Weib­li­che Geni­tal­ver­stümm­lung: Schwer erkennbar

10.06.2021 | Medizin

Die weib­li­che Beschnei­dung führt oft zu mas­si­ven gesund­heit­li­chen Pro­ble­men, ist für den Gynä­ko­lo­gen jedoch meist nur schwer erkenn­bar. Pri­mär über Sym­ptome sollte man mit den betrof­fe­nen Frauen ins Gespräch kommen.

Manuela‑C. War­scher

Jähr­lich dürf­ten – offi­zi­el­len Schät­zun­gen zufolge – 100 Mäd­chen und Frauen in Öster­reich Opfer einer Geni­tal­ver­stüm­me­lung (Female Geni­tal Muti­la­tion – FGM, Female Geni­tal Cut­ting – FGC) wer­den. Ins­ge­samt leben hier­zu­lande unge­fähr 8.200 beschnit­tene Frauen. „Diese Anga­ben sind Schätz­werte, da es bei die­sem Thema keine Trans­pa­renz gibt. Keine Mut­ter würde einen Ein­griff zuge­ben, da sie weiß, dass ihr die Obsorge ent­zo­gen wer­den könnte bezie­hungs­weise eine Anzeige droht“, gibt Univ. Prof. Daniela Dörf­ler von der Ambu­lanz für Kin­der- und Jugend­gy­nä­ko­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien zu beden­ken. Die weib­li­che Beschnei­dung erfüllt seit 2001 den Tat­be­stand der absicht­li­chen schwe­ren Kör­per­ver­let­zung mit Dau­er­fol­gen. „Bei Kin­dern wird sofort das Amt für Jugend­hilfe über eine Gefähr­dungs­mel­dung invol­viert bezie­hungs­weise Anzeige erstat­tet.“ Doch bei Frauen, die in ihrer Kind­heit in der Hei­mat beschnit­ten wur­den, kommt es sel­ten dazu. „Da durch eine SOP im Gesund­heits­ver­bund mit der Pati­en­tin ent­schie­den wer­den kann, ob sie eine Anzeige gegen ‚unbe­kannt‘ wünscht, kommt es sel­ten dazu. Es wur­den Reverse ent­wi­ckelt, die der Kran­ken­ge­schichte bei­gelegt wer­den. Eine Gerichts­ver­hand­lung würde wohl in vie­len Fäl­len zu einer Re-Trau­ma­ti­sie­rung füh­ren“, sagt Dörfler.

Die weib­li­che Beschnei­dung erfolgt übli­cher­weise im Alter zwi­schen 0 und 15 Jah­ren in asia­ti­schen und afri­ka­ni­schen Län­dern sowie im Nahen Osten. Abhän­gig von der jewei­li­gen Tra­di­tion wird die Geni­tal­ver­stüm­me­lung ent­we­der kurz nach der Geburt, im Kin­des­al­ter, in der Puber­tät oder unmit­tel­bar vor oder nach der Ehe­schlie­ßung oder der ers­ten Ent­bin­dung vor­ge­nom­men. Die­ser mehr als 5.000 Jahre alten Pra­xis lie­gen gesell­schaft­li­che Tra­di­tio­nen, ästhe­ti­sche Ideale und Vor­stel­lun­gen über weib­li­che Rein­heit und Sexua­li­tät zugrunde. „Die weib­li­che Beschnei­dung bedeu­tet in afri­ka­ni­schen Lan­des­spra­chen ‚Rein­heit‘. Daher ist das Pro­ze­dere für Afri­ka­ne­rin­nen aus Soma­lia, dem Tschad, Mali und Eri­trea etwas völ­lig Nor­ma­les. Für diese Frauen sind wir unrein, weil wir nicht beschnit­ten sind“, erklärt Dörf­ler. Häu­fig wür­den sich die beschnit­te­nen Frauen damit recht­fer­ti­gen, dass sie im Gegen­satz zu Euro­päe­rin­nen bei­spiels­weise nie­mals eine Brust-Ver­grö­ße­rung vor­neh­men las­sen würden.

Die WHO unter­schei­det vier Typen der weib­li­chen Geni­tal­be­schnei­dung die je nach Umfang des Eingriffs
mit zum Teil schwer­wie­gen­den und lang­fris­ti­gen gesund­heit­li­chen Fol­gen ein­her­ge­hen. Der Typ III – die Infi­bu­la­tion – wird mit unge­fähr 15 Pro­zent aller Beschnei­dun­gen vor­wie­gend in Ägyp­ten, Äthio­pien, Dschi­buti, Eri­trea, Mali, Soma­lia und dem Sudan durch­ge­führt. „In die­sen Län­dern benö­ti­gen Frauen die Beschnei­dung, um ver­hei­ra­tet wer­den zu kön­nen“, kon­kre­ti­siert Dörf­ler. In den übri­gen afri­ka­ni­schen Län­dern, Paki­stan oder Indien herr­schen tra­di­tio­nell Typ I und II vor. In Eth­nien mit star­ken tra­di­tio­nel­len Bin­dun­gen waren bis­lang weder das gesetz­li­che Ver­bot noch die straf­recht­li­che Ver­fol­gung erfolg­reich. „Wir beob­ach­ten viel­mehr, dass die Tra­di­tion bewahrt wird, indem auf alter­na­tive Rituale zurück­ge­grif­fen wird. Meist han­delt es sich dabei um Typ I der WHO-Klas­si­fi­ka­tion. Für eine öster­rei­chi­sche Gynä­ko­lo­gin ist die­ser Ein­griff oft schwer erkenn­bar. Die Sym­ptome kön­nen den­noch mas­siv sein.“

Weib­li­che Beschnei­dung: Formen

  • Typ I: Exzi­sion des Prae­pu­tium cli­to­ri­dis mit oder ohne Exzi­sion eines Teils oder der gan­zen Klitoris
  • Typ II: Exzi­sion von Kli­to­ris und Prae­pu­tium mit klei­nen Labien (Teil oder in toto)
  • Typ III: Exzi­sion der äuße­ren Geni­ta­lien und Ver­nä­hen der Vagi­nal­öff­nung (Infi­bu­la­tion)
  • Typ IV: Ver­schie­dene Vari­an­ten ohne nähere Klas­si­fi­ka­tion wie Ein­rit­zen von Klitoris/​Labien

Abklä­rung über Symptome

Schät­zun­gen der WHO zufolge ster­ben zehn Pro­zent der Frauen an den aku­ten Kom­pli­ka­tio­nen der Beschnei­dung und ein Vier­tel an der lang­fris­ti­gen Gesund­heits­schä­di­gung. Die jewei­li­gen gesund­heit­li­chen Fol­gen hän­gen vom all­ge­mei­nen Gesund­heits­zu­stand der Frau und den hygie­ni­schen Bedin­gun­gen beim Ein­griff ab. Zu den aku­ten Kom­pli­ka­tio­nen zäh­len Schmer­zen, Trauma oder Immo­bi­li­sa­tion. Lang­fris­tig kämp­fen Betrof­fene mit chro­ni­schen Schmerz­syn­dro­men, Mens­trua­ti­ons­stö­run­gen, aber auch Hepa­ti­tis oder HIV. „Mit betrof­fe­nen Frauen sollte man nicht pri­mär über ihren Kör­per, son­dern über die Sym­ptome ins Gespräch kom­men. Vor allem bei uner­füll­tem Kin­der­wunsch müs­sen die nie­der­ge­las­se­nen Kol­le­gin­nen hell­hö­rig wer­den“, sagt Dörf­ler. Mit vor­sich­ti­gen Fra­gen, ob als Kind ein chir­ur­gi­scher Ein­griff statt­ge­fun­den hätte oder ob eine Beschnei­dung erlebt wurde, kön­nen die Frauen zur Abklä­rung an eine Gynä­ko­lo­gin wei­ter­ver­mit­telt wer­den. Erfolg­los wird – so die Erfah­rung von Dörf­ler – eine psych­ia­tri­sche Inter­ven­tion blei­ben, denn „die Frauen dür­fen nicht über das Pro­ze­dere spre­chen – schon gar nicht mit einem Mann“. Am ehes­ten könne eine Ärz­tin zur Betrof­fe­nen durch­drin­gen. Aber auch Bro­schü­ren in den Lan­des­spra­chen tra­gen essen­ti­ell zur Auf­klä­rung bei. Beson­ders Schul­ärzte agie­ren oft als Ver­trau­ens­ärzte für afri­ka­ni­sche Mäd­chen und kön­nen daher bei häu­fi­gen Harn­wegs­ent­zün­dun­gen oder Mens­trua­ti­ons­be­schwer­den tätig wer­den. „Wich­tig dabei ist die gegen­sei­tige Wert­schät­zung“, betont Dörfler.

Rekon­struk­tive Therapieoptionen

Die Behand­lungs­op­tio­nen rei­chen von der Defi­bu­la­tion – um den Abfluss von Mens­trua­ti­ons­blut und Urin zu erleich­tern – bis zur kom­ple­xen plas­ti­schen Chir­ur­gie, um den Rest der Kli­to­ris frei­zu­le­gen oder eine Neo­glans zu for­men, die mit vagi­na­lem Schleim­haut­trans­plan­tat über­zo­gen wird. Die Defi­bu­la­tion ist indi­ziert, wenn die Pati­en­tin Schwie­rig­kei­ten beim Uri­nie­ren hat oder über schmerz­haf­ten Geschlechts­ver­kehr klagt. Aber auch bei Ein­schluss­zys­ten oder rezi­di­vie­ren­den Infek­tio­nen erfolgt eine Defi­bu­la­tion bezie­hungs­weise Ent­fer­nung der Zyste. Als Ziele all die­ser chir­ur­gi­schen Maß­nah­men nennt Dörf­ler, die Betrof­fe­nen von Schmer­zen beim Geschlechts­ver­kehr zu befreien und eine Schwan­ger­schaft zu ermög­li­chen. „Die meis­ten Frauen haben nach einer Defi­bu­la­tion keine Schmer­zen mehr und kön­nen auch nor­mal ent­bin­den“, sagt Dörf­ler. Äußerst sel­ten hin­ge­gen sei der Wunsch nach dem Lust­emp­fin­den beim Sexu­al­akt, wes­halb sich auch die Nach­frage nach Kli­to­ris-Rekon­struk­tio­nen in Öster­reich in Gren­zen hält. „Anhand von Bil­dern oder even­tu­ell mit­hilfe eines Spie­gels erkläre ich den Frauen, wie nor­male weib­li­che Geschlechts­or­gane aus­se­hen und funk­tio­nie­ren. Aller­dings wün­schen sich nur äußerst auf­ge­klärte Frauen einen bes­se­ren Geschlechts­ver­kehr – ohne Schmer­zen, aber mit Lustempfinden.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 11 /​10.06.2021