Justiz & Medizin: Interview Christoph Grabenwarter – „Maßstab bleibt das Recht“

25.03.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofes, spricht im ÖÄZ-Interview über die gestiegenen Anforderungen an seine Institution und seinen persönlichen Umgang mit den Entscheidungen.

Wie stark muss sich der Verfassungsgerichtshof mit medizinischen Rechtsfragen befassen? Der Verfassungsgerichtshof muss sich in den letzten beiden Jahrzehnten vermehrt mit Fragen des Medizinrechts beschäftigen. Anfechtungen von Gesetzen mit zentraler gesellschaftspolitischer Bedeutung implizieren oft Sachfragen, die im medizinischen Bereich beheimatet sind. Denken Sie an die Frage der Fortpflanzungsmedizin, an die Frage der Beihilfe zum Suizid, an den Datenschutz im Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitsakte oder, seit 2020, an die vielfältigen Fragen in der Bekämpfung der Pandemie.

Es gibt den Vorwurf, der Verfassungsgerichtshof würde mit seinen Entscheidungen tiefgehend in die Gesellschaftspolitik eingreifen – man denke nur an die Entscheidungen zur Sterbeverfügung oder zum Recht unverheirateter Paare, Kinder zu adoptieren. Was antworten Sie auf solche Vorhaltungen? Wie bereits angesprochen: Der Verfassungsgerichtshof entscheidet Fragen mit gesellschaftspolitischer Relevanz, er entscheidet aber nicht nach politischen Maßstäben, sondern am Maßstab des Rechts, genauer gesagt der österreichischen Bundesverfassung. Man kann also sagen, der Verfassungsgerichtshof entscheidet Fragen mit Auswirkungen auf die Gesellschaftspolitik, er macht aber nicht selbst Politik. Sein Maßstab ist und bleibt das Recht.

Ist der Verfassungsgerichtshof in seinen Entscheidungen zu offensiv? Offensiv oder defensiv sind Kategorien des Mannschaftssports. Es gibt aber doch Entscheidungsmaximen, die ein Verfassungsgericht zur Zurückhaltung gegenüber der Politik mahnen. Dazu gehört die Anerkennung eines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums, die in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes seit Jahrzehnten unbestritten ist.

Gibt es VfGH-Entscheidungen, die Sie persönlich nicht mögen? Zu allen Entscheidungen, an denen ich mitgewirkt habe, habe ich das gleiche Verhältnis: Ich bin froh, dass die Entscheidung getroffen wurde, und ich hoffe, dass sie bei denen, die von ihr betroffen sind, möglichst hohe Akzeptanz findet. Ob ich in allen Fällen mit dem Ergebnis hundertprozentig einverstanden bin oder ob mir die eine oder andere Formulierung mehr oder weniger gut gefällt, ist dabei völlig unerheblich.

Wird der VfGH in letzter Zeit mehr gefordert als früher? Wenn ja, wie gehen Sie damit um? Ja, der Verfassungsgerichtshof ist heute sicher mehr gefordert als im Jahr 2005, als ich in das Kollegium des Gerichtshofes eingetreten bin. Das hat einerseits quantitative Gründe, im Jahr 2005 sind knapp 4.000 Beschwerden und Anträge eingegangen, im Jahr 2020 waren es fast 6.000. Zum anderen sind aber auch die Fragen und Sachverhalte schwieriger geworden. Dazu gehören die zunehmende Bedeutung des Europarechts, die Komplexität der Lebenssachverhalte und die Anforderungen neuer Zuständigkeiten wie jene über Untersuchungsausschüsse. Wir gehen damit so um, wie das ein Gericht tun muss. Zum einen wurden die Ressourcen vom Gesetzgeber vermehrt, insbesondere auch, um den gestiegenen Bedarf im Asylrecht abzudecken. Zum anderen haben wir in die Qualität der Mitarbeiter investiert. Ohne deren Hilfe wäre die Bewältigung dieses Arbeitspensums nicht möglich.

Mit wie vielen zusätzlichen Prüfungen war der VfGH während der Corona-Pandemie befasst? Wie konnte das abgefangen werden? Der Verfassungsgerichtshof war seit Beginn der Pandemie mit mehr als 600 Fällen befasst, die Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 betroffen haben. Knapp 500 davon haben wir erledigt (Stand Mitte Februar, Anm.). Im Augenblick sind etwa 150 Fälle anhängig. Wir haben zusätzliche Sitzungs­perioden eingeschoben, mehrere Richter haben Zusatzaufgaben übernommen, wir haben die Erledigung beschleunigt.

Rechnen Sie mit vielen Beschwerden aufgrund des Impfpflichtgesetzes? Was werden Sie tun, um die Belastung in Grenzen zu halten? Wir rechnen durchaus mit einer größeren Anzahl von Beschwerden. Eine genaue Zahl zu sagen, wäre nicht seriös. Eine zügige Behandlung der eingegangenen Beschwerden ist die wirksamste Maßnahme, um die Belastung in Grenzen zu halten.

Was sagen Sie zum Vorschlag der Möglichkeit eines sichtbaren Sondervotums, wenn ein Mitglied mit einer Entscheidung nicht einverstanden ist? Der Vorschlag eines Sondervotums ist gar nicht neu. Es gibt international Beispiele, wo das gut funk­tioniert. Für Österreich hat man das zuletzt im vergangenen Jahr diskutiert und viele, die sich an der Diskussion beteiligt haben, sind aus guten Gründen zum Ergebnis gekommen, dass diese Einrichtung zum System der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit einfach nicht passt. Wichtig ist es, dass ein Gericht mit einer Stimme spricht, damit die staatlichen Behörden, die Gesetzgeber und Regierungen auf Bundes- und Landesebene verlässlich wissen, an welchen Ausspruch des Gerichts sie sich zu halten haben.

Erleben Sie in letzter Zeit mehr Versuche der politischen Vereinnahmung? Tun Sie etwas gegen solche Versuche? Versuche einer politischen Vereinnahmung waren in letzter Zeit ebenso wenig erfolgreich wie in den weiter zurückliegenden Zeiten. Am besten ist es, wenn solche Versuche im politischen Feld erledigt werden. Nach meiner Auffassung geschieht das, auch die kritische und wachsame Begleitung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch unabhängige Medien ist hier sehr ­wichtig.

Verstehen Sie, dass sich Ärzte durch VfGH-Entscheidungen unter Druck gesetzt fühlen? Der Verfassungsgerichtshof möchte mit keiner seiner Entscheidungen auf irgendwen Druck ausüben. Insbesondere in den Entscheidungen über Pandemie­bekämpfungsmaßnahmen hat der Verfassungsgerichtshof seine bisherige Linie in der Grundrechtsprechung konsequent verfolgt. Er bringt die Nachteile von Maßnahmen für die Freiheit des Einzelnen in einer Abwägung mit den öffentlichen Interessen zum Ausgleich, insbesondere mit dem Gesundheitsschutz. Bei dieser Abwägungsentscheidung hat er die Interessen aller Betroffenen zu berücksichtigen, dazu gehören gerade in einer Pandemie auch die Angehörigen der Gesundheitsberufe, nicht nur die Ärzte und die Assistenten in den Spitälern und im niedergelassenen Bereich, sondern auch die Menschen, die in Pflege­­berufen arbeiten.

Was sagen Sie diesen kritischen Ärzten? Wenn dennoch Kritik an den Konsequenzen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bleibt, so kann dieser Kritik nicht im Einzelnen begegnet werden. Der Verfassungsgerichtshof kann sich nicht aussuchen, welche Fälle an ihn herangetragen werden. Er kann nur mit höchstmöglicher Qualität diese Anträge entscheiden, und zwar mit Qualität und Sorgfalt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 06 / 25.03.2022