Inter­view Univ. Doz. Sabine Schmal­dienst: „Weni­ger ist mehr“

26.09.2022 | Medizin

Emp­feh­lun­gen zur Ver­mei­dung von Über­dia­gnos­tik und Über­the­ra­pie wer­den im Rah­men der Initia­tive „Choo­sing wisely – weni­ger ist mehr“ erstellt. Unter die­sem Motto steht auch die Jah­res­ta­gung der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Innere Medi­zin Ende Sep­tem­ber in Salz­burg, wie Prä­si­den­tin Univ. Doz. Sabine Schmal­dienst im Gespräch mit Julia Fleiß informiert.

Das Gene­ral­thema der Tagung lau­tet ‚Choo­sing wisely – Weni­ger ist mehr‘. Was ver­steht man dar­un­ter? Dabei han­delt es sich um eine Initia­tive, die sich mit dem immer grö­ße­ren Ange­bot an The­ra­pien aus­ein­an­der­setzt und Emp­feh­lun­gen zur Ver­mei­dung von Über­dia­gnos­tik und Über­the­ra­pie aus­ar­bei­tet. Durch die Ver­füg­bar­keit von meh­re­ren The­ra­pien bei einer Erkran­kung wird der Arzt ver­lei­tet, alles aus­zu­pro­bie­ren und ein­zu­set­zen. Das betrifft alle Berei­che der Inne­ren Medi­zin und ist nicht immer zum Bes­ten des Patienten.

Was gibt es ganz gene­rell Neues in der Inne­ren Medi­zin? Pri­mär müs­sen wir die Innere Medi­zin als Gan­zes sehen und erken­nen, dass die Organ­sys­teme zusam­men­hän­gen. Es gibt einen so genann­ten ‚Cross-Talk‘ der Organe und neue The­ra­pie­mög­lich­kei­ten, die gleich meh­rere Organe posi­tiv affi­zie­ren. In der Dia­be­to­lo­gie etwa haben sich die SGLT-2-Hem­mer eta­bliert, die jetzt auch in einer kar­dio­lo­gi­schen und nephrolo­gi­schen Indi­ka­tion frei­ge­ge­ben sind. Der klas­si­sche Typ 2‑Diabetiker hat bei einer län­ge­ren Erkran­kung auch kar­diale und nephrolo­gi­sche Pro­bleme und kann so mit einer Sub­stanz­klasse umfas­send behan­delt wer­den. Dar­über hin­aus sind diese Medi­ka­mente jetzt auch spe­zi­ell nur für Herz­in­suf­fi­zi­enz oder aus­schließ­lich für Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz zuge­las­sen. Es geht also in Rich­tung maß­ge­schnei­derte The­ra­pie. Ein ande­res Bei­spiel sind GLP-1-Rezep­tor-Ago­nis­ten, die eben­falls pri­mär für die Dia­be­tes-Behand­lung ent­wi­ckelt wur­den, jetzt aber einen Stell­wert in der Adi­po­si­tas-Behand­lung haben, weil sie zu einem deut­li­chen Gewichts­ver­lust füh­ren. Zusätz­lich zei­gen sich bei dia­be­ti­schen Pati­en­ten auch posi­tive kar­diale und renale Effekte durch GLP-1-Agonisten.

Was ist das größte Pro­blem im Zusam­men­hang mit Adi­po­si­tas? Adi­po­si­tas bedeu­tet nicht nur, dick zu sein. Bei adi­pö­sen Pati­en­ten sind alle Organ­sys­teme betrof­fen. Unter­su­chun­gen bestä­ti­gen, dass es durch die patho­lo­gi­sche Ein­la­ge­rung von Fett­ge­webe in die ver­schie­de­nen Organe zur Über­be­las­tung und zu Dys­funk­tio­nen kommt. Der All­ge­mein­me­di­zi­ner sollte den Pati­en­ten direkt auf das Risiko anspre­chen, das er im wahrs­ten Sinne des Wor­tes mit sich her­um­trägt: näm­lich Fehl­funk­tio­nen von Lunge, Leber, Niere und Herz und natür­lich eine mas­sive Abnüt­zung der Gelenke.

Was ist zu tun? Erste Maß­nahme ist die Life­style-Modi­fi­ka­tion mit einer lang­fris­tig posi­ti­ven Ver­än­de­rung von Ernäh­rungs- und Bewe­gungs­ge­wohn­hei­ten. Wenn das nicht wirkt, muss man in Rich­tung baria­tri­sche oder meta­bole Chir­ur­gie den­ken. Ein Richt­wert dafür ist ein BMI von 35, wenn bereits Fol­ge­krank­hei­ten vor­lie­gen, oder ein BMI von 40, wenn noch keine Fol­ge­krank­hei­ten bestehen.

Was muss der Haus­arzt bei Nie­ren­er­kran­kun­gen beach­ten? Die Niere wird lei­der oft als Stief­kind behan­delt. Beim Scree­ning auf Vor­lie­gen von Nie­ren­pro­ble­men muss man zunächst die Nie­ren­funk­tion mit der eGFR und die Eiweiß­aus­schei­dung im Harn bestim­men. Wich­tig ist, dass man den Betrof­fe­nen spä­tes­tens ab einer eGFR von 60 ml/​min einem Spe­zia­lis­ten vor­stellt. Die­ser Wert weist auf den Ver­lust von bis zu einem Drit­tel der Nie­ren­funk­tion hin. Spä­tes­tens ab da sollte geprüft wer­den, ob es einer spe­zi­fi­schen nephrolo­gi­schen Dia­gnos­tik und The­ra­pie bedarf.

Bei der Jah­res­ta­gung gibt es auch ein ‚Kar­dio­lo­gie-Update‘. Worum geht es dabei genau? Hier wer­den die neuen Gui­de­lines der euro­päi­schen Gesell­schaft für Kar­dio­lo­gie prä­sen­tiert. Diese Emp­feh­lun­gen betref­fen etwa akute und chro­ni­sche Herz­in­suf­fi­zi­enz Herz­rhyth­mus­stö­run­gen oder das akute Koro­nar­syn­drom. Ein immer grö­ße­rer Bereich sind neue Devices der mecha­ni­schen Herz­un­ter­stüt­zung wie Mini-Schritt­ma­cher, neue inter­ven­tio­nell gesetzte Herz­klap­pen (TAVI) bis hin zum LVAD, dem links­ven­tri­ku­lä­ren extra­kor­po­ra­len Herzunterstützungssystem.

Ein Pro­gramm­punkt befasst sich mit der Frage ‚Was von COVID übrig bleibt‘. Es ist immer noch schwie­rig, zwi­schen Long-COVID, Burn­out oder Ermü­dung durch die Pan­de­mie per se zu unter­schei­den. Wich­tig ist es, Betrof­fene an spe­zi­elle Insti­tu­tio­nen zu über­wei­sen. Diese ver­fü­gen über Trai­nings- und Behand­lungs­pro­gramme, mit denen Long- und Post-COVID-Pati­en­ten wie­der ihre ursprüng­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit zurück­er­hal­ten. Seit Som­mer die­ses Jah­res gibt es orale Viru­sta­tika für akut an COVID Erkrankte: Pax­lo­vid und Lage­vrio. Diese Sub­stan­zen wer­den spe­zi­ell Risi­ko­pa­ti­en­ten ver­schrie­ben, die etwa an Dia­be­tes mel­li­tus, Adi­po­si­tas, Hyper­to­nie oder einer onko­lo­gi­schen Erkran­kung lei­den, oder aber Pati­en­ten, deren Immun­sys­tem geschwächt ist. Ziel ist es, den aku­ten Krank­heits­ver­lauf zu ver­kür­zen. Außer­dem kommt es dadurch zur Reduk­tion der Long-COVID-Probleme.

Sie sind Inten­siv­me­di­zi­ne­rin. Wel­che Neue­run­gen gibt es auf die­sem Gebiet? In der Inten­siv­me­di­zin beschäf­tigt man sich seit der Pan­de­mie wie­der ver­stärkt mit moder­nen und scho­nen­den Beatmungs­me­tho­den. Sie wer­den auch bei ande­ren Krank­heits­bil­dern ein­ge­setzt. Zuneh­mend ins Zen­trum rückt auch die Medi­ka­men­ten­spie­gel­mes­sung, da wir bei vie­len Pati­en­ten, die wir mit einer extra­kor­po­ra­len The­ra­pie behan­deln, keine genauen Dosie­rungs­an­ga­ben haben.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2022