BKNÄ: Kinder- und Jugendpsychiatrie – Krise als Chance

10.03.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die durch die Pandemie verursachte, ­massive Einschränkung der sozialen ­Kontakte hat besonders eine Gruppe psychisch schwer getroffen: Kinder und Jugendliche. Wo das Fach Kinder- und Jugendpsy­chiatrie heute steht und wohin es sich entwickelt, berichten Charlotte Hartl, bisherige Fach­gruppen­obfrau in der Österreichischen Ärztekammer, und ihr Nachfolger Helmut Krönke.

Thorsten Medwedeff

Der fehlende soziale Kontakt zu Gleichaltrigen, gesperrte Schulen, Sport- und Freizeitstätten und eingeschränkter Betrieb in Sportvereinen und anderen Gruppen, aber auch die Angst um die eigenen Eltern und Großeltern haben während der Krise zu einem Anstieg der seelischen Probleme bei Kindern geführt – mit fatalen Folgen: „Im kassenärztlichen Bereich betragen die Wartezeiten für eine kinderpsychiatrische Behandlung derzeit sechs Monate – und auch bei den Wahlärzten ist es nicht viel besser, dort sind es vier Monate“, schildert Helmut Krönke.

Das Beschämende an dieser Situation: Schon vor der Pandemie war das Hilfsangebot für Kinder und Jugendliche in psychischen Krisen in Österreich extrem gering – trotz der Forderungen der Österreichischen Ärztekammer, die in den Stellenplänen der Bundesländer erforderlichen Kassenstellen in diesem Bereich endlich zu erweitern. Geschehen ist bis dato zu wenig.

Visionen für ein brachliegendes Fach

Ein Problem, das Charlotte Hartl schon sehr lange kennt und das sie vor rund 15 Jahren erst dazu brachte, von der Kinderärztin zur Kinderpsychiaterin zu wechseln und sich quasi als Pionierin dieses brachliegenden Faches in Österreich anzunehmen: „Damals wurde mir klar, dass eine beträchtliche Zahl an Patienten in den Kinderabteilungen unter seelischen Erkrankungen leiden, die in meinem Heimatbundesland Niederösterreich, aber nicht nur dort, nicht adäquat versorgt wurden. Eine kleine Gruppe von Kollegen, insbesondere Hofrat Ernst Tatzer, war damals intensiv damit beschäftigt, für Niederösterreich eine intramurale, kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung vorzubereiten und umzusetzen.“

Es sollte aber bis 2012 dauern, ehe es gelang, in Niederösterreich die ersten vier Kassenplanstellen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie einzurichten. Hartl: „Heuer erst wird die Steiermark als vorletztes Bundesland mit einer Niederlassung beginnen, das Burgenland wartet weiter zu.“ Dennoch: Dass die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung überhaupt zur Kassenleis­tung geworden ist, ist auch Charlotte Hartl zu verdanken – das betonte auch Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, bei der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens an die Niederösterreicherin, die von 2007 bis 2020 in der ÖÄK als Fachgruppenobfrau tätig war. „Sie hat mit viel Herz für die Belange der Kinder- und Jugendpsychiatrie gekämpft“, sagte Szekeres in seiner Laudatio.

„Ohne die gemeinsamen Anstrengungen in der Österreichischen Ärztekammer wären zukunftsweisende Entwicklungen nie möglich gewesen“, betonte Hartl im Gegenzug. Ihr Ausblick: „Die Basis für die Zukunft des Faches ist gelegt. Schwerpunkte wie Spezialisierungen, Kooperation mit der Jugendhilfe sowie Psychologie, Psychotherapie und funktionellen Therapeuten sind Themen der Zukunft. Die Weiterentwicklung obliegt der nächsten Generation. Ich wünsche Helmut Krönke viel Kraft, Ausdauer und Durchhaltevermögen sowie kompetente Helfer, die seine Anliegen unterstützen.“

Es fehlen Raum, Zeit und Geld

Denn der Kampf ist noch nicht vorbei, die Situation weiterhin höchst angespannt. „Durch die massive Prävalenzzunahme im Rahmen der Pandemie hat sich die Lage sogar weiter verschärft“, betont Hartl. Und auch Krönke attestiert: „Wir haben nach wie vor generell zu wenig Ärzte, die im Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig sind und dazu trifft uns genau jetzt, da wir eigentlich wachsen müssten, eine Pensionierungswelle.“ Aber nicht nur das Personal an sich ist das Problem, es gibt auch, so die beiden Experten, zu wenig Infrastruktur: „Zu wenige Spitalsbetten, zu wenige Rehabilitationszentren oder Ambulatorien, die gut funktionieren“, lautet die Ist-Analyse.

Einen erfreulichen Lichtblick gibt es allerdings zu vermelden: Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein hat vor Kurzem auf den während der Coronakrise noch deutlicher sichtbar gewordenen Mangel an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche reagiert – um diesem zu begegnen, sollen nun mehr Ärzte in diesem Bereich ausgebildet werden. Künftig ist für die Kinder – und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin für jeweils zwei weitere Ausbildungsstellen immer nur ein Facharzt erforderlich. Somit besteht ein genereller Ausbildungsschlüssel von 1:2. Davor lautete er 1:1 bzw. es galt die Mangelfachverordnung.

„Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, meint Krönke, „aber das kann und darf nicht der einzige Lösungsansatz bleiben. Die Arbeitsbedingungen müssen generell verbessert werden, dazu zählt auch die Qualität der Ausbildung, das Vernetzen des niedergelassenen mit dem Spitalsbereich und das Initiieren von Lehrpraxen – und natürlich überhaupt mehr zusätzliche Kassenstellen. Und gleichzeitig muss es starke Anreize geben, um die Energie in die Ausbildung der Jungen investieren zu wollen. Kurz zusammengefasst: was fehlt, sind Raum und Zeit und Geld für die Ausbildung in unserem Fach, das ein sehr schönes ist, wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann. Und alle diese Pläne werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie über Jahre halten – eine Momentaufnahme mit kurzfristigen Systemveränderungen bringt nichts!“ Nur dann sei es möglich, die bestehenden Probleme zu lösen und auch, angehende Ärzte auch für das Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie begeistern und gewinnen zu können.

Win-Win-Situation für Arzt und Patient

Als extrem wichtig erachtet der neue Fachgruppenobmann der ÖÄK die erwähnte enge Vernetzung zwischen dem niedergelassenen und dem Spitalsbereich, die eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten darstelle: „Ich habe zum Beispiel während meiner früheren Tätigkeit im Spital gewisse Erkrankungen gar nie gesehen – diese habe ich dann im niedergelassenen Bereich kennengelernt und meine Erfahrungen damit gemacht“, schildert der Wahlarzt mit Sitz in Wien. „Davon profitieren Arzt und Patient gleichermaßen.“

Auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Ausbildung der nächs­ten Generation an Kinder- und Jugendpsychiatern im niedergelassenen Bereich starten sollte, muss evaluiert und bestimmt werden, so Krönke: „Optimal wäre aus meiner Sicht ein später Einstieg, sodass die jungen Kollegen bereits als vollwertige Assis­tenzärzte in der Praxis eingesetzt werden und mitarbeiten können. Das alles braucht Zeit, die auch meine Arbeitszeit ist, daher muss dieses Modell auch eine entsprechende Ausbildungsentschädigung beinhalten.“

Apropos Geld: Dass die Bundesregierung – wie kürzlich bei einer Pressekonferenz präsentiert – 13 Millionen Euro für das Projekt „Gesund aus der Krise“ und damit für einen besseren Zugang zu psychologischen Behandlungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Österreich, ausschütten wird, ist für Krönke nicht mehr als ein „Tropfen auf den heißen Stein. Es ist zwar generell erfreulich, dass überhaupt etwas getan wird, aber 13 Millionen sind fast ein bisschen zynisch angesichts des Riesenproblems, das wir hier zu bewältigen haben. Da werden umgerechnet rund sieben Euro für jedes Kind in Österreich investiert.“

Kindergesundheit im Fokus

Die Kindergesundheit ist generell ein großes Anliegen des gebürtigen Wieners und Familienvaters: „Dafür werde ich mich bei meiner Tätigkeit in der Österreichischen Ärztekammer einsetzen. Da geht es nicht nur um die Unterstützung bei seelischen Problemen, da geht es zum Beispiel auch um Bereiche der somatischen Medizin, wie etwa die erhöhte Prävalenz von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Jeder Euro, den wir in die Gesundheit unserer Kinder, aber auch in die Bildung, investieren, kommt tausendfach zurück. Diese Investitionen amortisieren sich in kürzester Zeit und helfen uns, unnötige Kosten im Gesundheitssystem, die durch vermeidbare Erkrankungen entstehen, zu verhindern. Da geht es um die von uns gelebte Solidarität den Jungen gegenüber – und wie wir diese aktiv angehen. Die Kindermedizin und unsere Kinder an sich müssen uns viel mehr wert sein als bisher.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 05 / 10.03.2022