangels auftreten.

Bewegung als Prävention

Knochen, die einer direkten Belastung durch Bewegung ausgesetzt sind, reagieren schneller und deutlicher auf das Ausmaß der Bewegung als die Wirbelsäule. „Das konsequente Nichtbenutzen der eigenen Kraftübertragung führt zu einer gewissen Faulheit der Knochen. Letztlich kann die Knochenresorption in eine Osteoporose münden“, unterstreicht Resch. „Fast jede Osteoporose geht mit Muskelschwund einher, natürlich auch aufgrund mangelnder Bewegung im Vorfeld.“ Bewegung sei daher auch neben der Ernährung eine der Säulen der Osteoporose-Prävention.

Eine Stärkung der Muskel sei als beste Osteoporose-Therapie zu sehen, wobei es hier fast keine medikamentösen Möglichkeiten gibt. „Wir haben mittlerweile die Bedeutung des Muskels auch für die Behandlung von Knochenerkrankungen erkannt“, betont Resch. Und weiter: „Forcierte Bewegungstherapie kann zu einem gewissen Grad die medikamentöse Osteoporose-Therapie ersetzen in einer Größenordnung von drei bis fünf Prozent Knochendichtezunahme.“

Während der Muskelaufbau rasch erfolgt, sind Effekte am Knochen durch längerfristige Trainingsprogramme zu erzielen. „Für den Knochenaufbau sollte das Training ein spezielles Krafttraining beinhalten. Altersabhängig und abhängig vom Zustand des Patienten sollte das Krafttraining mit dem Körpereigengewicht oder zusätzlichen Gewichten durchgeführt werden“, berichtet Holzer. Zusätzlich zum Krafttraining sollten Ausdauer und vor allem im höheren Alter die Koordination trainiert werden. Da der Effekt von Bewegung auf den Knochen spezifisch ist, führen etwa rumpfstabilisierende Programme oder Rückengymnastik zwar zu einer Erhöhung der lokalen Knochendichte, haben aber auf andere Knochen keinen Effekt. Deshalb sollte der ganze Körper trainiert werden.

Zusätzlich zur Aktivierung der Muskel und Knochen durch Krafttraining sollte auch auf eine Stoßbelastung geachtet werden, erklärt Nehrer. „Belastung ist optimal, um Knochenabbau entgegenzuwirken. Es sollte ein Impakt auf den Knochen kommen, um den Abbau zu verzögern.“ Allerdings sollte besonders bei älteren Personen berücksichtigt werden, dass die Knochenbelastbarkeit geringer ist. Daher sollte die Belastung gezielt gesetzt werden, um eine Endbelastung der Gelenke zu vermeiden und keine Maximalbelastung zu erreichen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 03 / 10.02.2022