Allgemeinmediziner als Schlüssel der Präzisionsmedizin

27.09.2021 | Schwerpunkt Forschung

Ziel der Präzisionsonkologie ist es, den Benefit zum Patienten zu bringen: nämlich den definierten Angriff auf zytologische Veränderungen oder gene­tische Strukturen. Voraussetzung dafür ist die molekulare Typisierung des Tumors und das Wissen der Allgemeinmediziner. Denn: Ihr Wissen ist der Schlüssel der künftigen Präzisionsmedizin.
Manuela-C. Warscher

Die Krebsinzidenz für Österreich wird bis 2030 laut Trend­ variante um 14 Prozent auf knapp 44.000 Neuerkrankungen an­ steigen. Allerdings wird die Mortalität dank des medizinischen Fortschritts um lediglich 16 Prozent zunehmen und nicht – wie aufgrund der demographischen Entwicklung zu erwarten wäre – um mehr als 38 Prozent. „Eine palliative Situation heißt nämlich nicht, dass dem Onkologen keine Optionen mehr zur Verfügung stehen, sondern vielmehr, dass wir mit unseren vorhandenen Therapien das Leben des Patienten bei bestmöglicher Lebens­qualität verlängern“, bestätigt Assoz. Prof. Armin Gerger von der Klinischen Abteilung für Onkologie der Medizinischen Univer­sität Graz. Bei vielen Tumorentitäten bedeute dies ein Überleben von mehreren Jahren bei stabiler Tumorlage und guter Lebens­qualität. Hemmen Zytostatika nämlich lediglich den übergeord­neten Zellzyklus oder die Zellteilung – ungeachtet dessen, ob es sich um Tumorzellen oder gesunde handelt ­, macht sich die Prä­zisionsonkologie den definierten Angriff auf zytologische Verän­derungen oder genetische Strukturen zunutze.

Vorreiter Hämatologie

Voraussetzung für eine erfolgreiche zielgerichtete Therapie ist die molekulare Typisierung der Tumore. Hier ist vor allem die Häma­tologie Vorreiter. „Wir haben ganze Genom­-Analysen durchge­führt und kennen diverse Mutationen und Antigene“, bestätigt Univ. Prof. Ulrich Jäger von der Klinischen Abteilung für Hämato­logie und Hämostaseologie der Medizinischen Universität Wien. Auf Grundlage der Genom­-Analysen habe man daher auch die Leukämie in „Subarten aufgespalten“, wodurch man heute von einer „Leukämie mit einer speziellen Mutation“ spreche. Beim metastasierenden kolorektalen Karzinom wiederum „ist neben der Tumorlokalisation der RAS­ und BRAF-­Status sowie der Mikrosatellitenstatus Therapie­entscheidend“ und werde „vor Beginn der Erstlinientherapie“ bestimmt, so Gerger. Eine umfas­sende Identifikation geeigneter Patienten durch Biomarker ber­ge zudem einen entscheidenden Vorteil: Die Wahrscheinlichkeit für eine Arzneimittelzulassung werde damit „um das Drei­ bis Vierfache“ erhöht, betont Gerger. Häufig kommen Antigene und Mutationen nämlich in zahlreichen Tumorentitäten vor, sodass Therapeutika auch übergreifend angewendet werden können – in der Regel allerdings off ­label. „Wir suchen nach Arzneimitteln, die unabhängig der Tumorentität wirken. In molekulare Tumor­boards wird entschieden, ob individuelle Therapien basierend auf Panel­-Analysen empfohlen werden“, so Gerger.

Der Großteil der neuartigen Monotherapien oder Kombina­tionen greifen auf immunologischer und molekularer Ebene ein. Dazu zählen Fusionen der neurotrophen Tyrosinrezeptorkinase (NTRK), Amplifikation von HER2 („human epidermal growthfactor receptor 2“) oder Checkpoint Inhibitoren. „In Studien sehen wir, dass die Überlebensrate von CLL­-Patienten unter einer Inhibi­toren­-Therapie deutlich gestiegen ist“, betont Jäger. Vor allem bei resistenten CLL­-Varianten (chronische lymphatische Leukämie) mit TP53­Mutationen, die auf Chemotherapie und Antikörper nicht adäquat ansprechen, habe man „plötzlich eine ähnlich gute Prognose wie bei günstigen Varianten“ (siehe Kasten).

Genfusionen bisher seltener erforscht

Tatsächlich wurden bislang Genfusionen aus chromosomalen Re­-Arrangements als molekulare Marker seltener erforscht als Punktmutationen, Punktdeletionen oder Punktamplifikationen, darunter auch neurotophe Tyrosinrezeptorkinase­-Gene (siehe Kasten). Grund dafür war lange Zeit der aufwändigere Nachweis; allerdings konnte hier unter anderem mit Parallelsequenzie­rungen gegengesteuert werden. „NTRK-Gene werden in verschie­denen Malignomen gefunden, wobei bei Kolon und Lunge diese Genfusion bei unter einem Prozent, bei der Schilddrüsen jedoch bei 40 Prozent liegt“, so Gerger. Am häufigsten finden sich NTRK­ Genfusionen bei Fibrosarkomen bei Kindern, wo sie zwischen 90 bis 100 Prozent der Fälle der Auslöser der Erkrankung sind.

TRK-Inhibitoren: hohe Response-Rate

TRK­-Inhibitoren wirken unabhängig von der Lokalisation des Tumors oder dem histologischen Typus. „Sie werden tumor­agnostisch eingesetzt und zeigen eine 80­prozentige Response Rate“, fasst Gerger zusammen. 2019 ließ die Europäische Arznei­mittelagentur Larotrectinib als ersten präzisionsonkologischen Wirkstoff mit Tumor­unabhängiger Indikation zur Behandlung von Erwachsenen und Kindern mit soliden Tumoren mit einer NTRK­-Genfusion zu. Im Jahr darauf kam der Tyrosinkinase­ Inhibitor Entrectinib für die Erstlinientherapie von nicht­klein­zelligem Lungenkrebs auf den Markt. „Weltweit wurden ungefähr 180 Patienten in unterschiedlichen Studien mit NTRK-­Inhibi­toren behandelt“, so Gerger. Und weiter: „Das ist die Strategie, die wir in der Onkologie verfolgen: Den klinischen Benefit zum Pati­enten bringen.“

Spitze der Therapie

Neben Tumoren mit NTRK­-Genfusionen kommen Tumore mit hochgradiger Mikrosatelliteninstabilität (MSI­H, siehe Kasten rechts) oder einem DNA-­Reparaturdefekt (siehe Kasten rechts) für eine Immuntherapie in Frage. Für Patienten mit MSI­H ste­hen seit einigen Jahren die Antikörper Nivolumab und Pem­brolizumab zur Verfügung; vor allem beim malignen Melanom, Hodgkin­-Lymphom oder fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom steigt die Lebenserwartung um viele Monate. Doch Tumore ha­ben Strategien entwickelt, um der Immunreaktion zu entkom­men, indem sie beispielsweise keine MCH­(HLA­) Moleküle oder Tumor­assoziierten Antigene exprimieren. Hier setzt „die Spitze der momentanen Entwicklung“ an, erklärt Jäger: die CAR­T­-Zell­therapie (siehe Kasten rechts). „Wo wir vorher Antikörper hatten, haben wir jetzt ein lebendes Arzneimittel, das im Unterschied zu Antikörpern, die alle vier Monate verabreicht werden müssen, einige Jahre im Körper lebt, sich fortpflanzt und zirkuliert.“ Der große Wermutstropfen: CAR­T­-Zelltherapien kommen kaum bei soliden Tumoren zum Einsatz. „Bei diesen Tumoren sind sie noch nicht besonders erfolgreich, auch bei myeloischen Erkrankungen nicht“, so Jäger. Der Grund: Leukämien und Lymphome sind für Immunzellen gut zugänglich; in den soliden Tumoren hingegen nicht. Als „realistisches Setting“ könne hier laut Jäger der Tumor mit Chemo­ oder Inhibitoren­-Therapie möglichst klein gemacht und dann mit Zelltherapie konsolidiert werden.

Ambulante CAR-T-Zelltherapie

Seit heuer werden CAR­T-­Zelltherapien auch ambulant durchge­führt. Möglich ist, dass in den kommenden Jahren die Hälfte aller Patienten ambulant behandelt werden soll. „Voraussetzung ist, dass der Patient weniger als eine Stunde vom Spital entfernt zu Hause ist“, sagt Jäger. Das bedeute allerdings, dass der Allgemein­mediziner ab einem bestimmten Zeitpunkt zur Unterstützung des Zentrums verstärkt eingebunden wird. Das sei „ein „strate­gisch grundsätzlicher Punkt“ – vor allem, da es lediglich wenige niedergelassene Hämato­-Onkologen in Österreich gebe. Bereits heute müssen Allgemeinmediziner mit den spezifischen Neben­wirkungen neuartiger Präzisionstherapeutika vertraut sein. „Es ist ein anderes Spektrum, das man kennen muss. Eines, das der Allgemeinmediziner mit­managen könnte“, so Jäger. Daher müsse er in die weiteren Entwicklungsschritte der Präzisionsonkologie „massiv eingebunden“ werden, denn er kenne die Liste der Arz­neimittel seiner Patienten am besten. Die Berücksichtigung von Co-­Medikationen und Co­-Morbiditäten sind die nächsten wich­tigen Meilensteine im Ausbau der personalisierten Medizin be­ziehungsweise der Präzisionsmedizin. „Es ist der Allgemeinmedi­ziner, der hier beispielsweise künftig den onkologischen Patienten mit Diabetes mellitus behandeln und ihn auf ein neues Antidia­betikum einstellen muss, das möglicherweise Interaktionen her­ vorruft. Das Wissen der Allgemeinmediziner ist ein Schlüssel der künftigen Präzisionsmedizin“, ist Jäger überzeugt. Gezielte Fortbil­dungen, die darauf ausgerichtet sind, die unterschiedliche Wirk­weise von Arzneimitteln oder die unterschiedliche Clearance bestimmter Antikörper bei Männern und Frauen zu vermitteln, seien so Jäger in Kursen immer rasch ausgebucht.


TP53-Mutationen

Das Tumorsuppressorprotein TP53 ist ein Transkriptionsfaktor, der DNA-Reparaturmechanismen und die Apoptose aktiviert. Daher können Tumorzellen der Apoptose entweichen, wenn eine TP53-Mutation inaktiviert ist.

Management von Nebenwirkungen

Checkpoint-Inhibitoren (anti-PD-1, anti-PD-L1, Anti-CTLA-4) führen bei bis zu 96 Prozent der Patienten aufgrund der Aktivierung des Immunsystems zu autoimmunen Nebenwirkungen des Organsystems. Zwischen 17 und 59 Prozent der Patienten erleiden Nebenwirkungen, die als schwer und lebensbedrohlich einzustufen sind. Die häufigsten betreffen die Haut, Kolon, Leber und Endokrinopathien.

Mikrosatelliteninstabilität

Mit dem Begriff „Mikrosatelliteninstabilität“ (MSI, MSI-H, MSI-high) werden Abweichungen in der Zahl kurzer, sich wiederholender Erbgutabschnitte (Mikrosatelliten) bezeichnet. Sie entstehen durch einen DNA-Reparaturdefekt; das Mismatch-Repair-System ist bei den betroffenen Patienten gestört. Dieses System ist für die Korrektur der kleinen Fehler in der Basenabfolge verantwortlich. Störungen im Mismatch-Repair-System können vererbt (Lynch-Syndrom, Darm) oder sporadisch in Tumoren auftreten. MSI ist ein Biomarker für Kolorektal,- Endometrium- und Magenkarzinome. Im fortgeschrittenen Stadien ist er ein Prädiktor der Therapieresponse von Checkpoint-Inhibitoren.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 /25.09.2021