Opioid-Missbrauch in den USA: Eine Krise, die nicht endet

25.10.2021 | Politik

Opioide waren in den USA das Mittel der Wahl, um Schmerzen rasch zu bekämpfen und um als Arzt gute Bewertungen zu erhalten – mit fatalen Folgen: Bis zu 500.000 Menschen sind an einer Überdosis gestorben. Auch wenn sich durch die Opioid Krise zwar die Verschreibungspraxis nachhaltig geändert hat: Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht.
Nora Schmitt-Sausen

Wer die Opioid-Epidemiein den USA verstehen will, der muss verinnerlichen, dass in der amerikanischen Medizin seit Jahren das Mantra galt: Die Patienten zufrieden stellen, den Schmerz ausschalten, gute Bewertungen erhalten.

Mittel der Wahl um dieses Ziel zu erreichen, waren Rezepte für Opioide. Sie waren in US-amerikanischen Kliniken und auch Ordinationen lange Zeit der Goldstandard vor allem bei chronischen, aber auch bei akuten Schmerzen – bei einer größeren Operation genauso wie bei kleineren Eingriffen am Auge oder beim Zahnarztbesuch am Nachmittag. Rezepte erhielten junge Menschen nach Sport-Verletzungen genauso wie ältere Bürger, die unter Arthritis litten. Millionenfach.

Das Ergebnis dieser Verschreibungspraxis ist bekannt, in ihrer Dimension aber immer noch nur schwer zu fassen: Seit dem Jahr 2000 sind in den USA Schätzungen zufolge zwischen 400.000 und 500.000 Menschen an einer Überdosis gestorben, die in Verbindung mit Opioiden steht. Zwei von drei tödlichen Überdosen im Jahr 2018 waren laut US-amerikanischem Gesundheitsministerium auf Opioid-Konsum zurückzuführen.

Zusätzlich wird das Leben von Millionen Bürgern und deren Familien von Medikamentensucht belastet. 1,6 Millionen Amerikaner erfüllen nach Schätzungen der US-Regierung die diagnostischen Kriterien für Opioid-Missbrauch (Substance Abuse and Mental Health Services Administration 2020). Experten glauben, dass diese Zahl noch zu niedrig geschätzt ist. Laut Umfragen aus dem Jahr 2018 liegt die Zahl der Amerikaner, die Opioid-süchtig sind, bei mindestens 2,3 Millionen (Substance Abuse and Mental Health Services Association, 2019). Der Weg dahin ist für viele nicht weit: Das US-Gesundheitsministerium beziffert die Zahl der US- Amerikaner, die schon einmal verschreibungspflichtige Schmerzmittel zweckentfremdet eingenommen haben, für das Jahr 2019 mit 10,1 Millionen.

Nicht nur der menschliche, sondern auch der ökonomische und soziale Schaden sind immens. Die Kosten für den Missbrauch von Opioiden liegen bei 700 Milliarden US-Dollar jährlich; dies entspricht 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Quelle: US Council of Economic Advisers für 2018).

Krise mit weitreichenden Folgen

Die hohen Todeszahlen haben nachweislich Effekte auf die Mortalität in den USA. Außerdem hat die Krise weitreichende Folgen auf anderen Ebenen wie Morbidität, Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt, Kindeswohl und Kriminalität. „Die meisten empirischen Belege deuten darauf hin, dass der Missbrauch von Opioid en die Erwerbsbeteiligung und die Beschäftigung verringert, die Ansprüche auf Erwerbsunfähigkeit erhöht und die Arbeitslosigkeit verlängert“, schreiben die Autoren der Analyse „A review of economic studies on the opioid crisis“ (Maclean et al. 2020, Centre for Economic Policy Research). Sie werteten dafür mehr als 100 Wirtschaftsstudien zur Opioid-Krise aus. Außerdem stehe der Opioid-Missbrauch in Verbindung mit Drogenkriminalität sowie Eigentums- und Gewaltdelikten. „Tragischerweise ist der Missbrauch von Opioiden mit Misshandlungen von Kindern, der Herausnahme von Kindern aus dem Elternhaus und der Zunahme des neonatalen Abstinenzsyndroms verbunden, bei dem Säuglinge aufgrund von In-Utero-Exposition einen Opioid- Entzug erleiden“, schreiben die Autoren.

Die Krise trifft US-amerikanische Bürger aus allen Schichten – naturgemäß aber besonders dort, wo es an ökonomischen Perspektiven, sozialen Strukturen und einem ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung fehlt. In der Überblicksarbeit „The Opioid Crisis in America: Domestic and International Dimensions“ schreiben Autoren der Brookings Institution, dass besonders weiße Amerikaner mit geringer Ausbildung, niedrigem Einkommen und geringer ökonomischer Perspektive wegen des Verlusts von klassischen Industriearbeiter-Jobs zur besonders gefährdeten Gruppe für Opioid-Abhängigkeit zählen. Maclean et al. kommen zu ähnlichen Erkenntnissen: An einer Opioid-Überdosis sterben in den USA mehr Männer als Frauen. Weiße Amerikaner sind von der Krise stärker betroffen als andere ethnische Gruppen in den USA. Opioid-bedingte Todesfälle sind unter jungen US-Amerikanern stärker verbreitet als unter älteren US-Bürgern.

Wie konnte es so weit kommen?

Die Gründe reichen Jahrzehnte zurück. Schwere Schmerzmittel wurden in den USA lange Zeit nur nach großen Operationen und in der onkologischen Therapie verabreicht. Doch seit den 1990er-Jahren wurden Opioide wesentlich breiter verschrieben – nahezu ohne jede Regulierung. Der Grund dafür: Die Pharmaindustrie konnte die US-amerikanischen Ärzte mit aufwendigen und oft teilweise rücksichtslosen Marketing-Kampagnen davon überzeugen, dass Opioide nicht abhängig machen und selbst bei Beschwerden wie Knie- oder Rückenschmerzen risikoärmer sind als angenommen. Ärzte, Krankenhäuser und medizinische Fachgesellschaften schenkten den Ausführungen der Industrie Glauben – ebenso wie die US-amerikanischen Behörden.


Opioid-Krise: die drei Wellen

Die erste Welle der Opioid-Krise begann Mitte der 1990er Jahre und dauerte bis 2010. Sie war durch einen beispiellosen Anstieg der millionenfach verschriebenen Opioide gekennzeichnet. Die zweite Welle war von einem dramatischen Anstieg des Konsums von Heroin und hohen Todeszahlen durch Überdosis geprägt. Diese Entwicklung wird zumindest teilweise auf Bemühungen zurückgeführt, die Zahl der Verschreibungen von Opioiden drastisch zu reduzieren. Doch dadurch wurden Opioide nun zunehmend auf illegalen Märkten angeboten – und erworben. Bis dato war Heroin in den USA eine wenig konsumierte Droge. Den gestiegenen Heroin-Bedarf deckte vor allem Mexiko ab. Die dritte Welle der Krise begann 2013 – sie dauert bis heute an. Die dritte Welle ist durch eine Bewegung in Richtung synthetische Opioide gekennzeichnet. Besonders Fentanyl, das 50- bis 100-mal stärker als Morphin und 30-mal stärker als Heroin ist, eroberte den illegalen Markt, der nun zunehmend aus China bedient wird. Fentanyl-verfälschtes Heroin hatte verheerende Auswirkungen auf Menschen, die bereits an einer Opioid-Sucht litten; in der Folge explodierte die Zahl der Sterbefälle aufgrund einer Überdosis.
Quelle: A review of economic studies on the opioid crisis/Centre for Economic Policy Research; The Opioid Crisis in America: Domestic and International Dimensions/Brookings; beide 2020

Milliardenschwerer Vergleich

Anfang September dieses Jahre kam der aufsehenerregendste Fall der Opioid-Krise zu einem – juristischen – Ende. Der insolvente Pharmariese Purdue Pharma, Hersteller des gängigen und hochgradig süchtig machenden Scherzmittels OxyContin, zahlt nach einem Vergleich 4,5 Milliarden US-Dollar. Das Unternehmen gilt in den USA als einer der Hauptverantwortlichen für die Opioid-Krise. Schon einige Wochen zuvor hatten bereits mehrere weitere US-Pharmariesen – unter anderem Johnson & Johnson – milliardenschweren Vergleichen zugestimmt. Mit dem Geld aus den Vergleichen sollen etwa Hilfsprogramme finanziert und Schadensersatzansprüche bedient werden.

Die zahllosen rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen der Industrie und mehreren tausend Klägern dauerten Jahre. Unter den Klägern befanden sich Bundesstaaten, Städte und Landkreise ebenso wie Einzelpersonen.


So trugen sie alle dazu bei, starke Schmerzmittel salonfähig zu machen. Erst zehn Jahre später setzte sich die Erkenntnis über die Gefahren dieser Praxis durch.

Die Antwort von Politik und Medizin war mannigfach. Nach und nach wurden Behörden in Washington aktiv, Bundesstaaten, ärztliche Organisationen und Universitäten. Viele der Maßnahmen zielten – und zielen – darauf ab, die Zahl der Verschreibungen zu reduzieren: Das US-amerikanische Gesundheitsministerium etwa gab Finanzmittel für die Förderung einer besseren, evidenzbasierten Praxis im Schmerzmanagement frei. Eines der zentralen Elemente war im Jahr 2012 die Gründung der Centers of Excellence in Pain Education, der landesweit elf Universitäten angehörten, darunter renommierte Institutionen wie Harvard und Johns Hopkins. Die universitären Einrichtungen sollen einen zentralen Beitrag für die Entwicklung, Bewertung und Verteilung von Lehrplänen zur Schmerztherapie für medizinische, zahnmedizinische, pflegerische, pharmazeutische und andere Schulen leisten. Ziel ist es, die Ausbildung von Angehörigen der Gesundheitsberufe rund um die Schmerzbehandlung zu verbessern und damit die Schmerztherapie in den USA zu optimieren.

Leitlinie zur Verschreibung von Opioiden

Die US-amerikanische CDC – Centers for Disease Control and Prevention –, eine Behörde des Gesundheitsministeriums, legte im Jahr 2016 eine Leitlinie zur Verschreibung von Opioiden bei chronischen Schmerzen fest. Sie richtet sich an Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung und enthält Regularien für Schmerz-Patienten ab 18 Jahren; ausgenommen sind die onkologische Therapie, Palliativmedizin und Sterbebegleitung. Zu den zwölf Punkten der Leitlinie gehören Aspekte wie etwa Opioide nicht routinemäßig verschreiben; bei der Verschreibung klare Therapiepläne erstellen; Aufklärung über Nutzen und Risken; die Dosis so niedrig wie möglich und die Anwendungszeit so kurz wie möglich halten; rasch wirksame Opioide gegenüber lang wirksamen bevorzugen; besondere Vorsicht ab einer Dosis von 50 Morphin-Milligramm-Äquivalenten (MME) pro Tag; eine

Dosiserhöhung von mehr als 90 MME/Tag vermeiden oder sehr sorgsam begründen. Außerdem enthält die Leitlinie Punkte wie: Die Verschreiber sollten über Datenbanken abklären, ob ein Patient nicht bereits anderweitig Rezepte für Opioide erhalten hat. Vor dem Start der Opioid-Therapie soll der Urin auf Drogenmissbrauch untersucht werden.

Begleitend zur Leitlinie sind Aufklärungsmaterialien für Verschreiber von Opioiden entwickelt worden. Es gibt heute Angebote wie Schulungs-Webinare, Checklisten, Fact Sheets und Pocket Guides, Aufklärungsvideos und Praxisposter. Alle diese Tools sollen als Entscheidungshilfe in der Schmerztherapie dienen. Eine Grundlage für die Entwicklung der Guidelines und der damit verbundenen Schulungsangebote war, dass die US-amerikanischen Hausärzte „von unzureichender Schulung beim Verschreiben von Opioiden berichteten“, wie die Behörde auf ihrer Webseite schreibt.

Die CDC-Leitlinie war und ist bis heute umstritten, weil ihre teils schwammigen Formulierungen und „willkürliche“ (American Medical Association) Festsetzung von Schwellenwerten in der Praxis dazu geführt hätten, dass einige Schmerzpatienten nicht mehr die Medikation erhielten, die sie gebraucht hätten. Andere hingegen meinen, die Regularien gingen nicht weit genug; alternative Methoden zur Schmerzlinderung müssten mehr im Fokus stehen und Opioide gehörten nahezu eliminiert.

Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) wiederum, die wegen des jahrelangen Mangels an Regulierung und ihrem späten Eingreifen vielfach kritisiert wurde, betont, dass sie Schritte zur Eindämmung der Krise sowie zur „angemessenen und rationellen Verschreibung von Opioiden“ veranlasst hat. Dazu gehören ihren Aussagen zufolge etwa erweiterte Warnhinweise auf den Beipackzetteln der Schmerzmittel, schriftliche Ermahnungen an Hersteller von Opioiden wegen ihrer „irreführenden Werbung“, das Anregen von Schulungsangeboten für Ärzte, aber auch Krankenschwestern oder Apotheker sowie das Sicherstellen des Informationszuflusses an Ärztinnen und Ärzte, die Opiode verschreiben.

Experten schätzen die FDA-Bedingungen für die Zulassung von Opioiden als lax ein – bis heute. Auch der langjährige Mangel an klaren Warnhinweisen oder das Versäumnis, kritische Medikamente vom Markt zu holen, sind zentrale Kritikpunkte. Immer wieder wird die Nähe der FDA zur Pharmaindustrie angeprangert.

Zu spät reagiert

Das generelle Problem der USA ist, dass nach Ansicht von vielen US-Amerikanern Politik und Medizin zu spät gegengesteuert haben. Die vielen Jahre des unregulierten Marktes haben eine Dynamik in Gang gesetzt, die nun nur noch schwer zu stoppen ist – vor allem, wenn Menschen bereits in eine Abhängigkeit abgerutscht sind.

Unzweifelhaft hat in der US-amerikanischen Medizin ein Umdenken stattgefunden. Die Zahl der Verschreibungen von Opioiden ist dramatisch zurückgegangen und sinkt seit zehn Jahren kontinuierlich: seit 2011 um mehr als 44 Prozent. In Zahlen heißt das: Im Jahr 2011 gab es 257,9 Millionen Opioid-Verschreibungen, im Jahr 2020 waren es 143,4 Millionen (Quelle: American Medical Association).

Realität ist aber auch, dass es bei der Opioid-Krise keine Anzeichen dafür gibt, dass sie abklingt. Die veränderte Verschreibungspraxis hat nicht zur Reduktion der Zahl der Toten durch Überdosis geführt. Im Gegenteil: Im Jahr 2020 starben in den USA mehr als 90.000 Menschen an einer Überdosis – ein Negativrekord. Neuere Daten deuten außerdem darauf hin, dass der Missbrauch von Medikamenten zwischen 2019 und 2020 zugenommen hat. Die Corona-Krise mit ihrer sozialen Isolation, dem verringerten Zugang zu Behandlungen, Jobverlust und Trauer um Freunde und Angehörige gilt als Treiber dieser Entwicklung.

Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die Versuche, der Krise fast ausschließlich durch die Reduktion der Zahl der Verschreibungen Herr zu werden, negative Auswirkungen hatte. Viele Betroffene beschaffen sich ihre Opioide nun auf dem illegalen Markt – mit weitaus verheerenderen Folgen (siehe Kasten).

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2021