Digi­tale Medi­zin und Tele­me­di­zin: Sta­tus quo und Ausblick

25.01.2021 | Politik


Die Digi­ta­li­sie­rung in der Medi­zin erlebte gerade in der aktu­el­len Pan­de­mie einen bis dato unge­ahn­ten Schub – noch nie gab es so viele digi­tale Anwen­dun­gen im medi­zi­ni­schen Bereich. Viele sind auch unab­hän­gig von COVID-19 zu begrü­ßen, zum Bei­spiel die tele­fo­ni­sche Krank­schrei­bung.
Chris­toph Stein­acker und Felix Wallner*

I. Digi­ta­li­sie­rungs­schub

Fak­tum ist, dass es noch nie so viele Apps, Soft­ware­pro­gramme und digi­tale Pro­dukte im medi­zi­ni­schen Bereich wie heute gab. Auf­fal­lend ist auch, dass die digi­tale Aus­stat­tung etwa in den Spi­tä­lern recht inho­mo­gen ist. Berich­tet wird von voll­di­gi­ta­li­sier­ten Abtei­lun­gen, Hybrid-Abtei­lun­gen, wo digi­tal gear­bei­tet und anschlie­ßend alles aus­ge­druckt wird bis hin zu Abtei­lun­gen, wo nach wie vor fast alles in Papier geführt wird. 

Gerade in Zei­ten von SARS-CoV‑2 erlebt die Digi­ta­li­sie­rung der Medi­zin einen enor­men Schub. Man denke etwa an die Ein­füh­rung der tele­fo­ni­schen Krank­schrei­bung, wel­che (nicht nur) aus infek­ti­ons­tech­ni­scher Sicht abso­lut zu begrü­ßen ist.

II. Unmit­tel­bar­keits­ge­bot

Das Ärz­te­ge­setz schreibt (in § 49 Abs. 2) genauso wie die Berufs­ge­setze der nicht-ärzt­li­chen Gesund­heits­be­rufe eine unmit­tel­bare Berufs­aus­übung vor. Die­ses Unmit­tel­bar­keits­ge­bot schließt prin­zi­pi­ell Fern­be­hand­lun­gen aus, weil der Gesetz­ge­ber tra­di­tio­nell davon aus­ge­gan­gen ist, dass in der Regel für eine fach­ge­rechte Dia­gnose und The­ra­pie ein per­sön­li­cher Kon­takt zwi­schen Arzt und Pati­ent not­wen­dig ist.

Unge­ach­tet des­sen gaben natür­lich Ärzte im prak­ti­schen All­tag von jeher tele­fo­ni­sche Rat­schläge, wenn sie es für ver­tret­bar hiel­ten. Tat­säch­lich setzte sich schon in den 90er Jah­ren auch unter Juris­ten die Auf­fas­sung durch, dass eine ärzt­li­che Inter­ven­tion tele­fo­nisch erfol­gen kann, wenn die ver­bale Schil­de­rung des Pati­en­ten als Grund­lage der ärzt­li­chen Beur­tei­lung aus­reicht. In der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit hat die Tele­me­di­zin über das Tele­fon hin­aus Bedeu­tung erlangt, etwa im Bereich der Tele­ra­dio­lo­gie. Auch diese wurde recht­lich für unbe­denk­lich erach­tet, wenn die tele­ra­dio­lo­gisch über­mit­tel­ten Bil­der aus­rei­chen, um einen ver­läss­li­chen Befund erstel­len zu kön­nen. Mit ande­ren Wor­ten: die weit über­wie­gende Mehr­heit der juris­ti­schen Lite­ra­tur ist sich dar­über einig, dass die Zuläs­sig­keit tele­me­di­zi­ni­scher Metho­den schlicht und ein­fach davon abhängt, ob der Arzt auf tele­me­di­zi­ni­schem Weg alle aus fach­li­cher Sicht not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen zur Beur­tei­lung des Gesund­heits­zu­stan­des des Pati­en­ten erhält bezie­hungs­weise ob bei the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men das von die­sen aus­ge­hende Risiko ohne unmit­tel­bare Anwe­sen­heit eines Arz­tes beherrsch­bar ist. Der Tele­me­di­zin nut­zende Radio­loge ver­stößt daher genauso wenig gegen das Unmit­tel­bar­keits­prin­zip wie der Labor­me­di­zi­ner, der Kör­per­flüs­sig­kei­ten unter­sucht, ohne direkt mit dem Pati­en­ten Kon­takt zu haben. Das Unmit­tel­bar­keits­ge­bot ver­langt nur, dass der Arzt die Wahr­neh­mun­gen, die er zur ver­läss­li­chen Ein­schät­zung benö­tigt, selbst macht und sich nicht auf ein frem­des Urteil ver­las­sen darf.

Die Gefahr, die sich frei­lich hin­ter einer tele­me­di­zi­ni­schen Kon­sul­ta­tion ver­birgt, ist wohl, dass der Pati­ent nicht all­um­fas­send betrach­tet wer­den kann. Hat der Arzt Zwei­fel oder kann den Pati­en­ten nicht all­um­fas­send beur­tei­len, hat er ihn per­sön­lich, d.h. in die­sem Fall von Ange­sicht zu Ange­sicht, zu unter­su­chen und ihn in die Ordi­na­tion oder Ambu­lanz zu bestellen. 

III. Zukünf­tig ein digi­ta­ler Ein­tritt ins Gesundheitssystem?

Über­füllte Ambu­lan­zen, man­gelnde Per­so­nal­aus­stat­tung, nicht-besetzte Kas­sen­stel­len sowie zuneh­mende Arbeits­ver­dich­tung machen es not­wen­dig, über alter­na­tive Behand­lungs­for­men und ‑struk­tu­ren zu spre­chen sowie über den Zugang zum Gesund­heits­sys­tem nach­zu­den­ken. So könnte man etwa digi­tale Sys­teme wie die Gesund­heits­hot­line 1450 als mög­li­che Erst­kon­takt­form sehen. Diese (inter­na­tio­nal erprobte) Struk­tur mit ent­spre­chend geschul­tem Per­so­nal ist eine gute Form, um die Ordi­na­tio­nen und Spi­tals­am­bu­lan­zen nie­der­schwel­lig zu ent­las­ten und damit dafür zu sor­gen, dass nur noch jene Fälle in der Ordi­na­tion oder Ambu­lanz ein­tref­fen, die dort auch behan­delt gehö­ren. Für ein ent­spre­chen­des Funk­tio­nie­ren müsste aller­dings der dor­tige Pro­zess trans­pa­ren­ter und nach­voll­zieh­ba­rer aus­ge­stal­tet wer­den und selbst­ver­ständ­lich mit den not­wen­di­gen tech­ni­schen und per­so­nel­len Res­sour­cen aus­ge­stat­tet werden.

IV. Stan­dards für die Behandlung 

Da Tele­me­di­zin natür­lich ein inter­na­tio­na­les Phä­no­men ist, haben sich auch die deut­schen Ärz­tin­nen und Ärzte in den letz­ten Jah­ren immer wie­der mit die­ser The­ma­tik befasst. Die deut­sche Rechts­lage unter­schei­det sich von Öster­reich dadurch, dass der Gesetz­ge­ber die Aus­ge­stal­tung des ärzt­li­chen Berufs­rechts dem Berufs­stand selbst, kon­kret den Lan­des­ärz­te­kam­mern, über­lässt. Diese Berufs­re­geln erlau­ben indi­vi­du­elle Fern­be­hand­lung, also Tele­me­di­zin, dann, wenn „diese ärzt­lich ver­tret­bar ist und die erfor­der­li­che ärzt­li­che Sorg­falt ins­be­son­dere durch die Art und Weise der Befund­er­he­bung, Bera­tung, Behand­lung, sowie Doku­men­ta­tion gewahrt wird und die Pati­en­tin oder der Pati­ent auch über die Beson­der­hei­ten der aus­schließ­li­chen Bera­tung und Behand­lung über Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­dien auf­ge­klärt wird“ (so § 7 Abs 4 der deut­schen Mus­ter­be­rufs­ord­nung für Ärzte). Die deut­sche Ent­wick­lung ist des­halb inter­es­sant, weil erwar­tet wird, dass sich zukünf­tig ein fach­li­cher „Fern­be­hand­lungs­stan­dard“ ent­wi­ckelt, der den Ärz­ten Ori­en­tie­rung gibt, unter wel­chen Bedin­gun­gen Tele­me­di­zin lege artis ange­wandt wer­den kann.

Es muss auch umfas­send geklärt wer­den, wann der Ein­satz von digi­ta­len Pro­gram­men als lege artis Behand­lung ange­se­hen wer­den muss. Gehört es schon jetzt zur Sorg­falt des behan­deln­den Arz­tes, sich all­um­fas­send zu infor­mie­ren und somit etwa aktu­elle Publi­ka­tio­nen, medi­zi­ni­sche Ent­wick­lun­gen oder neue Mei­nun­gen ein­zu­be­zie­hen oder etwa einen Big-Data-Abgleich vor­zu­neh­men? Wenn ja, wie soll das in der Pra­xis funk­tio­nie­ren? Wer kommt für diese Aus­stat­tung auf? 

In man­chen Abtei­lun­gen dau­ert es bis zu 45 Sekun­den, bis die ELGA-Pati­ent-Akte im KIS-Sys­tem auf­ge­ru­fen wer­den kann. In die­sem – vom Kran­ken­haus­trä­ger zur Ver­fü­gung gestell­ten – Sys­tem fin­den sich oft­mals keine pas­sen­den Such­funk­tio­nen. Auch hier wird man – ins­be­son­dere in Hin­blick auf die Arbeits­ver­dich­tung – Stan­dards eta­blie­ren müs­sen, wann es gebo­ten ist, wie viele PDF-Befunde zu durch­su­chen und mit­ein­an­der zu ver­glei­chen – auch in Hin­blick auf die immer wach­sende Anzahl an Dokumenten.

Es wird wohl auch gebo­ten sein, dass der Arzt bei Zwei­fels­fäl­len einen ande­ren Arzt (etwa mit­tels Tele­kon­sul­ta­tion) zu Rate zieht und eine Zweit­mei­nung ein­holt oder ent­spre­chend selbst recher­chiert. Hier darf aber der Bogen auch nicht über­spannt wer­den; es wird nicht mög­lich sein, für jede Behand­lung eine Zweit­mei­nung ein­zu­be­zie­hen, KI ein­zu­set­zen und etwa Bil­der mit­tels Big Data aus­zu­wer­ten – sofern das über­haupt tech­nisch mög­lich und sinn­voll ist – oder alle Even­tua­li­tä­ten – auf Niveau einer Uni­ver­si­täts­kli­nik – aus­zu­schlie­ßen. Anzu­wen­den ist hier jener Maß­stab eines sorg­fäl­ti­gen (durch­schnitt­li­chen) Arz­tes und nicht jener der abso­lu­ten Top-Experten. 

Fest­zu­hal­ten ist an die­ser Stelle, dass eben diese exem­pla­ri­schen Fra­gen als Stan­dard für die Behand­lung zu defi­nie­ren sind, da hier­mit auch in wei­te­rer Folge Haf­tungs­fra­gen ver­bun­den sind.

V. Ände­rungs­be­darf und Zukunftsregelungen

Für Öster­reich ist zwar die Zuläs­sig­keit der Tele­me­di­zin prin­zi­pi­ell von der herr­schen­den juris­ti­schen Mei­nung aner­kannt. Trotz­dem wären genauere Rege­lun­gen durch­aus wün­schens­wert, um den Tele­me­di­zin anwen­den­den Ärz­ten ein Mehr an Rechts­si­cher­heit zu ver­schaf­fen. Den Beson­der­hei­ten der Tele­me­di­zin ent­spre­chend ginge es dabei um Regeln für die sichere Iden­ti­fi­ka­tion des Pati­en­ten, die Daten­si­cher­heit beim Ein­satz tele­me­di­zi­ni­scher Metho­den und vor allem um die Ver­mei­dung von Haf­tungs­pro­ble­men. Tat­säch­lich wird von Ärz­ten im Rah­men der Orga­ni­sa­tion des Gesund­heits­we­sens der­zeit gera­dezu erwar­tet, die Tele­me­di­zin bis an ihre Gren­zen aus­zu­rei­zen, womit natür­lich auch haf­tungs­recht­li­che Gefah­ren ver­bun­den sind. Nicht unpro­ble­ma­tisch ist etwa die tele­fo­ni­sche Bera­tung unbe­kann­ter Pati­en­ten, wie sie im extra­mu­ra­len Bereit­schafts­dienst gar nicht ver­meid­bar ist. Wenn das Sys­tem vom Arzt den Ein­satz von Tele­me­di­zin erwar­tet, dann besteht aber umge­kehrt auch ein Anspruch der Ärz­te­schaft, auf abso­lut siche­rem Boden zu ste­hen. Da die Nut­zung tele­me­di­zi­ni­scher Metho­den mitt­ler­weile recht­lich akzep­tiert ist, ist sie gewöhn­lich haf­tungs­recht­lich unpro­ble­ma­tisch. Trotz­dem sollte der Gesetz­ge­ber im Ärz­te­ge­setz auch in Grenz­fäl­len wie dem extra­mu­ra­len Bereit­schafts­dienst aus­drück­lich vom Unmit­tel­bar­keits­ge­bot dis­pen­sie­ren und damit auch letzte Haf­tungs­ri­si­ken besei­ti­gen. Wün­schens­wert wäre über­dies im Sinne der all­ge­mei­nen Rechts­si­cher­heit, dass ähn­lich wie in Deutsch­land der Gesetz­ge­ber die Öster­rei­chi­sche Ärz­te­kam­mer ermäch­tigt, im Rah­men einer spe­zi­fi­schen Berufs­ord­nung die Grund­sätze der Anwen­dung tele­me­di­zi­ni­scher Ver­fah­ren zu regeln und damit der Ärztin/​dem Arzt Hil­fe­stel­lung zu geben, wann sie/​er ohne recht­li­che und fach­li­che Beden­ken Tele­me­di­zin ein­set­zen kann.

VI. Fazit

Der Ein­satz von Digi­ta­ler Medi­zin und Tele­me­di­zin ist schon der­zeit zuläs­sig und wohl teil­weise auch gebo­ten. Zur Qua­li­täts­si­che­rung, aber auch der Klar­stel­lung einer all­fäl­li­gen Haf­tung müs­sen Stan­dards für deren Ein­satz defi­niert wer­den. Beim Ein­satz von Digi­ta­ler Medi­zin und Tele­me­di­zin darf nicht auf die Anwen­der­freund­lich­keit sowie die ent­spre­chende per­so­nelle und finan­zi­elle Aus­stat­tung ver­ges­sen werden.

*) Dr. Chris­toph Stein­acker ist Lei­ter der Abtei­lung Bun­des­ku­rie Ange­stellte Ärzte;
Hon. Prof. Dr. Felix Wall­ner
ist Kam­mer­amts­di­rek­tor der Ärz­te­kam­mer Oberösterreich 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.01.2021