Kopfschmerz: Diagnose als Basis

15.07.2022 | Medizin

Für die rasche klinische Unterscheidung zwischen primären und sekundären  Kopfschmerzen haben sich die SNNOOP10-Kriterien bewährt. Damit können Hochrisiko-Merkmale und mögliche zugrundeliegende Erkrankungen erfasst werden. Die richtige Diagnose stellt die Basis jeder Behandlung dar.

Irene Mlekusch

Bis zu 30 Prozent der Patienten suchten wegen Kopfschmerzen eine Notfallambulanz auf, berichtet Assoz. Prof. Gregor Brössner von der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Der überwiegende Anteil der Kopfschmerzen lässt sich den primären Kopfschmerzen zuordnen. „Migräne ist eine ernstzunehmende Erkrankung mit neurobiologischer Grundlage, die in der Global Burden of Disease Studie 2019 an zweiter Stelle steht“, erklärt Brössner. Eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung mit grundlegend orientierendem neurologischen Status im Hinblick auf sogenannte „red flags“ als Warnsignale sollte es ermöglichen, primäre von sekundären Kopfschmerzen zu differenzieren. Brössner macht klar: „Die richtige Diagnose ist die Basis jeder Behandlung.“

 

Für die rasche klinische Unterscheidung zwischen primären und sekundären Kopfschmerzen haben sich in der Praxis die SNNOOP10-Kriterien bewährt, um Hochrisiko-Merkmale und mögliche zugrunde liegende Erkrankungen zu erfassen. „Je mehr der SNNOOP10-Kriterien erfüllt sind, umso eher handelt es sich um einen sekundären Kopfschmerz“, weiß Brössner. Priv. Doz. Franz Riederer von der 2. Neurologischen Abteilung an der Klinik Hietzing in Wien verweist darauf, dass die SNNOOP10-Liste nach klinischen Erfahrungen zusammengestellt wurde und evidenzbasierte Publikationen zu den Warnsignalen bei Kopfschmerzen noch Gegenstand der aktuellen Forschung sind. Die Risikoabschätzung mittels SNNOOP10-Liste umfasst unter anderem systemische Symptome, neurologische Symptome, den Beginn der Schmerzen, das Alter des Patienten und dessen Vorgeschichte.

Bei Kopfschmerzen, die plötzlich einsetzen und innerhalb einer Minute so stark wie noch nie werden, wie der Patient es beschreibt, mahnen beide Experten zur Vorsicht. Diese werden als Donnerschlag- oder Vernichtungskopfschmerz bezeichnet und sollten so rasch wie möglich – je nach Verfügbarkeit mittels Schnittbilddiagnostik – abgeklärt werden. Die wichtigste Differentialdiagnose stellt eine Subarachnoidalblutung dar, gefolgt von Dissektionen der hirnversorgenden Arterien, reversiblem zerebralem Vasokonstriktionssyndrom (RCVS), intrazerebralen und zerebralen Blutungen sowie einem akuten Engwinkelglaukom. Etwa acht bis elf Prozent der Patienten mit Donnerschlag-Kopfschmerzen leiden an einer Subarachnoidalblutung. Zusätzlich zu den starken anhaltenden Kopfschmerzen findet sich bei einer Subarachnoidalblutung ausgeprägter Meningismus. Im weiteren Verlauf können Übelkeit und Erbrechen hinzukommen sowie eventuell fokalneurologische Defizite mit oder ohne Bewusstseinsstörung. „Manchmal gehen einer Subarachnoidalblutung Kopfschmerzen voraus, denen oft keine Beachtung geschenkt wird“, sagt Brössner.


Kopfschmerzen in der Schwangerschaft und Stillzeit

Obwohl bei Schwangeren und Stillenden primäre Kopfschmerzsyndrome vorherrschen, sind auch sekundäre Ursachen möglich. Eine Präeklampsie sollte bei Schwangeren mit Kopfschmerzen über der 20. SSW ausgeschlossen werden, wobei eine Überlagerung mit einem posterioren reversiblen Enzephalopathie-Syndrom möglich ist. Weniger häufig in der Schwangerschaft sind Kopfschmerzen aufgrund einer Sinusvenenthrombose, eines Hypophysenapoplex und RCVS. Sinusvenenthrombosen treten eher postpartal auf. Starke Kopfschmerzen beim Aufstehen post partum können durch postpunktionelle Kopfschmerzen begründet sein aufgrund einer Spinalanästhesie oder durch eine spontane intrakranielle Hypotension bedingt durch das Pressen während der Entbindung.


Ebenfalls rasch abgeklärt werden sollten den Experten zufolge Kopfschmerzen mit neuen fokal-neurologischen Defiziten mit oder ohne Bewusstseinstrübung. „Ein Horner-Syndrom oder auch diskretere Zeichen finden sich oft bei Carotis- oder Vertebralisdissektionen“, gibt Riederer zu bedenken. Und weiter: „Andere fokale Zeichen umfassen Paresen, epileptische Anfälle und Verwirrtheit.“ Das Horner-Syndrom tritt bei circa 40 Prozent aller Carotisdissektionen und bei 13 Prozent der Vertebralisdissektionen auf. Weitere Ursachen für Kopfschmerzen mit fokalneurologischen Ausfällen können bei sich rasch entwickelnder Symptomatik außerdem intrazerebrale Blutungen, zerebrale Ischämien oder in seltenen Fällen ein Gehirntumor sein. Schreitet die Symptomatik progredient voran und geht gegebenenfalls mit epileptischen Anfällen einher, spricht das eher für eine intrakranielle Raumforderung oder Blutung, eine Sinusvenenthrombose oder einen entzündlichen Prozess wie Enzephalitis oder Vaskulitis. Bis zu 15 Prozent der Patienten mit Sinusvenenthrombose klagen aber auch über Vernichtungskopfschmerzen. Brössner empfiehlt die Abklärung von Patienten mit Kopfschmerzen und Wesensveränderungen mittels MRT im Hinblick auf einen Tumor. Kopfschmerzen und Verwirrtheit können auch im Rahmen einer Hypoglykämie entstehen. Aber auch bei Migräne-Patienten können sich reversible fokal-neurologische Defizite finden. Riederer wiederum weist darauf hin, dass auch diese Patienten zusätzlich einen sekundären Kopfschmerz haben können und sorgfältig abgeklärt werden müssen.

Vorgehen beim Notfall

Kopfschmerzen und Fieber gelten bei zusätzlich vorhandenem Meningismus, unter Umständen verminderter Vigilanz und/oder fokal-neurologischen Defiziten als Notfall und bedürfen einer raschen Diagnose mittels Bildgebung und Lumbalpunktion und einer empirischen antibiotischen Therapie. Vorangegangene extrakranielle Infektionen wie zum Beispiel eine Sinusitis oder Otitis können hinweisend für eine Meningitis oder Enzephalitis sein; petechiale Einblutungen besonders an den Akren bei einer Meningokokken-Infektion.

Bei Kopfschmerzen, die nach körperlicher Anstrengung wie Valsalva, Geschlechtsverkehr oder Training auftreten können, kann eine intrakranielle Blutung, eine Carotisdissektion oder ein RCVS (Reversibles zerebrales Vasokonstriktions-Syndrom) zugrunde liegen. Beim RCVS kommt es zu einem rezidivierenden Vernichtungskopfschmerz, der ein bis drei Stunden anhält und danach als dumpfer Dauerkopfschmerz bestehen bleibt. Die in den darauffolgenden Tagen auftretenden Rezidive erfolgen entweder spontan oder werden durch körperliche Anstrengung, Aufregung, Drogen oder andere Substanzen provoziert.


SNNOOP10-Kriterien

S = systemische Symptome wie Fieber
N = Neoplasie in der Anamnese
N = neurologische Symptome wie Meningismus oder fokal neurologische Defizite
O = plötzlicher Beginn der Kopfschmerzen – „onset“
O = ältere Patienten über 50 Jahre – „old“
P10 = neue Kopfschmerz-Charakteristika „pattern“, Körperposition „positional headache“, ausgelöst durch Anstrengung „precipitated“, Papillen ödem, Progression, Schwangerschaft „pregnancy“, schmerzhaftes Auge „painfull eye“, posttraumatisch, Pathologie des Immunsystems und Medikamentenübergebrauch „painkillers“.


Über 50-Jährige, bei denen Kopfschmerzen erstmals auftreten, erfordern laut den beiden Experten „besondere Aufmerksamkeit“. In dieser Altersgruppe kann auch die progressive Verschlechterung eines bestehenden Kopfschmerzes auf Blutungen, intrakranielle Raumforderungen oder eine Riesenzel-arteritis hindeuten. Weitere Ursachen für Kopfschmerzen bei über 50-Jährigen können eine Trigeminusneuralgie, Herpes zoster, primär schlafgebundener Kopfschmerz und ein primärer  ustenkopfschmerz darstellen. „Auch Kinder unter sechs Jahren mit neuen Kopfschmerzen sind verdächtig“, erklärt Riederer. Kleinkinder mit Kopfschmerzen leiden häufiger unter viralen Infektionen. Des Weiteren haben Patienten mit Immunsupression, HIV, Drogenkonsum und bei Einnahme von oralen Antikoagulanzien ein erhöhtes Risiko für intrakranielle Erkrankungen beziehungsweise Blutungen.

Auch die Therapie von Kopfschmerzen kann Kopfschmerzen verstärken. Riederer verweist dabei auf den Medikamentenübergebrauch-Kopfschmerz, der bei Verwendung von Triptanen bereits ab einer Einnahme von mehr als zehn Tagen pro Monat auftreten kann. „Diese Patienten bedürfen besonderer Präventionsprogramme zur Awareness“, fasst Riederer kurz zusammen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2022