Obstipation durch Medikamente: Keine Befindlichkeitsstörung

10.05.2021 | Medizin


Die komplexe neuronale Kontrolle der Darmtätigkeit ist der Grund dafür, wieso zahlreiche Wirkstoffe als unerwünschte Nebenwirkung zur Obstipation führen. Da es sich um keine Befindlichkeitsstörung,  sondern um eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität handelt, sollte den Betroffenen die Angst vor der dauerhaften  Einnahme eines Laxans genommen werden.
Sophie Fessl

Zahlreiche Wirkstoffe können als Nebenwirkung eine Obstipation verursachen. Grund dafür ist auch die komplexe neuronale Kontrolle der Darmtätigkeit, erläutert Univ. Prof. Jörg Striessnig von der Abteilung Pharmakologie und Toxikologie am Institut für Pharmazie der Universität Innsbruck. „Die Nebenwirkung Obstipation kann einerseits direkt an der glatten Muskulatur des Darms und andererseits über die Nervenzellen des intrinsischen enteralen Nervensystems und dessen Kontrolle durch Sympathikus und Parasympathikus ausgelöst werden.“

Zu den Wirkstoffen, die eine Obstipation auslösen oder verstärken können, zählen Opioid­-Analgetika, Antihypertensiva wie Kalziumkanalblocker, Diuretika, aber auch Eisenpräparate, Antidepressiva, Antipsychotika, Neuroleptika, Antihistaminika, Antiepileptika, Spasmolytika, Aluminium­haltige Antazida und 5HT3­-Antagonisten. „Diese Liste lässt sich wahrscheinlich noch weiter fortsetzen“, betont Priv. Doz. Christine Kapral von der 4. Internen Abteilung für Gastroenterologie und  Hepatologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin, Stoffwechsel des Ordensklinikums Linz.

Anticholinergika, die etwa bei der Behandlung der überaktiven Blase eingesetzt werden, können auch eine Obstipation induzieren. Die anticholinergen Wirk substanzen blockieren muskarinerge Acetylcholin­-Rezeptoren, die an der Kontraktion der Muskel zellen im Darm beteiligt sind, und können so die Motilität des Darms herabsetzen. Weiters werden nikotinerge  Acetylcholin­-Rezeptoren inhibiert, die bei der Übertragung von Signalen zwischen enteralen Neuronen im Darm beteiligt sind.

Einige Wirkstoffe haben auch eine anticholinerge Wirkung, etwa Histamin­H1­Rezeptor­-Antagonisten (Antihistaminika) der ersten Generation, die auch als Antiemetika eingesetzt werden können, wie Diphenhydramin. Auch Antidepressiva – vor allem trizyklische Antidepressiva – haben eine ausgeprägte anticholinerge Wirkung und können so eine Obstipation auslösen. Anticholinerge Wirkungen können auch bei anderen Anti psychotika wie etwa bei Olanzapin zur Entwicklung einer Obsti pation beitragen.

Auch zytotoxische Chemotherapeutika können eine Obstipation hervorrufen. „Insbesondere Vinca-­Alkaloide wie Vincristin und Vinblastin sind hier zu nennen, aber auch bei anderen zytotoxischen Chemotherapeutika kann es zu einer Obstipation kommen, was durch eine toxische Störung des enteralen Nervensystems bedingt ist“, erklärt Striessnig. Die als Antiemetika auch im Rahmen einer zytotoxischen Chemotherapie eingesetzten 5HT3­-Rezeptor­Antagonisten können obstipierend wirken, da der Darmtätigkeit­stimulierende Mechanismus von im Darm lokal freigesetztem Serotonin inhibiert wird.

Eine direkte hemmende Wirkung auf die glatte Darmmuskulatur haben L­Typ­Kalziumblocker, die als Anti­anginosa, Antianginosa und Antiarrhythmika eingesetzt werden, und mit Obsti pation in Verbindung gebracht werden.

Eisen- und Kalziumsupplemente

Neben oralen Eisensupplementen wird auch bei Therapie mit Kalziumsupplementen, etwa im Rahmen der Osteoporose­-Therapie über obstipierende Wirkungen berichtet. Der zugrundeliegende, vermutlich lokale Mechanismus ist noch nicht geklärt, wie Striessnig erläutert. „Gastrointestinale Nebenwirkungen von Kalziumpräparaten können bei korrekter Anwendung jedoch nicht über die Kalzium­-Plasmakonzentration erklärt werden.“

Auch Störungen im Kaliumhaushalt stehen zum Teil im Zusammenhang mit einer Obstipation. „Die Funktion elektrisch erregbarer Zellen, also auch der glatten Darmmuskulatur sowie die elektrische Aktivität der enteralen Neuronen sind von einer ausgeglichenen Kalium-­Homöostase abhängig“, erklärt Striessnig. „Daher können auch Störungen im Kaliumhaushalt zu einer herabgesetzten Darmmotilität führen.“ Eine Hypokalämie – etwa im Rahmen einer Diuretikatherapie – kann eine Obstipation begünstigen. Die beim langzeitigen Abusus von stimulierenden Laxantien beobachtete Abnahme der Darmtätigkeit führt zu Kaliumverlusten und kann dazu beitragen, dass die elektrische Erregbarkeit der Darmmuskulatur im Sinne einer Verminderung der propulsiven Aktivität gestört wird.

„Auch bei neu in die Therapie eingeführten Arzneimitteln muss deren Potential für obstipierende Wirkungen, das für die spätere Praxis in den großen Zulassungsstudien oft nur schwer abschätzbar ist, beobachtet werden“, betont Striessnig. Für den in der Migräneprophylaxe eingesetzten CGRP-­Rezeptor-Antagonisten Erenumab ist Obstipation als Nebenwirkung aus klinischen Studien bekannt. Allerdings stellten sowohl die US­amerikanische Food and Drug Administration (FDA) als auch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) aufgrund von Post-Marketing­-Daten zusätzlich auch ein erhöhtes Risiko für Obstipation mit schweren Komplikationen fest.

Während meist eine individuelle Vorhersehbarkeit der Obstipation nicht möglich ist, tritt eine Opioid­induzierte Obstipation bei einem erheblichen Anteil der mit Opioiden behandelten Patienten auf. Diese wird vor allem durch eine Aktivierung der µ­-Opioid­-Rezeptoren auf enteralen Neuronen verursacht, die die propulsive Motorik auch im Colon herabsetzt.

Tritt eine Obstipation zum ersten Mal auf, sollte geklärt werden, ob ein zeitlicher Zusammenhang mit einer geänderten Medikation besteht. Besonders bei älteren Patienten sei eine Polypharmazie häufig, betont Kapral. „Eine Durchsicht der Medikamente in Hinblick auf die Nebenwirkung Obstipation ist oft lohnenswert und hilfreich.“ Außerdem ist eine genaue Anamnese sinnvoll, ob tatsächlich eine Obstipation besteht. „Patienten verstehen unter Obstipation oft etwas ganz Anderes als Ärzte“, warnt Kapral. Daher sollten zur Diagnose die Rom-­IV­-Kriterien der Obstipation herangezogen werden (siehe Kasten).

Außerdem muss erhoben werden, ob Alarmsymptome wie Blut im Stuhl, Gewichtsverlust, Anämie oder ein auffälliger rektaler Tastbefund bestehen. „In diesem Fall hat eine weitere Abklärung zu erfolgen, da der zeitliche Zusammenhang mit der geänderten Medikation nicht zwingend auch ein kausaler sein muss“, erläutert Kapral. Weiters sollte der Zeitpunkt der letzten Koloskopie erfragt werden; ebenso auch, ob Kontroll­bedürftige Pathologien vorlagen, um bei Bedarf eine neuerliche Untersuchung zu veranlassen.

„Eine Obstipation ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern geht mit einer deutlich eingeschränkten Lebensqualität für die Betroffenen einher“, betont Kapral die Notwendigkeit, bei Vorliegen einer Obstipation zu reagieren. Vorab sollte daher geklärt werden, ob eine andere Medikamentengruppe mit derselben Wirkung, aber ohne der Nebenwirkung Obstipation für die Behandlung in Betracht kommt.


Rom-IV-Kriterien für eine Obstipation

Laut den Rom-IV-Kriterien sollten mindestens zwei der folgenden Kriterien bei zumindest 25 Prozent der Stuhlentleerungen auftreten:

  • starkes Pressen beim Stuhlgang;
  • klumpiger oder harter Stuhl;
  • Gefühl der inkompletten Entleerung;
  • Gefühl der anorektalen Obstruktion/Blockierung;
  • manuelle Manöver zur Erleichterung der Defäkation;
  • weniger als drei Entleerungen pro Woche.

Wenn es nicht möglich ist, eine andere Medikamentengruppe zu wählen, ist eine symptomatische Therapie der Obstipation zu empfehlen. Die mildeste Therapie ist die Gabe von unlöslichen oder besser löslichen Ballaststoffen. Bei milder Obstipation sind osmotisch wirksame Laxativa hilfreich wie etwa Lactulose oder Macrogol. „Bei hartnäckigeren Beschwerden sollte man nicht zögern, stimulierende Laxativa wie Bisacodyl oder Natriumpicolsulfat langfristig einzusetzen“, ergänzt Kapral. Ein selektiver 5­HT4­-Rezeptor­-Agonist, Prucaloprid, kann in seltenen Fällen eingesetzt werden. Dieser stimuliert die intramuralen Nerven fasern und triggert den peristaltischen Reflex.

Prucaloprid kann auch bei der Opioid­-induzierten Obstipation eingesetzt werden. Auch bei einer Opioid-­induzierten Obstipation stehen die kostengünstigen Laxativa zur Verfügung, betont Striessnig. „Wenn aber mit üblichen Laxantien keine normale Stuhlfunktion hergestellt werden, können spezielle Laxantien mit Wirkung an µ-­Opioid­-Rezeptoren als Zweitlinientherapie und nur für die Dauer der Opioid­-Behandlung gegeben werden.“ Dazu zählt der kompetitive, selektive µ­-Opioid­-Rezeptor­-Antagonist Methylnaltrexon. Dieser ist nicht ZNS­-gängig und beeinflusst daher auch nicht die zentrale analgetische Wirkung. Der Wirkstoff wird subkutan verabreicht und eignet sich daher vor allem im intramuralen Bereich und in der Palliativbehandlung. Eine orale Alternative ist Naloxegol. Dieses pegylierte Derivat von Naloxon ist ebenfalls nur minimal ZNS­-gängig und wird einmal täglich verabreicht.

Neben der Therapie mit Laxantien sollten die Betroffenen zu unterstützenden Allgemeinmaßnahmen motiviert werden. Eine gesunde Ernährung mit ausreichend Ballaststoffen ist ein Grundpfeiler dieser Maßnahmen. Weiters zählt dazu die ausreichende Aufnahme von Flüssigkeit mit etwa 1,5 bis zwei Liter pro Tag. Eine verminderte Trinkmenge reduziert die Stuhlfrequenz. Allerdings bringt das Trinken von mehr als zwei Liter Flüssigkeit pro Tag bei Vorliegen einer Obstipation keinen Benefit. Da Inaktivität zu Obstipation führt, sollte auf regelmäßige körperliche Aktivität geachtet werden, wobei exzessives Training wiederum keinen Einfluss auf die Stuhlfrequenz hat. „Ich halte es für am wichtigsten, den Betroffenen die Angst vor der regelmäßigen und dauerhaften Einnahme eines Abführmittels zu nehmen“, betont Kapral. „Die meisten Patienten zeigen sich sehr erleichtert, wenn ihnen diese Angst genommen wird.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2021