Interview: Forschung ist kein Zufall

27.09.2021 | Schwerpunkt Forschung

Als „großen Fortschritt“ bezeichnet der Rektor der Medizinischen Universität Wien, Univ. Prof. Markus Müller, die Präzisionsmedizin, die die Wissenschaft noch in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen wird. Ganz generell sei medizinische Forschung nicht planbar, aber auch kein Zufallsprodukt, sagt er im Gespräch mit Manuela-C. Warscher.

Was sind denn die Eckpfeiler einer erfolgreichen Forschung? Welche Rolle spielt die akademische Einrichtung dabei? Erfolgreiche Forschung ist nicht planbar. Doch die Universität oder die Forschungsinstitution kann die Rahmenbedingungen vorgeben, dass Talente zu ihren Erfolgen kommen können. Ein rezentes – äußerst beeindruckendes – Beispiel dafür ist die Entwicklung von BioNTech. Christoph Huber – ein österreichischer Onko-Immunologe – hat mit zwei Mitarbeitern vor zehn Jahren dieses Unternehmen gegründet. Allerdings war sein Thema nicht SARS, sondern die Onkologie. Auch Emmanuelle Charpentiers Entdeckung von CRISPR/Cas9, die an den Max Perutz Laboratories tätig war, und letztes Jahr den Nobelpreis erhielt, zeigt, dass wenig staatliche Unterstützung notwendig war, die Rahmenbedingungen stimmten und diese Erfolge, wie vieles in der Forschung, eben nicht linear planbar waren.

Das klingt, als wäre Forschung ausschließlich ein reines Zufallsprodukt. Nein, Forschung ist nicht der totale Zufall. Ergebnisse fallen nicht vom Baum. Man braucht natürlich eine Strategie und das Wissen über den Stand der Wissenschaft, die Forschungslücken oder den Forschungsbedarf. Im Fußball sagt man: Geld allein schießt keine Tore. Für die Medizin gilt: Man kann zwar Milliarden auf eine medizinische Fragestellung werfen. Es kann aber trotzdem nichts dabei rauskommen.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang Kooperationen mit der Pharmaindustrie? Es gibt eine Arbeit, die der Frage nachgegangen ist, wieviel Industrie-Kooperation denn vernünftig sei. Das Ergebnis: Medizinische Institutionen, die gar keine Industriekooperationen machen, sind in der Regel auch international nicht sehr renommiert. Warum? Weil auch die Industrie immer an der Front des Wissens sein muss. Kommt sie im akademischen Setting gar nicht vor, zeugt es davon, dass Academia ein praktisches Problem mit Innovation beziehungsweise Produktumsetzung hat. Auf der anderen Seite bedeutet ein Zuviel an Industriekooperation einen Rückschritt an Innovation, weil man Gefahr läuft, der verlängerte Arm der Industrie zu sein. Anders ausgedrückt: Es gibt einen optimalen Wirkungsgrad von etwa zehn bis 30 Prozent an Industrie-Drittmitteln am Gesamtbudget. Darunter hat man entweder ein Innovationsproblem oder man schafft die Translation nicht. Darüber ist die Unabhängigkeit der Forschung gefährdet. Die Medizinische Universität Wien liegt hier im optimalen Bereich.

Wie wird sich die Medizin Ihrer Ansicht nach in den nächsten Jahren verändern? Ich bin davon überzeugt, dass sich die Medizin in den nächsten zehn bis 20 Jahren sehr stark ändern wird. Die Berufsbilder werden sich aufgrund der Entwicklungen der molekularen und digitalen Forschung völlig modifizieren. Der ‚Deep Medicine‘-Ansatz – also die Entlastung der Ärzte durch Künstliche Intelligenz und ein neues Verhältnis von Patient und Arzt – wird die Medizin nachhaltig prägen. Sie wird stärker Daten-getrieben werden. Es wird einen Shift weg von einer Informations-‚seichten‘ zu einer Informations-‚tiefen‘ Medizin geben. Maschinen werden zwar am Ende des Tages viel an Arbeit übernehmen, doch das Positive – aus Sicht der Ärzte – daran ist, dass sie voraussichtlich wieder mehr Zeit für den Patienten haben werden. Die Mensch-zu-Mensch-Interaktion in der Medizin wird wieder dominieren. Das ist eine sehr versöhnliche Aussicht … die ich im Wesentlichen teile.

… im Wesentlichen – aber nicht völlig? Nun, bis zu diesem Zeitpunkt wird sich noch einiges tun. Nehmen wir das Beispiel ‚Labor‘: Vor 100 Jahren waren Labors voll mit Personen, die Handarbeit geleistet haben. Das gibt es heutzutage nicht mehr. Im Labor stehen heute riesige Maschinen, die einen enormen Probendurchsatz haben. Labors haben heute eine höhere Effizienz und generieren mehr Information als vor zehn Jahren, brauchen dabei aber weniger Personal. Man kann sich das extrapoliert auf die gesamte Medizin vielleicht heute nicht vorstellen, aber konnte man sich vor 20 Jahren das iPhone vorstellen? Das kam 2007 auf den Markt. Hätte 1995 jemand gesagt, Du wirst in ein paar Jahren das Internet jeden Tag in der Tasche haben, wäre diese Person wahrscheinlich als verrückt abgetan worden.

Gibt es für diese ‚Zukunftsszenarien‘ bereits Beispiele aus der Medizin? Ja, in den USA gibt es bereits zum Beispiel ‚Hospitals without Patients‘. Kein Mensch ist gerne im Spital. Daher müssten wir uns fragen, ob sie die Leistung, die Patienten heute im Spital erhalten, nicht auch woanders, idealerweise sogar zu Hause, bekommen könnten. Beispielsweise sind viele dermatologische oder ophthalmologische Leistungen heute bereits extramural abrufbar, obwohl sie bis vor wenigen Jahren primär intramural verfügbar waren. Das ist ein enormer Fortschritt, denn das bedeutet, dass Patienten unabhängiger und freier werden und sind.

Kommen wir konkret zur Präzisionsmedizin. Was liegt ihr zugrunde? Der Reduktionismus. Er ist das Programm der Medizin seit zumindest 300 Jahren. In anderen Worten: Die Idee, den menschlichen Körper auf immer kleineren Ebenen zu verstehen, treibt die Medizin. Bereits der französische Philosoph der Aufklärung, Julien Offray de La Mettrie, hat in seinem Buch L’Homme-Machine ( Maschine Mensch, 1748; Anm.) ein radikal materialistisches und letztlich in dieser Form unangenehmes Bild gezeichnet. Aber wenn man sich die Medizin der letzten Jahrhunderte vor Augen hält, hat dieser Ansatz der Reduktion phänomenal gewirkt. Man hat sich vom Großen bis zum immer Kleineren durchgearbeitet: vom Gesamtorganismus über die Organe, Zellen bis hin zu den Molekülen. Dadurch ist es gelungen, auf immer kleineren Ebenen ein immer tieferes Wissen zu erlangen.

Wie beispielsweise … das erste humane Genom-Projekt, das vor 20 Jahren vorgestellt wurde. Davon haben viele behauptet, dass es überhaupt nichts bringe. In Wahrheit stellte sich heraus, dass es die Basis für eine Wissensexplosion für viele neue Therapien war – also zum Beispiel die gesamte Hämatologie und Onkologie oder die Entzündungsforschung. Auch die rasche Bewältigung der Hepatitis C-Thematik ist darauf zurückzuführen. Als ich studierte, hieß sie noch Hepatitis ‘non A-non B‘. Man musste nicht einmal, was das genau ist. Heute ist das ein gelöstes Problem. All diese Errungenschaften waren nur möglich, weil man versucht hat, das Problem auf einer immer kleineren Ebene zu verstehen. Durch Gensequenzierung und die Molekularbiologie ist man schrittweise weg vom ‚one-size-fits-all‘-Prinzip hin zu einem viel differenzierteren Bild vom kranken Menschen gekommen.

Wo liegt nun der Unterschied der Präzisionsmedizin zu ähnlich lautenden Richtungen wie etwa der personalisierten Medizin? Auf die ‚empirische‘ Medizin folgte die ‚stratifizierte‘ beispielsweise mit der Zeit der großen kardiologischen Studien, der Statine und ACE-Hemmer und auf diese wiederum folgte die ‚personalisierte‘. Dieser Ausdruck ist allerdings irreführend, weil er individuelle Personalisierung voraussetzt. Es gibt tatsächlich Einzelfälle einer personalisierten Therapie wie die CAR-T-Zelltherapie. Ein meist besseres Bild bietet jedoch jedoch das der Präzisionsmedizin, also nicht auf ein Einzel-Individuum gerichtet, sondern auf eine kleine Gruppe, die für ihre Krankheit eine sehr zielgerichtete Therapie erhält. Das ist das große Programm der Medizin und es wird uns sicher noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Präzisionsmedizin eine Alleinstellung haben wird. Richtig. Es wird parallel zur Präzisionsmedizin immer die empirische Medizin geben. Es ist also keine ‚Alles-oder-Nichts-Frage‘, sondern eine Frage der Graduierung und des optimalen Wirkungsgrades. Ich denke, dass sich in vielen Therapiedomänen – allen voran in der Onkologie – der Fortschritt der letzten Jahre nochmals stärker durchsetzen wird und das große Ziel, maligne Tumor-Erkrankungen noch besser als bisher in den Griff zu bekommen, umgesetzt wird.

Was benötigt eine erfolgreiche Umsetzung der Präzisionsmedizin? Präzisionsmedizin basiert auf vier Ebenen: Zunächst braucht man dafür Hochdurchsatzverfahren auf molekularbiologischer Ebene wie Sequenzierung, Proteomics oder Bio banken zur Diagnostik. Auf deren Basis können Therapien entwickelt werden. In der Forschung kommen reduzierte Modelle wie humane Organoide dazu. Und schließlich braucht es eine ethische und gesellschaftliche Betrachtung von Präzisionsmedizin. Diese Ebenen sehen wir auf der Medizinischen Universität Wien als das große System der Präzisionsmedizin. Die Vision ist die Vereinigung der molekularen Präzisionsmedizin mit der digitalen ‚Deep Medicine‘.

… und von infrastruktureller Seite? Ab etwa 2025 stehen uns zwei neue Zentren für Präzisionsmedizin Translational Medicine und vermutlich auch für Technologie Transfer auf insgesamt rund 30.000 Quadratmetern am AKH-Campus zur Verfügung. Damit werden wir in Wien Präzisionsmedizin auf einem völlig anderen Niveau betreiben können. Hinzu kommt auch die Ausbildung künftiger Mediziner in unserem neuen Masterlehrgang Precision Medicine. Meine große Hoffnung ist es, dass wir auch als Universitätsstandort in diesem wichtigen Feld konkurrenzfähig bleiben. Wir haben jedenfalls dann am Standort AKH eine Infrastruktur, die uns im internationalen Wettbewerb noch sichtbarer machen wird.

Lässt sich der ökonomische und gesellschaftliche Wert der präzisionsmedizinischen Forschung ermessen? Die Methodologie wurde entwickelt, um zu bleiben – also unter anderem Datenanalyse oder Hochdurchsatzverfahren. Heute kostet ein Whole genome sequencing circa 100 Euro. Vor 20 Jahren bezifferte sich das Humane Genomprojekt auf drei Milliarden Dollar – also einen Dollar pro Basenpaar. Innovation wie die Präzisionsmedizin wird langfristig immer recht billig, wenn sie funktioniert. Sie wird nur zur Belastung, wenn sie sich nicht durchsetzt. Die Wahrscheinlichkeit sehe ich hier allerdings gegen Null.

Die Methodologie wurde entwickelt, um zu bleiben. Doch ist das vor allem hinsichtlich ihrer Verwendung in der Reproduktionsmedizin erstrebenswert? Selbstverständlich wird auch die Reproduktionsmedizin durch die neuen Technologien vor neue Herausforderungen gestellt. In China wurde erstmals mit CRISPR-Cas9 eine viel kritisierte nicht-somatische Intervention beim CCR5-Rezeptor durchgeführt. Die Keimbahn-DNA von Embryonen wurde mit CRISPR-Cas9 verändert, um sie gegen HIV immun zu machen. Damit werden empfindliche ethische und gesellschaftliche Entwicklungen berührt.

In welcher Form? Transhumanismus und Dataismus sind hier zwei gängige Gedankenkonstrukte. Transhumanismus möchte mit wirkmächtigen Therapien den Homo sapiens überwinden. Die Keimbahnintervention ist eine derartige Methode. Es geht nicht mehr um die Heilung oder Krankheitsvermeidung, sondern um die Optimierung des Menschen in allen möglichen Schattierungen.

Und beim Dataismus? Hier wird ein Avatar, eine digitale Kopie eines Organismus oder eines Organs, in den Mittelpunkt gestellt. Die grundlegende Idee ist, dass sich die Biologie vollständig digital als Information erfassen lässt.

Bedeutet das, dass Präzisionsmedizin keinerlei Grenzen hat? Nein. Bei vielen teilweise utopischen Entwicklungen spielt die Unsterblichkeitsphantasie eine Rolle. Das war bereits in der Antike der Fall. In der Aufklärung gelang der Übergang vom Mythos zum Logos und die Naturwissenschaften wurden bedeutsamer. Dennoch bleibt der Ur-Mythos des Menschen – die Unsterblichkeit oder das extrem hohe Alter – bestehen. Die Sehnsucht, unsterblich zu sein ist – wenn man so will – eine Form der Vergöttlichung des Menschen –  eben der ‚Homo Deus‘ von Yuval Harari.


Forschung in Wien

An der Medizinischen Universität Wien sind etwa 7.000 Mitarbeiter beschäftigt. Davon sind knapp 20 Prozent in der Administration tätig; 80 Prozent in Forschung, Lehre und Patientenbetreuung am AKH. Die Medizinische Universität Wien zählt damit zu den größten Institutionen in Europa. Die Forschung selbst ist in fünf Clustern organisiert, wobei Immunologie und Allergologie die stärkste Gruppe bilden. Immunologie, rekombinante Impfstoffe und die klinische Frage der Entzündungsforschung sind in diesem Cluster wichtige Themen. Derzeit ist auch die COVID-Forschung dominant.

Ein Viertel des Jahresbudgets – mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr – stammt aus Drittmitteln. Die Hälfte davon wiederum kommt aus Industrie-Drittmitteln.

Bei den Universitätsrankings liegt die Medizinische Universität Wien weltweit unter den Top 100 der Medical Schools. Die Universitätskliniken am AKH zählen zu den 30 besten Spitälern weltweit. Zum Vergleich: In Europa liegt die Medizinische Universität Wien unter den Top 25; unter den deutschsprachigen rangieren Zürich, Heidelberg und München – diese sind größenmäßig miteinander vergleichbar – vor Wien.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 /25.09.2021