Interview Daniel Weghuber: Adipositas bei Kindern: Breit angelegte Maßnahmen erforderlich

15.12.2022 | Medizin

Ein Kind mit Adipositas ist mit einem Risiko von 80 Prozent auch als Erwachsener davon betroffen. Es gilt, gegenzusteuern, sagt Univ. Prof. Daniel Weghuber von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg, und sieht hier die Akteure auf allen Ebenen gefordert, wie er im Gespräch mit Martin Schiller erklärt.

Rund 250.000 Kinder und Jugendliche in Österreich sind übergewichtig, 40.000 leiden an Adipositas. Welche Risiken und möglichen Folgeschäden lassen sich aus diesen Zahlen ableiten? Übergewicht und Adipositas entwickeln sich meist in den ersten Lebensjahren und werden zu einem großen Teil in die nächsten Stadien des Lebens mitgenommen. Kinder mit Adipositas haben ein 80-prozentiges Risiko, auch im Jugendalter und als Erwachsene davon betroffen zu sein. 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Adipositas haben Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen. Es kommt zu atherosklerotischen Veränderungen, die man bereits in der Kindheit nachweisen kann. Dabei ist das Gefäßendothel verdickt und die Gefäßelastizität herabgesetzt und von einer subklinischen Entzündung begleitet. Außerdem gibt es die orthopädische Komponente. Bei Kindern mit einer ausgeprägten Adipositas ist die Wahrscheinlichkeit für Knieschäden schon in sehr jungen Jahren deutlich erhöht. Es kommt zur Achsenfehlstellung der Beine. Dadurch wirken täglich mehrfach Scherkräfte auf das Gelenk. Bei vielen Jugendlichen ist deshalb eine Achsenkorrektur notwendig, noch bevor das Wachstum abgeschlossen ist.

Wie steht es um die Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen? Die Lebensqualität von Kindern mit starkem Übergewicht ist mit jener von Kindern mit onkologischen Erkrankungen vergleichbar. Oft bestehen große psychosoziale Probleme. Die Kinder werden stigmatisiert und sind daher in unterschiedlichem Ausmaß in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Natürlich gibt es auch selbstbewusste Kinder mit Adipositas, die psychisch nicht beeinträchtigt sind und vielleicht sogar einer sportlichen Aktivität nachgehen. Daher ist eine individuelle, differenzierte Betrachtungsweise wichtig, um zu eruieren, welche Kinder in welchem Maß an Folgeproblemen leiden.

Wie sieht es mit dem Risiko für Typ 1-Diabetes aus? Adipositas ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung. Sie hat das Potential, bei Kindern mit bereits manifestiertem Typ 1-Diabetes das ohnehin erhöhte Herz-Kreislauf-Risiko noch zusätzlich zu befeuern. Daraus lässt sich jedoch nicht automatisch ableiten, dass ein erhöhtes Risiko für Diabetes Typ-1 im Jugendalter besteht. Wahrscheinlich haben die Entzündung am Gefäßbett und die durch Adipositas ausgelösten metabolischen Veränderungen insgesamt einen Summeneffekt, der sich nachhaltig im Herz-Kreislaufsystem manifestiert.

Wie groß ist der Einfluss der Pandemie? Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen hat im Rahmen der COVID-19-Pandemie laut internationalen Studien deutlich zugenommen. Für Österreich wurde dies für den Zeitraum September 2019 bis März 2021 bei Volksschulkindern festgestellt. Aus diesem Grund sprechen wir mittlerweile von einer ‚doppelten Pandemie‘. Es braucht daher enorme Bemühungen, um gegenzusteuern.

Wo sehen Sie diesbezüglich die wichtigen Ansatzpunkte? Wir müssen bei der Verhältnisprophylaxe ansetzen. Wenn wir das Präventionsdenken auf die sehr wichtige tägliche Turnstunde reduzieren, werden wir der Komplexität des Themas nicht gerecht. Akteure auf allen Ebenen sind hier gefordert. Das beginnt auf der Mikro-Ebene Familie, setzt sich fort auf der Meso-Ebene des gesamten Umfelds, in dem Kinder aufwachsen und geht bis zum Makro-System Gesellschaft, in der die großen Entscheidungen getroffen werden. Es bräuchte beispielsweise eine Kennzeichnung von Lebensmitteln, die dem Konsumenten in aller Kürze erlaubt, gesundheitlich ungünstige von vorteilhaften Lebensmitteln zu unterscheiden. Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel sollte verboten werden. Außerdem müssen wir ganz grundsätzlich Qualitätsstandards in Bezug auf Ernährungskompetenz und Bewegung als Teil eines Gesamt-Curriculums vom Kindergarten an abstimmen. Bewegung sollte als Teil der Bildung verstanden werden.

Welche Entwicklungen hat es zuletzt bei der Therapie von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen gegeben? Vergangenes Jahr wurde mit Liraglutid ein GLP-1-Rezeptor-Agonist zugelassen, der eine neue Ära in der medizinisch-pharmakologischen Therapie der Adipositas eingeläutet hat. Es handelt sich um den ersten Wirkstoff, der zu einem klinisch bedeutsamen Effekt bei Adipositas führte. Liraglutid kann ab zwölf Jahren eingesetzt werden und senkt den Body-Mass-Index um rund fünf Prozent. Zum Vergleich: Mit Lebensstilmodifikationen erreicht man langfristig eine ein- bis zweiprozentige Senkung.

Sind Sie aktuell auch an entsprechenden Studien beteiligt? Eine Arbeitsgruppe meiner Abteilung war an einer internationalen Studie beteiligt. Die Ergebnisse der STEP-TEENS-Studie* wurden Anfang November 2022 veröffentlicht. Dabei konnte mit der einmal wöchentlichen Injektion von Semaglutid bei Jugendlichen mit Adipositas eine durchschnittliche Senkung des BMI um 17 Prozent im Vergleich zu Placebo erzielt werden. Wenn man sich nun vor Augen führt, dass eine Senkung von rund fünf Prozent notwendig ist, um eine Reversibilität der genannten Folgeerkrankungen von Adipositas zu erzielen, sieht man den großen Stellenwert dieser Ergebnisse. Allerdings sollte diese Therapie stets ergänzend zur Lebensstilmodifikation eingesetzt werden.

Wie lange muss Semaglutid angewendet werden? Die Dauer der Studie betrug 68 Wochen. Wir wissen derzeit aber noch nicht, welcher Anwendungszeitraum ideal ist. Da es sich bei Adipositas um eine chronische Krankheit handelt, vermindert sich der Effekt einige Zeit nach dem Absetzen. Wir müssen uns also noch einigen Fragen stellen, aber wir können den betroffenen Kindern und Jugendlichen endlich Hoffnung geben. Und damit ist der nächste Schritt bei der Bewältigung der Krankheit getan.

* STEP-TEENS-Studie: Weghuber D, Barrett T, Barrientos-Pérez M et al.. Once-Weekly Semaglutide in Adolescents with Obesity. N Engl J Med. 2022; Nov 2; DOI: 10.1056/NEJMoa2208601

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2022