Horizonte: Vom Isletin zum Insulin

15.07.2021 | Service

Vor genau 100 Jahren ist es zwei Kanadiern erstmals gelungen, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren. Das erstmals ohne Verdauungsenzyme hergestellte Hormon bezeichneten sie als Isletin. Rasch folgten die nächsten Schritte: die erste subkutane Injektion, industrielle Fertigung, semi­synthetisches und biosynthetisches Insulin sowie die langwirksamen Insuline.
Manuela-C. Warscher

Vor 100 Jahren betrug die Lebenserwartung eines Menschen mit Typ 1­Diabetes ab Diagnosestellung weniger als ein Jahr. Auch der etwas besser behandelbare Typ 2 Diabetes endete bei vielen Betroffenen fatal. In der Prä­Insulin­Ära waren ausgedehnte Hungerkuren das Mittel der Wahl für bereits geschwächte und abgemagerte Menschen mit Diabetes mellitus. Früher oder später fielen sie trotz aller Diäten in ein hyperglykämisches Koma und verstarben. Daher war die erste subkutane Injektion mit tierischem Insulin im Jahr 1922 eine medizinische Sensation. Doch weder die Ketose noch der Glukosewert des 14­jährigen Leonhard Thompson besserte sich nach der Gabe des tierischen Insulins. Vielmehr verursachte sie einen sterilen Abszess durch die darin enthaltenen Verunreinigungen. Erst zwei weitere Injektionen von qualitativ hochwertigerem Insulin ließen den Blutzucker von Thompson innerhalb von 24 Stunden von 520 auf 120 mg/dl fallen. Die erfolgreiche Behandlung von weiteren sechs Patienten folgte. Unter ihnen auch die elfjährige Elizabeth Hughes, die 1922 als erste Amerikanerin mit Typ 1­Diabetes durch Insulin gerettet wurde. Dieser ersten Injektion sollten bei Elisabeth Hughes 42.000 weitere folgen: Sie starb 73­jährig im Jahr 1981. Thompson verstarb 1935 im Alter von 26 Jahren an einer Pneumonie.

Leiden mit „Honigharn“

Zum Zeitpunkt, als die ersten Insulintherapien erfolgten, war Diabetes mellitus alles andere als eine unbekannte Krankheit. Schon seit mehr als 3.000 Jahren beschäftigten sich Ärzte mit dem Krankheitsbild, das sie früh als Leiden mit „Harn im Überfluss“ oder „Honigharn“ (1530 vor Christus) bezeichneten. Schließlich prägte Apollonius von Memphis um 230 vor Christus den Begriff Diabetes – aus dem altgriechischen Aus­ oder Durchfluss – für eine Krankheit, deren Verlauf der griechische Arzt Aredaios um 100 nach Christus als „furchtbares Leiden, unangenehm und schmerzvoll, der Durst unstillbar, der Tod unausweichlich“ beschrieb. Unklar war jedoch bis ins späte 19. Jahrhundert, welches Organ diese Symptome auslöste. Erst 1889 fanden die beiden deutschen Internisten Oskar Minkowski und Joseph von Mering heraus, dass die Entfernung des Pankreas bei Hunden Diabetes mellitus auslöst. Dabei stützten sie sich auf die Erkenntnisse von Johann Konrad Brunner, dem Entdecker des pankreopriven Diabetes mellitus. Brunner hatte zwei Jahrhunderte zuvor beobachtet, dass Hunde ohne Pankreas an extremen Durst und Polyurie litten. Allerdings erkannten Forscher erst nach der Jahrhundertwende, dass der Schlüssel zur Linderung der beschriebenen Symptome in einem Glukose­regulierenden Hormon namens Insulin liegt, das in den Betazellen des Pankreas produziert wird.

Frühe Therapie: massive Nebenwirkungen

Hormone sollten sich als zentrale Signalgeber im Stoffwechsel entpuppen. Ernest Starling war es, der 1902 nach Experimenten mit der Bauchspeicheldrüse einen Stoff der Magensäure entdeckte, den er Sekretin nannte. Diese Substanzen, die durch endokrine Drüsen ins Blut gelangten, um andere Organe zur Aktivität anzuregen, bezeichnete er genau wegen dieser Funktion mit dem aus dem Griechischen stammenden Begriff Hormon. Die Vermutung von Minkowski, dass eine vom Pankreas ins Blut sekretierte Substanz den Glukosestoffwechsel reguliert, bestätigte der französische Pathologe Gustave­Edouard Laguesse 1893, als er als Produktionsort die Langerhans’schen Inseln identifizierte. Auf dieser Entdeckung aufbauend schrieb 1900 Leonid Sobolew den Inseln eine Blutzucker­senkende Produktion zu. Daraufhin konnte der deutsche Internist Georg Ludwig Zülzer 1903 den ersten Ansatz einer Diabetes mellitus­Therapie mittels Bauchspeicheldrüsen­Extrakt entwickeln. Sein „Acomatol“ reduzierte den Glukosespiegel und erhöhte den pH­Wert im Blut. Durch die Gabe von Acomatol konnte 1908 sogar ein Patient im diabetischen Koma wiederbelebt werden. Die anfängliche Hoffnung in diese Behandlung wurde rasch getrübt: Die teilweise schweren allergischen Nebenwirkungen des Zülzer­Extraktes aufgrund der toxischen Verunreinigungen machten einen breiten Einsatz am Menschen unmöglich.


Insulin-Entwicklung

1889 – Minkowski/Mering entdecken den Zusammenhang zwischen Pankreas und Diabetes bei Hunden.
1893 – Laguesse vermutet, dass die Langerhans’sche Inseln die Quelle für das Insulin sind.
1907 – Züzler entwickelt das Pankreas-Extrakt ‚Acomatol‘
1921 – McLeod, Bantin, Best, Collip – isolieren Insulin und behandeln 1922 erstmals einen Menschen mit Insulin. Connaught Laboratories produzieren Insulin.


Insulin aus Rinderpankreas

Der Weltkriegs­-Veteran Frederick Banting und sein Assistent Georg Best entwickelten 1921 schließlich eine Methode, mit der die Produktion von Pankreas­Extrakten ohne störende Verdauungsenzyme gelang. Mit dem von ihnen als Isletin bezeichneten Hormon behandelten sie erfolgreich pankreatektomierte Hunde. Die Anwendung bei Menschen misslang jedoch zunächst. Dem Kanadier James Collip gelang letztlich der Durchbruch: Mit Hilfe eines speziellen Verfahrens konnte er Fremdeiweiß isolieren, wodurch der Einsatz beim Menschen möglich wurde. Bereits ein Jahr nach der ersten humanen Anwendung wurde Insulin erstmals industriell gewonnen, damals noch aus dem Pankreas von Rindern und Schweinen.

Connaught Laboratories starteten mit der industriellen Produktion von Insulin und zusätzlichen klinischen Testungen. Verbesserungen in der Verdampfungstechnik ermöglichten eine konstantere Insulinherstellung. Weitere industrielle Kooperationen befriedigten zwar den klinischen Bedarf an Insulin – allerdings bei sehr inkonsistenter Qualität. Die Patienten mussten daher engmaschig überwacht werden. In den nächsten Jahren konnten Erkenntnisse im Reinigungsprozess die Quantität des hergestellten Insulins beträchtlich steigern. 1925 produzierten bereits zwölf Pharmaunternehmen Insulin. Erst in den 1980er Jahren gelangte das erste semi­synthetische humane Insulin in die klinische Praxis; dem folgte Anfang der 1990er biosynthetisch hergestelltes. Schließlich erweiterte in den 2000ern das erste long­acting Insulin das therapeutische Spektrum.

Die Entdeckung des Insulins stellt bis heute eine der bedeutendsten Errungenschaften der Medizin dar. Banting und MacLeod vom gleichnamigen Labor in Toronto, wo die ersten Tierversuche durchgeführt wurden, erhielten dafür 1923 den Nobelpreis in Physiologie und Medizin.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2021