Impfungen: Nachholbedarf für vollen Impfschutz

10.11.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Kriegswirren, Migrationsströme, pandemiebedingte Verzögerungen: Gründe für die Rückkehr von impfbaren Erkrankungen und für vorhandene Impflücken gibt es viele. Die Österreichische Ärztekammer hat in einer Pressekonferenz dazu aufgerufen, den Impfstatus durch den Arzt des Vertrauens zu prüfen, um vorhandene Lücken zu schließen.

Sophie Niedenzu

Zu einer guten Gesundheitskompetenz gehört im Sinne einer Gesundheitsprävention auch, den eigenen Impfstatus im Blick zu haben. In den vergangenen zwei Jahren sei primär die Eindämmung von SARS-CoV-2 im Vordergrund gestanden – und damit einhergehend die Corona-Schutzimpfung: „Andere Infektionskrankheiten sind dadurch eher in den Hintergrund gerückt“, sagte Maria Paulke-Korinek, Leiterin der Abteilung für Impfwesen, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, im Rahmen einer von der ÖÄK organisierten Pressekonferenz. Die Schutzmaßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie hätten nicht nur das Infektionsgeschehen von SARS-CoV-2 eingedämmt, sondern auch die Ausbreitung anderer Infektionskrankheiten, wie z.B. Influenza, verhindert: „Jedoch merken wir, dass andere Impfungen ebenfalls in den Hintergrund gerückt sind und hier ein großer Nachholbedarf besteht“, sagte Paulke-Korinek. Allen voran seien Masern ein großes Thema. Vor der Pandemie, 2019, seien in Österreich 140 Masernfälle dokumentiert worden, bis zum Lockdown 2020 wurden 25 weitere Fälle bekannt. Die Analyse der Masern-Durchimpfungsraten für 2021 habe gezeigt, dass die Zahl dokumentierter Impfungen um fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2020 zurückgegangen ist, wobei die Zahlen im Vergleich zu 2019 bereits 2020 rückläufig waren: „Das bedeutet in Zahlen, dass 2021 nur mehr 74 Prozent der Zweijährigen mit zwei Dosen gegen Masern geschützt sind und hier gerade bei den Jüngsten dringender Nachholbedarf besteht“, sagte Paulke-Korinek.

Trugschlüsse bei Impfungen

Auch bei Polio, wo sich die WHO-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet haben, diese Erkrankung weltweit auszurotten, seien die Durchimpfungsraten gesunken. Bei den Polio-Durchimpfungsraten, die bei Kleinkindern wegen dem Einsatz von Kombinationsimpfstoffen auch für Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Haemophilus und Hepatitis B herangezogen werden können, seien 2021 rund neun Prozent weniger Impfungen dokumentiert worden als im Jahr 2020. Bei den einjährigen Kindern wurden hier 2021 Durchimpfungsraten von nur 90 Prozent für die erste, und 83 Prozent für die zweite Teilimpfung beobachtet. Bei den 10-16-Jährigen seien rund 75.000 Kinder und Jugendliche nicht ausreichend immun gegen Polio, und somit auch gegen Diphtherie, davon seien rund 21.500 ungeimpft. Die Wichtigkeit hoher Durchimpfungsraten würden durch die Zusammenschau mit den epidemiologischen Entwicklungen unterstrichen: Im Frühsommer 2022 sei erstmals seit über 20 Jahren eine respiratorische Diphtherie gemeldet worden, die tödlich verlief. Seitdem wurden in Österreich mindestens 17 Fälle von Diphtherie gemeldet. Der letzte Fall von Polio ist in Österreich 1980 gemeldet worden, doch: „Wie rezente Ausbruchsgeschehen in London und New York zeigen, kann es jedoch durch Import von Polioviren bei unzureichenden Durchimpfungsraten rasch zu einem entsprechenden Infektionsgeschehen kommen“, warnte Paulke-Korinek. Gerade beim Kombinationsimpfstoff fehle das Bewusstsein, dass diese Impfung alle zehn Jahr aufgefrischt werden muss: „Ich merke es persönlich in meinem Umfeld, dass dann viele sagen: Das ist doch eine Kinderimpfung.“ Was FSME angehe, sei es ein Trugschluss zu glauben, dass die -Impfung in kälteren Zeiten kein Thema sei: „Zecken sind ab acht Grad Celsius aktiv und es gibt einen Bericht von einer FSME-Übertragung über eine Zecke im Christbaum“, schilderte die Impfexpertin. Heuer seien schon mehr als 180 Fälle an FSME in das epidemiologische Meldesystem gemeldet worden, mit weiteren beobachteten Fällen sei zu rechnen.

Diese Zahlen würden eindrucksvoll zeigen, dass im Bereich von Routineimpfungen großer Nachholbedarf bestehe. Vor der Pandemie seien die Durchimpfungsraten in Österreich generell auf zu niedrigem Niveau stabil gewesen und während der Pandemie vermutlich weiter gesunken, doch man dürfe keinesfalls vergessen, dass dank der Impfungen viele Krankheiten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vergessen wurden: „Sinkende Durchimpfungsraten können jedoch zu einem Wiederaufflammen vergessener Erkrankungen führen und dies gilt es unbedingt zu vermeiden“, sagt Paulke-Korinek.

Doppelinfektionen SARS-CoV-2 mit Influenza vermeiden

Was Influenza betrifft, sei derzeit nicht vorhersehbar, wie die Welle heuer verlaufen werde, betonte Monika Redlberger-Fritz vom Zentrum für Virologie an der Medizinischen Universität Wien. In Australien seien die Grenzen nach einer sehr langen Pause wieder geöffnet und die pandemiebedingten Hygienemaßnahmen vor dem Winter praktisch abgeschafft werden: „Daraus resultierte in Australien eine besonders frühe und auch sehr intensive Influenzawelle.“ Derzeit würden in Österreich bereits die ersten nicht importierten Influenzafälle nachgewiesen, was darauf hindeute, dass auch bei uns die Grippesaison früher als sonst starten könnte: Normalerweise gebe es die ersten nicht reiseassoziierten Influenza-Fälle ab Ende November oder Dezember, man müsse aber damit rechnen, dass eine Grippewelle diesmal vier bis sechs Wochen früher starten könnte: „Dementsprechend ist jetzt ein guter Zeitpunkt für die Impfung“, erläuterte sie. Über die klinischen Verläufe von Doppelinfektionen von SARS-CoV-2 mit Influenza oder auch anderen respiratorischen Viren wie z.B. RSV würden derzeit noch nicht ausreichend Daten vorliegen, da durch die pandemiebedingten Maßnahmen bisher die zeitgleiche Zirkulation dieser Viren verhindert wurde: „Man kann jedoch annehmen, dass Doppelinfektionen mit Influenza, anderen Viren oder Bakterien zu klinisch komplizierteren Verläufen führen und damit eine zusätzliche eine Belastung der Gesundheitssysteme darstellen könnten.“ Dadurch komme der Influenzaschutzimpfung, die für Kindern von sechs Monaten bis 14 Jahren gratis im Rahmen des Kinderimpfprogramms zur Verfügung stehe, auch in der kommenden Wintersaison wieder große Bedeutung zu. Das Gesundheitsministerium sei aktuell mit den Bundesländern gemeinsam darum bemüht, Impfungen und ihren Nutzen wieder vermehrt in den Mittelpunkt zu rücken. Unter anderem sei aus diesem Grund das öffentliche Impfprogramm für die Influenza-Impfung ab Herbst 2023 ins Leben gerufen worden: „Das ermöglicht uns, dass wir mit einer Influenza-Impfung mit minimalem Selbstbehalt für alle in der nächsten Saison starten – und zwar in allen Bundesländern einheitlich“, betonte Paulke-Korinek.

Impfstatus vom Arzt prüfen lassen

Rudolf Schmitzberger, Leiter des Referats für Impfangelegenheiten der Österreichischen Ärztekammer betonte einmal mehr, dass das Impfen nichts mit Parteipolitik oder Glauben zu tun hätte: „Es ist ein Problem, wenn ein grundursächlich wissenschaftliches Thema mit Empfindlichkeiten vermischt wird“, warnte er. Auch er betonte, dass es bei vielen Impfungen wichtig sei, den Impfstatus aktiv zu halten, da die Immunität nach einiger Zeit nachlasse: „Im Zweifelsfall sollte jeder bei seinem Arzt des Vertrauens abklären, ob Impflücken vorhanden sind und wann welche Impfungen aufgefrischt werden müssen.“ Im Zusammenhang mit der Pandemie wies er zudem darauf hin, dass neben den Impfungen auch andere Maßnahmen nicht außer Acht gelassen werden sollten, etwa das Testen von vor allem symptomatischen Patienten, das Abwassermonitoring und das Tragen von Masken. Ebenso sollte jedoch auch nicht auf die Basishygiene vergessen werden, wie die korrekte Hand- und Hustenhygiene: „Eine bessere Hygiene schützt nicht nur vor Covid-19, sondern vor vielen anderen Erkrankungen“, betonte Schmitzberger.

Das grundsätzliche Ziel sei, das Bewusstsein für das Impfen in der gesamten Bevölkerung zu stärken. Dazu gehöre auch, die Jugendlichen an Bord zu holen. „Das Thema Impflücken soll durch die gesamte kalte Jahreszeit hindurch und über alle Bundesländer hinweg auf der Agenda stehen“, betonte Schmitzberger und verwies in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Fortbildungs- und Informationsmöglichkeiten, wie etwa den Österreichischen Impftag am 21. Jänner sowie den Niederösterreichischen Impftag am 15. April.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2022