Die Grenzen der High-Tech-Medizin

27.09.2021 | Schwerpunkt Forschung

Die personalisierte Medizin stößt an ihre Grenzen, wenn Diagnose und Therapie übersteigert eingesetzt werden. Modernste Verfahren werfen zahllose Fragen wie etwa zur Datenproduktion und Datenspeicherung auf. All diese Daten richtig zu interpretieren, stellt eine der Herausforderungen der High-Tech-Medizin dar.
Manuela-C. Warscher

Den Impfstoff gegen Polio, Pharmaka gegen M. Parkinson, Leukämie oder Mammakarzinom und nicht zuletzt COVID-19 Impfstoffe – um nur ein paar zu nennen – all das ist der 30-jährigen Afroamerikanerin Henrietta Lacks zu verdanken. Genauer gesagt, den Epithelzellen ihres Zervix-Karzinoms. HeLa-Zellen waren die ersten humanen Zellen, aus denen eine permanente Zelllinie etabliert werden konnte. Das war in den 1950er Jahren. Seither wurden mehr als 50 Tonnen HeLa-Zellen gezüchtet und mehr als 17.000 Patente, die auf Forschungsergebnissen mit HeLa-Zellen basieren, angemeldet. Allen anderen verfügbaren menschlichen Zelllinien zum Trotz gehört HeLa seit mehr als einem halben Jahrhundert zum primären Laborarsenal jedes biopharmazeutischen Unternehmens und Forschungseinrichtung.

Doch: Weder Lacks noch ihre Familie haben jemals die Einwilligung für die Verwendung der Zellen gegeben (siehe Kasten). Etwas, das heute unmöglich ist. Denn die Verwendung von humanen Zellen in der Forschung ist streng geregelt: Vor allem hinsichtlich der Individualinteressen sind die Prinzipien der Menschenwürde, das Instrumentalisierungsverbot, das Gewinnverbot und der Grundsatz der freiwilligen Einverständniserklärung (informed consent) maßgeblich. „Im Rahmen von Studien, in denen Biomarker erfasst werden, muss es den informed consent der Patienten geben. Erst dann dürfen Daten erfasst werden, üblicherweise nur jene, die sich auf den speziellen Tumor beziehen“, führt Christiane Druml von der Bioethikkommission aus. Und weiter: „Diese Daten müssen anonymisiert sein.“

Datenreiche Charakterisierung

Diese „datenreiche Charakterisierung“ des Patienten sei Bestandteil der Vision für die Präzisionsmedizin, bestätigt Univ. Prof. Barbara Prainsack vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. „Es sollen Genom-Daten, Proteom-Daten und Metabolom-Daten gesammelt, psychologische Informationen und außerdem auch noch der Lebensstil inklusive der sozioökonomischen Aspekte dokumentiert werden.“ Aus all diesen Informationen würde dann ein „digitaler Zwilling“ des Patienten geschaffen. Die umfassende Datensammlung soll in weiterer Folge die Grundlage für eine zielgerichtete Therapie innerhalb der Präzisionsmedizin sein. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sie häufig als Allheilmittel gesehen wird. Doch das Problem, das niemand leugnen könne – so Prainsack – sei, dass die in der Präzisionsmedizin verwendeten Daten primär aus der „weißen und reichen“ Bevölkerung stammen. „Das widerspricht aber dem Grundprinzip der Präzisionsmedizin, nämlich dass wir aus der molekularen und Diversität der Menschen, aber auch den unterschiedlichen Umwelteinflüssen Einsichten über die Entstehung, Entwicklung und Behandlung von Krankheiten gewinnen. Und andererseits gibt es kaum verwertbare Informationen, ob getestete Arzneimittel auch in anderen Populationen wirksam sind.“ Druml sieht das ähnlich: „Molekulare Marker ermöglichen eine maßgeschneiderte Therapie, die manchen nutzen, anderen nicht. Damit sind wir bei einer Gerechtigkeitsfrage. Wie kann ich alle Patienten einbinden? Wie definiere ich, wann der Nutzen durch neue Therapien zu gering ist?“ Wichtig sei daher, Präzisionsmedizin breiter zu denken und „soziale Ungleichheiten“ zum „Teil der Präzisionsmedizin“ zu machen und nicht nur „als demographische Kategorie zu sehen“, so Prainsack.


HeLa: Basis für Tausende Patente

Weder Klonen noch Genforschung, weder AIDS-Therapeutika noch der COVID-19-Impfstoff wären ohne die Zellen von Henrietta Lacks möglich gewesen. 1951 wurde bei der damals 30-jährige Afroamerikanerin und Mutter von sechs Kindern im Johns-Hopkins-Spital in Baltimore ein Zervix-Karzinom diagnostiziert, an dem sie noch im gleichen Jahr verstarb. Der damalige Leiter der Gewebekulturforschung, George Gey, erkannte allerdings sofort, dass die Zellen von Henrietta Lack dermaßen aggressiv und robust waren, wie er sie selten gesehen hatte. Es gelang ihm, eine Zelllinie zu kultivieren, die unter dem Namen HeLa bis heute tonnenfach reproduziert und die Basis für Tausende von Patenten ist. Die Schattenseite dieser medizinischen und kommerziellen Erfolge: Die Familie von Henrietta Lacks konnte sich zeitlebens nicht einmal eine Krankenversicherung leisten.

Lynch-Syndrom: erbliches Kolorektalkarzinom

Bei etwa drei Prozent aller Kolonkarzinom-Fälle liegt ein erbliches Dispositionssyndrom zugrunde (Lynch-Syndrom); auch bekannt als erblicher Darmkrebs ohne Polyposis (Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer; HNNPCC). Charakteristisch ist das frühe Auftreten von rechtsseitigen kolorektalen Karzinomen und Karzinomen im Endometrium, seltener im Nierenbecken, Dünndarm, Magen, in den Ovarien, Gallengängen, im Gehirn und in der Haut. Die Penetranz der Erkrankung liegt bei 80 bis 90 Prozent. Bislang sind vier veränderte Erbanlagen beim Lynch-Syndrom bekannt: MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2. Diese Mismatch-Reparatur-Gene tragen die Informationen, mit denen Proteine Fehler bei der Vervielfältigung der DNA reparieren können. „Diese Reparatur erfolgt normalerweise in allen Zellen“, führt Univ. Prof. Gerald Höfler vom Institut für Pathologie der Medizinische Universität Graz aus. Um das Tumorgewebe auf einen DNA-Reparaturdefekt hin zu untersuchen, kommen zwei Methoden zum Einsatz: einerseits die immun-histochemische Färbung und andererseits die Untersuchung auf Mikrosatelliten-Instabilität. Bei einem auffälligen Ergebnis wird die Mutationssuche in den entsprechenden Genen gestartet.


Daten verstehen

Eine Ungleichheit hat die Präzisionsmedizin bereits behoben: Seltene genetische Erkrankungen wurden in der Vergangenheit kaum diagnostiziert, weil die Untersuchung einer großen Anzahl von Krankheitsgenen bei genetisch heterogenen Erkrankungen nicht möglich war. Mit der Einführung von Hochdurchsatz-Verfahren wie Next Generation Sequencing (NGS) hat sich die Positivrate der Diagnosen erhöht, gleichzeitig aber auch Fragen zu Datenproduktion, Datenspeicherung, bioinformatischer Auswertung und medizinisch-genetischer Interpretation aufgeworfen. Whole Exome oder Whole Genome Sequencing kann heue problemlos durchgeführt werden – von technischer Seite. Allerdings: Die Bioinformatik ist noch nicht so weit, dass Daten rasch ausgewertet und erstellt werden könnten. „Wir haben beispielsweise aus wissenschaftlichem Interesse 20 hämato-onkologische Fälle zu Jahresbeginn nach Wien zum Whole Exome Sequencing geschickt. Die Analyse war nach zwei Wochen da, die detaillierte Auswertung läuft immer noch. Auch in Heidelberg wartet man auf einen derartigen Befund bis zu drei Monate“, erklärt Univ. Prof. Gerald Höfler vom Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Graz. Die Daten richtig zu interpretieren, sei eine der Herausforderungen der High-Tech-Medizin. „Daten sind nur hilfreich, wenn sie qualitativ hochwertig und gut interpretierbar sind, bestätigt Prainsack. „Genetische Daten können nicht wie ein Buch gelesen werden.“

Humane Tumore weisen eine Vielzahl an Mutationen in verschiedenen Genen auf, auch die Tumor-DNA verändert sich kontinuierlich, was zu Therapie-Resistenz-Mutationen führen kann. Werden diese Mutationen diagnostisch mittels Next-Generation-Sequencing-Gen-Tumor-Panels nachgewiesen, können sie Angriffspunkte für zielgerichtete Therapien sein. Gen-Tumor-Panels sind demnach zentral für die Präzisionsmedizin. Doch: Um überhaupt eine Genanalyse durchführen zu können, müssen Patienten entsprechend aufgeklärt und beraten werden. „Im Rahmen des Next Generation Sequencing werden je nach Tumorart bis zu 400 Gene analysiert und interpretiert. Allein in Graz werden mit dem größten Tumor-Gen-Panel jährlich Tumore von mehr als 150 Patienten analysiert“, betont Höfler.

Eine besondere ethische Herausforderung stellen hereditäre Tumore dar; die etwa fünf Prozent aller onkologischen Erkrankungen ausmachen. Von vielen sind die genetischen Ursachen nicht bekannt. Eine molekulargenetische Diagnostik für hereditäre Krebserkrankungen erfolgt über die Identifizierung der ursächlichen Keimbahnmutation in einer Familie. „Damit wird die Diagnose gesichert und eine prädiktive Diagnostik bei gesunden Familienangehörigen ist möglich“, sagt Höfler. Was aber stets bedacht werden muss, so der Pathologe, seien die weitreichenden Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse über die getestete Person hinaus. „Die Patienten geben vor dem Test die Zustimmung, so viele relevante Gene wie möglich zu sequenzieren, müssen aber stets bedenken, welche Relevanz das Ergebnis auch für Familienmitglieder haben kann.“ Bei hereditären Tumoren kann bei Nachweis einer Mutation viel gezielter Prävention beispielsweise durch eine erhöhte Frequenz an Vorsorgeuntersuchungen erfolgen – vor allem bei Kolonkarzinomen, sagt Höfler (siehe Kasten).

Gesellschaft ohne Gesunde

Die personalisierte Medizin stößt an ihre Grenzen, wenn Diagnose und Therapie übersteigert eingesetzt werden. Denn obzwar eine Daten-gestützte Medizin für Prävention, Diagnose und Therapie von Relevanz ist, bedeutet vor allem die disease interception, also das frühe Abfangen von Erkrankungen, einen Paradigmenwechsel. Anstelle der „Gesunden“ existieren dann in erster Linie Menschen mit angelegten Krankheiten. Die Folge: „Es gibt irgendwann in der Gesellschaft keine Gesunden mehr“, so Prainsack. Überdiagnose und Übertherapie wären dann zusätzliche Kostentreiber des Gesundheitssystems. „Mehrere weltweite Initiativen versuchen daher, medizinische Interventionen einzusparen, wenn sie nicht notwendig oder sogar schädlich sind.“ Mehr Therapieoptionen könnten aber auch zur Belastung der Patienten werden. „Aus derzeit laufenden Studien wissen wir, dass insbesondere Patienten am Lebensende zahlreiche Optionen nicht unbedingt als Vorteil empfinden und auch viele Behandler und Pfleger sehen das kritisch“, so Prainsack. Welche Auswirkungen die Verbreiterung der Behandlungsoptionen für Krebspatienten mit schlechter Prognose haben, hängt auch davon ab, wie das Gesundheitssystem organisiert ist: Wo viel privat bezahlt werden muss, kann eine zusätzliche Option, die vielleicht das Leben etwas verlängert, den finanziellen Ruin der Familie bedeuten. Letztlich aber müsse es darum gehen, dass „jede Therapie auch einen Nutzen hat“, betont Druml.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 /25.09.2021