Mul­ti­ple Skle­rose: Vor­beu­gende Therapie

25.04.2021 | Medizin


Mitt­ler­weile haben The­ra­pien bei Mul­ti­pler Skle­rose das Ziel, nicht nur das Auf­tre­ten wei­te­rer Schübe zu ver­hin­dern, son­dern jeg­li­che Krank­heits­ak­ti­vi­tät zu unter­drü­cken. Aktu­ell sind Zulas­sungs­stu­dien für bestimmte For­men von Tyro­sin-Kinase-Inhi­bi­to­ren in Gang, von denen sich Exper­ten einen wei­te­ren Durch­bruch in der The­ra­pie erwarten.

Typi­sche Sym­ptome, die auf eine mög­li­che Mul­ti­ple Skle­rose hin­deu­ten, sind eine ein­sei­tige Visus­min­de­rung mit beglei­ten­dem Augen­be­we­gungs­schmerz sowie Sen­si­bi­li­täts­stö­run­gen, die län­ger als 24 Stun­den andau­ern. „Bei die­sen typi­schen Sym­pto­men sollte jeden­falls ein Neu­ro­loge auf­ge­sucht wer­den“, erklärt Priv. Doz. Peter Wipf­ler von der Mul­ti­plen Skle­rose Ambu­lanz am Uni­kli­ni­kum Salz­burg. Aber auch aty­pi­sche Sym­ptome, die nicht gleich an eine neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che den­ken las­sen – vor allem bei jun­gen Frauen – kön­nen mit Mul­ti­pler Skle­rose ver­ge­sell­schaf­tet sein. „Auch Mik­ti­ons­stö­run­gen kön­nen durch eine Mul­ti­ple Skle­rose ver­ur­sacht wer­den. Wenn hier keine andere Ursa­che gefun­den wird, sollte auch ein Neu­ro­loge hin­zu­ge­zo­gen werden.“ 

Die The­ra­pie der Mul­ti­plen Skle­rose hat sich vor allem in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren stark wei­ter­ent­wi­ckelt, berich­tet Wipf­ler. Mei­len­steine in der The­ra­pie dabei waren „inno­va­tive The­ra­pie­kon­zepte“ wie die gepulste Immun­re­kon­sti­tu­tion durch Induk­ti­ons­the­ra­pien, mit denen in Ein­zel­fäl­len ein Still­stand der Erkran­kung erreicht wird. Wäh­rend frü­her nur die schub­för­mi­gen Ver­laufs­for­men der Mul­ti­plen Skle­rose the­ra­piert wer­den konn­ten, so ste­hen mitt­ler­weile auch The­ra­pie­op­tio­nen für die Behand­lung der pri­mär chro­nisch pro­gre­di­en­ten und der sekun­där chro­nisch pro­gre­di­en­ten Mul­ti­plen Skle­rose zur Ver­fü­gung. Von einer rei­nen Injek­ti­ons­the­ra­pie (s.c. oder i.m.) hat sich das The­ra­pie­spek­trum auf orale Medi­ka­mente erwei­tert sowie auf ver­schie­dene Infu­sio­nen, die auch im Abstand von bis zu sechs Mona­ten ver­ab­reicht wer­den kön­nen. „Mitt­ler­weile haben die The­ra­pien das Ziel, nicht nur das Auf­tre­ten wei­te­rer Schübe zu ver­hin­dern, son­dern jeg­li­che Krank­heits­ak­ti­vi­tät zu unter­drü­cken. Bei MS-Schü­ben sollte daher unbe­dingt eine neu­ro­lo­gi­sche Vor­stel­lung erfol­gen, um die Effek­ti­vi­tät der The­ra­pie zu über­prü­fen und gege­be­nen­falls eine andere The­ra­pie­op­tion anzubieten.“ 

Für die nächs­ten Jahre erwar­tet Univ. Prof. Flo­rian Dei­sen­ham­mer von der Neu­ro­im­mu­no­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck wei­tere Durch­brü­che in der The­ra­pie der Mul­ti­plen Skle­rose. „Momen­tan lau­fen Zulas­sungs­stu­dien für bestimmte For­men von Tyro­sin-Kinase-Inhi­bi­to­ren. Mit ihnen wird 2024 oder 2025 vor­aus­sicht­lich die nächste Gene­ra­tion an Medi­ka­men­ten für die Behand­lung von Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose auf den Markt kommen.“ 

Lebens­lange Betreuung

Trotz der Wei­ter­ent­wick­lung der The­ra­pie­op­tio­nen bleibt die Mul­ti­ple Skle­rose eine Erkran­kung, die eine lebens­lange Betreu­ung der Pati­en­ten bedeu­tet. „Die The­ra­pie ist eigent­lich eine vor­beu­gende“, betont Wipf­ler. „Wir müs­sen daher die Pati­en­ten dabei unter­stüt­zen und zu einer oft jah­re­lan­gen medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie moti­vie­ren, um ein Fort­schrei­ten der Erkran­kung zu ver­hin­dern.“ Wich­tig sei laut Dei­sen­ham­mer auch die Moti­va­tion zur gesun­den Lebens­füh­rung. „Mul­ti­ple Skle­rose bedeu­tet, dass die Pati­en­ten Ver­ant­wor­tung über­neh­men müs­sen für ihren Lebens­stil und die regel­mä­ßige Kon­trolle von Neben­wir­kun­gen. Mit einer kla­ren Kom­mu­ni­ka­tion und guter Ver­trau­ens­ba­sis ist eine Grund­lage für die Lang­zeit­be­treu­ung geschaffen.“ 

Diese Lang­zeit­be­treu­ung von Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose erfor­dert zum Teil viel Koor­di­na­tion. Denn auf­grund der Sekun­där­schä­den durch die Bewe­gungs­ein­schrän­kung sei auch eine Zusam­men­ar­beit und Koor­di­na­tion mit ande­ren medi­zi­ni­schen Kräf­ten not­wen­dig, wie Dei­sen­ham­mer betont. „Neben der Neu­ro­lo­gie sind in der Behand­lung auch andere Dis­zi­pli­nen wie Uro­lo­gie und Psych­ia­trie gefragt. Auch Reha­bi­li­ta­ti­ons-Auf­ent­halte müs­sen koor­di­niert werden.“ 

Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen, Schmer­zen und Spas­tik benö­ti­gen eine kom­plexe The­ra­pie, oft ist eine chro­ni­sche Schmerz­the­ra­pie not­wen­dig. „Die moto­ri­schen Sym­ptome kön­nen wir mitt­ler­weile gut the­ra­pie­ren und oft schon sehr gut vor­beu­gend behan­deln, sodass diese nur mehr rela­tiv sel­ten bereits in frü­hen Sta­dien auf­tre­ten“, erläu­tert Wipf­ler. Und wei­ter: „Die frühe Stö­rung der kogni­ti­ven Fähig­kei­ten steht in den letz­ten Jah­ren im Fokus der For­schung.“ Oft sind zu Beginn einer Mul­ti­plen Skle­rose nur die kogni­ti­ven Fähig­kei­ten ein­ge­schränkt, die häu­fig selbst nicht wahr­ge­nom­men wer­den, aber mit ver­schie­de­nen kogni­ti­ven Tests über­prüft wer­den kön­nen. The­ra­pien, die rein auf die kogni­ti­ven Defi­zite abzie­len, gibt es nicht. „Um die kogni­tive Leis­tungs­fä­hig­keit lang­fris­tig zu gewähr­leis­ten, muss die Mul­ti­ple Skle­rose an sich früh und kon­se­quent the­ra­piert wer­den. Und bereits die kleins­ten kogni­ti­ven Ein­bu­ßen kön­nen für die meist jun­gen Pati­en­ten, die mit­ten im Arbeits­le­ben ste­hen, eine mas­sive Belas­tung sein.“ 

Auch psy­chi­sche Begleit­erkran­kun­gen kön­nen bei Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose auf­tre­ten. „Para­no­ide Psy­cho­sen etwa sind dop­pelt so häu­fig anzu­tref­fen wie in der Ver­gleichs­po­pu­la­tion“, führt Dei­sen­ham­mer an. Wich­tig sei auch die Depres­sion, die – wie bei vie­len Pati­en­ten mit einer chro­ni­schen Erkran­kung – auch bei Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose häu­fi­ger auf­tritt. „Es ist wich­tig, die Depres­sion früh­zei­tig zu erken­nen und zu behan­deln“, betont Wipf­ler. „Eine kor­rekte Behand­lung der Depres­sion bedeu­tet auch eine wesent­lich bes­sere Krank­heits­be­wäl­ti­gung der Mul­ti­plen Sklerose.“ 

Organ­schä­den als Nebenwirkung

Das Pro­fil der Neben­wir­kun­gen ist abhän­gig von der gewähl­ten The­ra­pie. Bei den meis­ten The­ra­pien kön­nen Organ­schä­den als Neben­wir­kung auf­tre­ten. Daher soll­ten das Blut­bild und die Leber­werte regel­mä­ßig kon­trol­liert wer­den. Die Inter­fe­ron Beta The­ra­pien, die vor etwa 25 Jah­ren auf den Markt kamen, rie­fen nach der Ver­ab­rei­chung Grippe-ähn­li­che Sym­ptome her­vor. „Bei den neue­ren infun­dier­ba­ren Medi­ka­men­ten tre­ten infu­si­ons­as­so­zi­ierte Neben­wir­kun­gen nicht so sel­ten auf. Sie sind aber durch gute medi­ka­men­töse Vor­be­rei­tung ver­meid­bar“, erläu­tert Wipfler. 

Als Sekun­där­schä­den der Immo­bi­li­tät sind auch die Häu­fig­keit von Throm­bo­sen sowie die Infekt­an­fäl­lig­keit erhöht. „Aber obwohl alle The­ra­pien in das Immun­sys­tem ein­grei­fen und die Infekt­ge­fahr durch die MS-The­ra­pie mini­mal erhöht ist, tre­ten schwer­wie­gende Infek­tio­nen nur sel­ten auf“, erklärt Wipf­ler. Bei ein­zel­nen hoch­ef­fi­zi­en­ten MS-The­ra­pien tritt eine Reak­ti­vie­rung des Vari­cella zos­ter-Virus häu­fi­ger auf als in Ver­gleichs­po­pu­la­tio­nen. Eine gefürch­tete oppor­tu­nis­ti­sche Erkran­kung ist die sel­tene pro­gres­sive mul­ti­fo­kale Leu­ken­ze­pha­lo­pa­thie (PML). Dabei sind mul­ti­ple Sym­ptome mög­lich; typisch sind epi­lep­ti­sche Anfälle, eine pro­gre­di­ente Hemi­sym­pto­ma­tik oder enze­pha­lo­pa­thi­sche Sym­ptome. „PML kann aber auch als schwe­rer MS-Schub ver­kannt wer­den. Daher muss man hell­hö­rig wer­den, wenn zum Bei­spiel ein pro­gre­di­ente Hemi­sym­pto­ma­tik oder epi­lep­ti­sche Anfälle bei MS-Pati­en­ten auftreten.“ 

COVID-19 ist der­zeit auch für Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose ein rele­van­tes Thema. „Aus­schlag­ge­bende Risi­ko­fak­to­ren für MS-Pati­en­ten sind der Behin­de­rungs­grad, das Alter und die Begleit­erkran­kun­gen. Hier ist das Risiko eines schwe­ren COVID-Ver­laufs erhöht“, betont Wipf­ler, der ergänzt, dass allen Pati­en­ten mit Mul­ti­pler Skle­rose auch eine SARS-CoV-2-Imp­fung emp­foh­len werde. (SF)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2021