Onkologie: Lebenswertes Überleben

10.11.2022 | Medizin

Sexuelle Funktionsstörungen und Neuropathien stellen die häufigsten Langzeitprobleme nach der Diagnose Krebs dar. Eine der Hauptaufgaben des Allgemeinmediziners liegt darin, den Betroffenen in seiner Komplexität wahrzunehmen.

Julia Fleiß

Polyneuropathie, Kurzatmigkeit, kataboles Stoffwechselgeschehen, Übelkeit, Fatigue und Gelenksschmerzen gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen von Krebstherapien. Die somatischen Symptome führen bei Betroffenen oft zu posttraumatischen Belastungsreaktionen, Depressionen und Distress. Oft kommen in der Folge noch soziale Auswirkungen wie Einkommensverlust und familiäre Belastung bis hin zur Scheidung dazu. „Das Einzige, was die Menschen nicht spüren können, ist der Nutzen der Therapie“, veranschaulicht Univ. Prof. Alexander Gaiger von der Universitätsklinik für Innere Medizin I am AKH Wien. Während die direkte Behandlung von Begleitsymptomen aufgrund der Komplexität des individuellen Krankheitsbildes meist einer Abklärung durch den Onkologen bedarf, müsse die „Awareness“ (Gaiger) für die Nebenbelastungen von Betroffenen, die somatischer, psychischer oder sozialer Natur sein können, in der Ordination des Allgemeinmediziners einen wichtigen Stellenwert einnehmen.

Was Lebensqualität ausmacht

Mit dem EORTC QLQ-C30 und den FACT (Functional Assessment of Cancer Therapy)-Fragebögen gibt es spezielle Messinstrumente, die auf Basis von Symptomen und deren Auswirkung auf unterschiedliche Lebensbereiche die Lebensqualität bewerten. Langzeitprobleme von Krebspatienten wurden in der bisher größten in den USA mit 2.300 Patienten durchgeführten Untersuchung „Livestrong Survey“ 2015 abgefragt: Fast 60 Prozent klagten über Energieverlust, gefolgt von Konzentrationsstörungen. 46 Prozent gaben sexuelle Funktionsstörungen an, 42 Prozent Neuropathien. Schmerzen stehen an fünfter Stelle mit 34 Prozent. „Mit dem größten Teil der Patienten wird weder über ihre Beschwerdesymptomatik gesprochen noch wird ihnen eine Behandlung angeboten“, erklärt Univ. Prof. Richard Greil vom Onkologischen Zentrum im Landeskrankenhaus Salzburg. Er ortet dringenden Handlungsbedarf. Studien zur Lebensqualität von Krebspatienten ergaben unerwartete Ergebnisse, wie Greil ausführt. „Von Menschen mit Tumoren im HNO-Bereich wird die Tatsache, nicht essen zu können, oder die fehlende Wahrnehmung von Duft und Geschmack wesentlich gravierender empfunden als der Verlust der Sprache.“

Präventive Lebensqualität

Der Beeinträchtigung der Lebensqualität von Krebspatienten könne laut Greil in gewissen Bereichen vorgebeugt werden: „Es ist wichtig, dass die Patienten während der ersten Chemotherapie gut antiemetisch eingestellt sind und nicht erbrechen müssen, weil daraus ein stark konditionierender Effekt entsteht. Psychogen bedingte Übelkeiten sind viel schwerer zu behandeln als direkte Medikamenten-bedingte Nebenwirkungen.“ Eines der größten Probleme ist nach wie vor die Polyneuropathie. Greil dazu: „Es hat sich herausgestellt, dass das Tragen von engen Handschuhen während der Therapie mit neurotoxischen Medikamenten stark prohibitiv ist“.

Den Aussagen von Greil zufolge leiden die Betroffenen am Beginn einer Krebserkrankung häufig an einer Erschöpfungsdepression. Gaiger warnt davor, dies zu pathologisieren: „Menschen mit einem Karzinom dürfen traurig und schwermütig sein. Sie leiden deswegen nicht gleich unbedingt an einer Depression.“ Laut „Livestrong Survey 2015“ haben 80 Prozent der Krebspatienten Angst vor einem Rückfall und 50 Prozent fürchten, dass bei Familienmitgliedern ebenfalls ein Karzinom diagnostiziert wird. Wenn eine Behandlung mit Antidepressiva dennoch notwendig ist, sieht Greil positive und negative Nebenwirkungen: „Wir behandeln Krebspatienten, die neben der Depression an massivem Gewichtsverlust leiden, beispielsweise mit Mirtazipan, das auch appetitanregend wirkt.“ Andererseits müsse man auch die zusätzliche Beeinträchtigung der Lebensqualität wegen der Konzentrationsstörungen, Erschöpfung und auch wegen der sexuellen Funktionsstörungen bedenken.

Greil sieht die Aufgabe des Hausarztes darin, „den Krebspatienten in seiner Komplexität wahrzunehmen.“ Nicht zu unterschätzen sei die Kontrolle der Risikofaktoren. Dazu gehört auch die Aufklärung über und Überweisung zu sekundären Screeninguntersuchungen, denn „20 Prozent der Patienten werden gleichzeitig oder subsequent einen oder mehrere weitere Tumore bekommen“, weiß Greil. Bei der Schmerzbehandlung durch den Allgemeinmediziner gehe es demnach vor allem darum, die Kausalität zu erkennen: „Man muss in allen Schmerzdimensionen denken: von einem Rezidiv der Tumorerkrankung über Nebenwirkungen einer Strahlentherapie oder Operationsfolgen bis hin zu psychischen Auslösern.“ Setzt der Hausarzt Morphine als Akut-Therapie ein, sollte dies mit einer langsamen Steigerung der Dosis erfolgen; ebenso sollte eine Schmerztabelle geführt werden. Was Greil besonders betont: Generell seien langfristige Schmerztherapien zu favorisieren, wobei diese „ambulant eher schwierig durchzuführen seien“, schränkt er ein.

Die Schlüsselfunktion des Allgemeinmediziners sieht Gaiger darin, dass er den Betroffenen aufklärt und unterstützt. „Selbst wenn Krebspatienten als geheilt gelten, ist teilweise eine Erhaltungstherapie mit einer regelmäßigen Kontrolle notwendig. Das vermittelt unweigerlich ein Angstgefühl.“ Treten Beschwerden neu auf oder im Rahmen der Therapie, ist die Aufklärung über die Prozesse, die im Körper vor sich gehen, oft ein entscheidender Faktor. Denn „eine Chemotherapie bedeutet für den Körper eine millionenfach höhere Leistung bei der Zellteilung zu erbringen“, gibt Gaiger zu denken.

Liegt bei anhaltenden Beschwerden oder ungeklärtem Gewichtsverlust kein Rezidiv vor oder sind andere körperliche Folgen der Therapie nicht erkennbar, sollten Maßnahmen aus dem Bereich der Psychoonkologie zum Einsatz kommen. „Es ist alles erlaubt, was dem erschöpften Krebspatienten hilft. Neben dem Anspruch auf einen dreiwöchigen Reha-Aufenthalt können künstlerische Therapien, Entspannungsübungen bis zu Ergo- und Physiotherapie verschrieben werden“, erklärt Gaiger. Körperliche Aktivität nimmt aufgrund der Reduktion der Rück-fallswahrscheinlichkeit einen besonderen Stellenwert ein.

Zwischenmenschliche Beziehungen

Ein Karzinom beeinträchtigt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Laut Selbstangaben der Betroffenen erhalten 39 Prozent von einem Freund Zuwendung für die Lösung von Problemen, 33 Prozent von Familienmitgliedern, 30 Prozent von anderen Krebsüberlebenden und nur 28 Prozent vom Partner.

Ein Drittel der Betroffen erlebt Unterstützung in der Partnerschaft; bei einem weiteren Drittel führt die Diagnose „Krebs“ zum Scheitern der Beziehung.


Österreichischer Krebsreport 2021

Zwischen 1983 und 2018 wurden im Österreichischen Krebsregister rund 1,306 Millionen Krebs-Neuerkrankungen bei rund 1,212 Millionen Menschen mit einem Hauptwohnsitz in Österreich verzeichnet. Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen stieg in den vergangenen zehn Jahren von rund 39.000 auf mehr als 42.000. Fast 35 Prozent erkranken im Lauf ihres Lebens an einem Karzinom. Bei den unter 45-Jährigen sind 2,5 Prozent betroffen. Bis zum 60. Lebensjahr erhält jeder Neunte die Diagnose Krebs. In Österreich sind knapp 3.000 Personen unter 45 Jahren sowie knapp 12.000 Personen unter 60 Jahren betroffen.

Die Überlebenswahrscheinlichkeit steigt seit Jahren kontinuierlich. 25 Prozent der Personen leben nach der Diagnose Krebs länger als 15 Jahre.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2022