Ausland: Kinderimpfprogramm in den USA – Zukunftsrisiko Impflücke

25.11.2021 | Politik

Einen kostenfreien Impfschutz gegen 16 Erkrankungen bietet das US-amerikanische Impfprogramm für Kinder. Nun zeichnen sich massive Impflücken aufgrund der Corona-Pandemie ab. In einem „Call to Action“-Papier skizziert das Center of Disease Contol and Prevention (CDC), was Eltern, Ärzte und lokale Behörden tun können, um das Nachholen von Impfungen zu fördern.
Nora Schmitt-Sausen

In den Terminkalendern von US-amerikanischen Eltern gelten sogenannte „Well-Child Visits“ beim Kinderarzt nahezu als Fixstarter eingetragen. Bei diesen regelmäßigen Check-ups wird die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen überprüft – und der Impfstatus von 72,8 Millionen Kindern unter 18 Jahren.

Besonders der Blick auf anstehende Impfungen ist in den USA besonders genau, denn: Schulen verlangen einen vollständigen Impfstatus gemäß den geltenden Empfehlungen. Auch Kindertagesstätten erwarten den regelmäßigen Beleg dafür, dass die Immunisierungen erfolgt sind. Die Pflicht zur Impfung fordert in den USA das Gesetz – allerdings unterschiedlich ausgestaltet von Bundesstaat zu Bundesstaat und teils nochmals variierend von Schulbezirk zu Schulbezirk, was Risiken birgt (siehe Kasten). Die Impf-Vorgaben kommen von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Sie stellt die Impfpläne zusammen, die maßgeblich für die Impfungen im Land sind.

Durch ein kostenfreies Impfprogramm (Vaccines for Children Program, VFC) ist sichergestellt, dass alle Mädchen und Buben immunisiert werden können, ungeachtet ihres Versicherungs- oder Sozialstatus. Die Regierung gibt dazu Impfdosen an ausgewählte Ärzte in Ordinationen und Gesundheitseinrichtungen, die diese gemäß der Impfpläne kostenfrei an Kinder aus dem staatlichen Sozialprogramm Medicaid sowie an nicht versicherte und unterversicherte Kinder geben. Das Programm ermöglicht den kostenfreien Impfschutz vor 16 Krankheiten. Die routinemäßige Impfung von Kindern im VFC-Programm soll laut CDC-Schätzungen bei Kindern, die zwischen 1994 und 2018 geborenen sind, 936.000 vorzeitige Todesfälle und 419 Millionen Krankheiten verhindern.

Impfpflicht mit langer Tradition

Die breit angelegte Impfpflicht für Kindergarten- und Grundschulkinder hat in den USA eine lange Geschichte: Seit dem Schuljahr 1980/1981 gibt es solche Mandate in allen Bundesstaaten. Der erste Bundesstaat, der eine verpflichtende Impfung einführte – gegen Pocken -, war der Ostküstenstaat Massachusetts – und dies bereits in den 1850er Jahren.

Das Ergebnis heute: Alle US-Bundesstaaten verlangen einen Impfschutz gegen Polio, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Masern und Röteln, berichtete kürzlich der US-amerikanische Fernsehsender ABC News unter Berufung auf Daten der Immunization Action Coalition (IAC). Die IAC ist eine der CDC nahestehende Non Profit-Organisation, die sich um Aufklärung rund um das Thema impfen bemüht. Die Mehrheit der Bundesstaaten fordert auch Impfungen gegen Mumps, Windpocken, Hepatitis B und Pneumokokken. Nur in einigen Landesteilen der USA gibt es auch eine Impfpflicht gegen Influenza, Hepatitis A, Rotavirus und HPV.

So wirken sich diese Vorgaben aus: Im Schuljahr 2019/2020 haben nach Angaben der CDC 95 Prozent der amerikanischen Kindergartenkinder eine Impfung gegen DTaP- (Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten), MMR- (Masern, Mumps, Röteln) und Varizellen erhalten.

Viele verpasste Impftermine

Die Corona-Pandemie stellt nun eine neue Hürde da, vermeidbare Krankheiten durch Impfungen unter Kontrolle zu halten. Wie in vielen anderen Ländern hat die Corona-Krise auch in den USA zu einem Rückgang von routinemäßigen Impfungen bei Kindern geführt. Vor allem zu Beginn mieden viele Eltern den Besuch einer Ordination oder von anderen Gesundheitseinrichtungen und ließen anstehende Impftermine aus. Mit Folgen: Eine CDC-Studie von diesem Sommer zeigt, dass routinemäßige Impfungen wie beispielsweise gegen Masern oder Keuchhusten zwischen März und Mai 2020 im Vergleich zu 2019 deutlich eingebrochen sind – und zwar in allen Altersgruppen. Aus dem öffentlichen Gesundheitswesen wurden um 14 Prozent weniger Impfdosen angefordert als im Vorjahr. So ist beispielsweise die Rate der Masern-Impfungen um mehr als 20 Prozent zurückgegangen.

Ab der zweiten Jahreshälfte 2020 holten viele Eltern Impfungen nach. Doch dieses Nachholen „reichte nicht aus, um aufzuholen, was nötig ist, um die vielen Monate wettzumachen, in denen Kinder routinemäßige Impfungen verpasst haben“, heißt es seitens der CDC. Neuere Analysen von anderer Stelle zeigen sogar, dass die Impfquoten im Jahr 2021 teilweise sogar noch niedriger waren als 2020. Kinderärzte sehen heute Kinder in den Ordinationen, die sie zum Teil seit eineinhalb Jahren nicht zu Gesicht bekommen haben.

CDC warnt vor Krankheitsausbrüchen

Die Gesundheitsbehörde CDC warnte kurz vor dem Wiederbeginn des Präsenzunterrichts im September 2021 davor, dass den USA neue Ausbrüche von hoch ansteckenden Krankheiten wie Masern oder Keuchhusten drohen, wenn ausstehende Impfungen nicht schnell nachgeholt werden. Die Impflücken könnten zu einer „ernsthaften Bedrohung“ für die öffentliche Gesundheit werden. Die Behörde empfiehlt deshalb nun sogar, Kindern und Jugendlichen, die bereits eine Corona-Impfung erhalten können, am selben Tag weitere Impfungen zu verabreichen. Mit ihren Warnungen steht die Behörde nicht allein da. Auch viele Kinderärzte äußern ihre Sorge, ebenso die American Academy of Pediatrics. Sie ruft die Eltern dazu auf, ausgelassene Impfungen dringend nachzuholen.

Nicht wenige Gesundheitsexperten sehen jahrelange Fortschritte bei der Immunisierung von Kindern in Gefahr. Um die durch die Corona-Krise entstandenen Impflücken zu schließen, seien erhebliche landesweite Anstrengungen erforderlich. Fachleute empfehlen dazu eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens sowie Aufklärungskampagnen der Bevölkerung. Impflücken in einzelnen Gemeinden müssten identifiziert und geschlossen werden. Es sei sicherzustellen, dass COVID-19-Impfungen die routinemäßige Impfkampagne für Kinder nicht beeinträchtigen. Außerdem sollten Pläne zur Vorbeugung und Reaktion auf Ausbrüche von impfpräventablen Krankheiten bereitliegen. Erste Initiativen in diese Richtung haben bereits begonnen: von der CDC, dem US-Gesundheitsministerium, medizinischen Fachgesellschaften wie der American Academy of Pediatrics und auch von anderen Partner-Organisationen. So skizziert beispielsweise die CDC in einem „Call to Action“-Papier, was Gesundheitsdienstleister, Schulen, staatliche und lokale Regierungen sowie Familien tun können, um das Nachholen von Impfungen zu fördern. Im Vordergrund stehen dabei Aspekte wie die Identifikation von Kindern, bei denen Impfungen ausstehen sowie das aktive Ansprechen der Eltern durch Ärzte, Schulen und lokale Regierungen. Es sei dabei nicht nur wichtig zu vermitteln, wie wichtig das Impfen ist, sondern auch, dass Impfungen zu Zeiten von Corona in einer sicheren Umgebung stattfinden. Zur Unterstützung der Positionen stellt das CDC Informationsmaterialien für Ärzte und andere Gesundheitsdienstleister, aber auch für Eltern bereit. Auf der Internetseite der Behörde stehen beispielsweise Infografiken zum Download zur Verfügung, vorgefertigte Inhalte zur Verlinkung in Social Media-Kanälen wie Facebook, Twitter oder Instagram sowie Muster für Newsletter.

Parallel zu den Bemühungen, bei den Routine-Impfungen wieder aufzuschließen, gibt es in den USA bereits erste Bewegungen, wie künftig mit der Corona-Impfung für Kinder umgegangen werden soll. Als erster US-Bundesstaat machte kürzlich Kalifornien eine klare Ansage: Ab dem kommenden Jahr soll die Corona-Impfung für alle Schulkinder des Westküsten-Staates verpflichtend sein. Sobald die vollständige Zulassung für die Corona-Impfung für Kinder vorliegt (derzeit gilt noch eine Notzulassung), wird das Corona-Virus in die Liste der Pflichtimpfungen für Schüler aufgenommen.


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Impfpläne mit Ausnahmen

Die Impfpläne der US-Bundesbehörde Centers for Disease Control and Prevention werden in den USA landesweit nicht einheitlich umgesetzt. Das Problem: In fast allen der 50 US-Bundesstaaten ist es möglich, sich aus medizinischen, religiösen oder philosophischen Gründen dem Impfen zu entziehen – und eine über die Jahre steigende Anzahl von teils renitenten Impfgegnern macht davon Gebrauch.

Das Resultat: Die Impfraten variieren innerhalb der USA von Bundesstaat zu Bundesstaat teils erheblich und können sich dort noch einmal von Region zu Region stark unterscheiden – nach der jeweiligen Bevölkerungsstruktur. Es liegt in der Hand der Regierungen vor Ort und teils der einzelnen Schulbezirke und Einrichtungen, wie strikt Impfungen eingefordert werden.

Die Impf-Abneigung setzt bei Eltern bereits früh ein – und zieht sich oft bis ins Schulalter der Kinder durch. Ein Beispiel dafür ist der US-Bundesstaat Montana. Lediglich 62 Prozent der Säuglinge bis 24 Monate haben hier alle empfohlenen Impfungen erhalten, wie eine aktuelle Studie der University of Montana zeigt. Der US-amerikanische Durchschnitt in dieser Altersgruppe liegt bei 71 Prozent. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Lediglich 38 Prozent der Kinder erhielten ihre Impfungen zum vorgegebenen Zeitpunkt. Als Gründe werden konkret impfskeptische Eltern, aber auch ein schlechter Zugang zur medizinischen Versorgung genannt.

Montana gehört bereits seit Jahren zu den Bundesstaaten mit den niedrigsten Impfraten bei Kindern. In anderen Studien wurden in der Vergangenheit bereits niedrige Impfraten an einigen Grundschulen ermittelt. Ein Phänomen, das sich nicht nur in Montana zeigt: Familien, die gegen das Impfen sind, neigen dazu, sich an bestimmten Einrichtungen zu konzentrieren.

Die Folgen in den Gebieten mit niedrigen Impfquoten können verheerend sein. Das wurde in den USA in der jüngsten Vergangenheit besonders durch mehrere Masern-Ausbrüche deutlich – einer Krankheit, die in den USA eigentlich seit mehr als einem Jahrzehnt als ausgerottet gilt. 2014 kam es zu einem größeren Ausbruch in Kalifornien, 2017 in Minnesota und 2018/2019 in New York. In New York waren in der stark betroffenen Region mit lediglich 77 Prozent der Schulkinder deutlich weniger als 93 bis 95 Prozent, die für die Herdenimmunität erforderlich sind.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2021