BKAÄ: Interview Harald Mayer – Bewegte Zeiten

25.02.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, bilanziert im Gespräch mit Thorsten Medwedeff die aktuelle Funktionsperiode, die noch bis Ende Juni läuft – ein nicht nur von Corona bestimmter Rückblick und Ausblick.

Bevor Corona zum Top-Thema wurde, stand oft das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz im Fokus – wo stehen wir aus heutiger Sicht? Der mit der Regierung erzielte Kompromiss zur Verlängerung der Opt-Out-Regelung ist aus derzeitiger Sicht unerfreulich, weil Versprochenes nicht eingehalten wurde. Aber immerhin geht es endlich schrittweise in die richtige Richtung. Die durchschnittlich zulässige Arbeitszeit wurde für die nächsten vier Jahre auf 55 Stunden und dann für weitere drei Jahre auf 52 Stunden verlängert. Dies ist ein Eingeständnis der Politik, dass sie das Personalproblem in diesen Jahren nicht lösen können oder wollen. Dennoch müssen wir als Ärztekammer darauf achten, dass es eine Ausgewogenheit zwischen Arbeits- und Ruhezeiten gibt und die Arbeitsbedingungen in den Spitälern verbessert und Zusatzbelastungen des Personals, auch insbesondere durch unbesetzte Kassenstellen und Covid-19 generell, abgefedert werden.

Wie lässt sich die Situation verbessern? Grundsätzlich ist mehr Spitalspersonal notwendig. Jene neuen Dienstposten, auch als Vorleistung auf die drohende Pensionierungswelle, die wir als Ärztekammer immer wieder gefordert haben, wurden von den Ländern nicht geschaffen. Wir fordern auch seit Jahren, die generellen Arbeitsbedingungen zu verbessern und in die Ausbildung zu investieren. Geschehen ist leider nichts. Dabei liegen die To-Dos offen auf dem Tisch: Leistungsgerechte Entlohnung für Spitzenmedizin, bessere Karrierechancen, eine bessere Work-Life-Balance mit Teilzeit-Optionen, aber auch eine Ausbildungsoffensive.

Warum ist die Ausbildung so ein wichtiger Faktor? Die Ausbildung ist der Grundstein für eine gut funktionierende Versorgung. Wir haben bereits mehrfach den Start zu einer dringend notwendigen, qualitativen Ausbildungsoffensive gefordert. Aus den Startlöchern ist die Politik aber noch nicht herausgekommen. Ende 2021 wurde ja vom Bund ein 750-Millionen-Euro-Spitalspaket beschlossen. Das kann ich nur begrüßen, das Geld muss aber endlich dorthin fließen, wo unsere allerwichtigste Ressource liegt, zum Spitalspersonal. Gleichzeitig müssen die Ärzte von den enormen bürokratischen Aufgaben befreit werden, damit sie sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren können – nämlich Arzt zu sein. Wenn diese Punkte alle umgesetzt werden, wird es uns auch gelingen, die Ärzte zu motivieren, im Land zu bleiben und nicht ins Ausland abzuwandern. Eine gute Koordination ist hier unumgänglich, daher fordern wir auf jeder Abteilung, auf der ausgebildet wird, einen Ausbildungsoberarzt.

Was ist das zentrale Resultat der Ausbildungsevaluierungen der ÖÄK? 87 Prozent der auszubildenden Ärzte wären bereit, Österreich den Rücken zu kehren, wenn sie das Gefühl haben, dass die Ausbildungssituation im Ausland besser ist. Und dann knickt die Politik in einem Anfall von Machtrausch der Länder ein und beschließt eine Ärztegesetz-Novelle, entzieht der Ärztekammer die Kompetenzen in der Festlegung der Ausbildungsstellen und legt diese in die Hand der Länder, die jetzt mit Steuermitteln womöglich neun Parallelsysteme – ohne ärztliche Expertise – aufbauen werden. Die Patienten zahlen also doppelt drauf: für zusätzliche Kosten gibt es ein schlechteres System. Man macht hier den Bock zum Gärtner. Die Ärztekammer war stets der Garant für eine qualitätsvolle und unabhängige Kontrolle.

Welche Schritte wären hier dringend nötig? Wir betonen seit Jahren, dass Ärzte in Ausbildung nicht als Versorgungsposten betrachtet werden dürfen. Die Zeit muss genutzt werden, um ärztliches Wissen zu erwerben – und nicht, um Hilfsarbeiten auszuführen. Um mehr Personal für die Ausbildung einsetzen zu können, benötigen die Krankenhausträger aber mehr Budget. Für eminent halten wir – wie erwähnt – die Einführung eines Ausbildungsoberarztes an jeder Abteilung, an der ausgebildet wird. Die Ausbildung von Jungärzten ist kein Hobby, sondern eine Verpflichtung und Teil des ärztlichen Selbstverständnisses.

Was waren die Brennpunkte in der Corona-Pandemie? Der erwähnte Personalmangel in den Spitälern hat diese bis an den Rand der Überlastung gebracht. Insbesondere in der Pflege gab es eine hohe Fluktuation, aber auch in der Ärzteschaft sind die Zahlen dramatisch. In einer Umfrage mit rund 1.800 Personen zeigte sich mehr als die Hälfte emotional oder körperlich erschöpft. Wir haben eine extreme Arbeitsverdichtung und Belastung erlebt, es mussten wichtige Untersuchungstermine und Operationen verschoben werden. Aber trotz dieses Balanceakts war die Versorgung in den Spitälern zu jedem Zeitpunkt garantiert und auf Top-Niveau – diesen bisher größten Stresstest für das österreichische Gesundheitssystem haben wir mit Bravour bestanden.

Wie ist das gelungen? Durch enorme persönliche Kraftanstrengungen, aber auch durch eine großflächige Umstrukturierung der Spitäler: etwa mit eigenen Covid-19-Spitälern und Abteilungen, wodurch auch infektiöse besser von nicht-infektiösen Personen getrennt werden konnten. Ein wichtiger Faktor war auch das Arbeiten in Schichtbetrieben mit fixen Teams. Dadurch konnte verhindert werden, dass bei einer möglichen COVID-19-Infektion ganze Abteilungen ausfallen. Diese enormen Herausforderungen wurden dank persönlichem Einsatz und größtmöglicher Flexibilität herausragend gemeistert. Dafür möchte ich mich bei jedem Einzelnen aufrichtig bedanken. Der negative Beigeschmack ist, dass manche Kollegen Gehaltseinbußen, etwa wegen des Schichtdienstes, hatten. Das kann nicht der Dank für diese Flexibilität sein!

Was sind die Lehren aus der Pandemie? Wir konnten zeigen, dass unser Gesundheitssystem sehr gut funktioniert – die gewährleistete wohnortnahe Versorgung in Österreich hat vieles bereits abgefangen, die Spitäler konnten sich auf die akuten Corona-Fälle konzentrieren. Zudem hat sich die hohe Bettenkapazität in Österreichs Spitälern als unersetzliches Kapital erwiesen. Gut, dass wir dem abstrusen Wunsch diverser Gesundheitsökonomen, Spitalsbetten einzusparen und aufzulassen, nie nachgegeben haben. Noch vor einigen Jahren hatte sogar der Rechnungshof empfohlen, Betten auf Intensivstationen zu reduzieren – diese Meinung wurde inzwischen revidiert. Mit 29 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern stehen wir auch international sehr gut da, aber wir brauchen auch das Personal, das die Patienten auf diesen hochspezifischen Stationen fachgerecht und auf klinischem Top-Niveau betreuen kann. In der nun zwei Jahre langen Pandemie wäre genug Zeit gewesen, Personal umzuschulen, aufzustocken und Konzepte zu entwickeln, wie man das Personal hält. Hier hat die Politik geschlafen und nichts getan.

Experten glauben aber, dass die digitalisierte Medizin helfen wird, künftig im Gesundheitssystem zu sparen – was halten Sie davon? Manche Gesundheitsökonomen glauben dies tatsächlich und dass dadurch gleich mehrere Milliarden Euro übrig bleiben. Das ist aber in Wahrheit nur ein weiterer unbrauchbarer Versuch, bei hochqualifiziertem Personal zu sparen. Stellen Sie sich vor, dieser Einschätzung wären wir vor Beginn der Corona-Pandemie gefolgt! Aber die Telemedizin hat sich als sinnvolle Alternative erwiesen, um die Patienten etwa auch während der Lockdowns betreuen zu können. Dennoch sind den digitalen Möglichkeiten Grenzen gesetzt. Im Hinblick auf die Betreuung von chronisch Kranken, deren Anzahl aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft eher steigen wird, ist die digitale Betreuung aber eine wertvolle Ergänzung.

Wie kann man sich besser auf mögliche weitere Pandemien einstellen? Ganz wichtig ist es, europaweit gemeinsame Pandemiepläne zu entwickeln – und zwar auf Basis einer Stärken- und Schwächen-Analyse der Corona-Pandemie: Welche Maßnahmen waren erfolgreich, welche nicht? Nur eine wissenschaftlich fundierte Bestandsaufnahme mit detaillierter Fehleranalyse kann als Basis für Schutzmaßnahmen vor künftigen Pandemien dienen, um nicht erneut mit undifferenzierten Lockdown-Maßnahmen medizinische wie gesellschaftliche Verwerfungen zu riskieren. Eine der großen Lehren aus der Pandemie war auch, wie sehr die EU bei grundlegenden Medizinprodukten und Medikamenten von anderen Staaten abhängig war. Das Ziel muss es sein, in diesem Bereich unabhängig agieren zu können. Die Produktion muss dazu in die EU geholt werden. Nur dann kann Europa rasch auf Gesundheitskrisen reagieren.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 04 / 25.02.2022