Hörschäden bei Kindern: Bei ersten Anzeichen handeln

10.03.2021 | Medizin


In Österreich wird etwa ein Kind von 1.000 mit einem Hörschaden geboren. Wartet man auf Verzögerungen der Sprachentwicklung als Anzeichen eines Hörschadens, kann es mitunter zu spät sein, um das Kind adäquat zu fördern.
Sophie Fessl

Rund 32 Millionen Kinder sind laut WHO weltweit von einem Hörverlust betroffen. Rund eines von 1.000 Kindern wird in Österreich mit einem Hörschaden geboren. Im Laufe der Kindheit erwerben noch zwei von 1.000 Kindern einen gering- bis höhergradigen Hörschaden. Die meisten angeborenen Hörschäden sind mittlerweile genetisch bedingt. „Früher war Sauerstoffmangel unter der Geburt ein Wegbereiter für viele Schäden und damit eine Hauptursachen für frühkindliche Hörschäden“, sagt Univ. Prof. Wolfgang Gstöttner von der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten an der Medizinischen Universität Wien. „Diese Situation hat sich wesentlich gebessert. Daher sind genetische Schäden mittlerweile für die Mehrzahl der angeborenen Hörschäden verantwortlich.“

Mehr als 200 verschiedene Gendefekte, die zu frühkindlichen Hörstörungen führen, sind bekannt; nach weiteren wird geforscht. Die Gendefekte verursachen meist Schallempfindungsschwerhörigkeit, also eine verminderte Schallaufnahme oder Schallverarbeitung im Innenohr. Sie führen beispielsweise dazu, dass die Haarzellen ihre Funktion nicht erfüllen, die Cochlea nicht richtig angelegt ist oder einzelne Proteine, etwa Connexin 26, im Innenohr nicht korrekt funktionieren. Eine weitere Ursache für angeborene Hörschäden sind virale Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft: Eine pränatale Infektion – etwa mit Röteln- oder Zytomegalieviren – kann eine Taubheit des Kindes verursachen.

Virale Infektionen in der frühen Kindheit sind auch einer der Hauptgründe für eine erworbene Schallempfindungsschwerhörigkeit im Kindesalter. Es kann zu einer direkten Schädigung der Haarzellen und Nerven durch die Viren kommen. „Auch bakterielle Infektionen, Entzündungen sowie Verletzungen – vor allem ein Schädelbruch – können sich auf das Hören auswirken.“ Weiters können ototoxische Medikamente wie etwa im Rahmen einer Chemotherapie verabreichte Zytostatika zu einer Schwerhörigkeit führen.

Basis: chronisches Mukotympanon

Der häufigste erworbene Hörschaden im Kindesalter ist allerdings eine passager auftretende Schallleitungsschwerhörigkeit, eine Störung der Schallübertragung im äußeren Gehörgang oder im Mittelohr, die auf Basis eines chronischen Sero- oder Mukotympanons entsteht. „Die schlechte Belüftung der Mittelohren bei Kindern führen zu einem Sekretstau, wodurch die Beweglichkeit des Trommelfells beeinträchtigt wird“, erläutert Assoz. Prof. Joachim Schmutzhard von der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Medizinischen Universität Innsbruck. Weitere Ursachen für eine akute Schallleitungsschwerhörigkeit in der Kindheit sind akute Otitis media/Otitis externa, Tubenkatarrh sowie traumatische Trommelfellperforationen. Wenn Bakterientoxine einer Otitis media in das Innenohr einwandern, kann es in weiterer Folge zur Schädigung des Innenohrs und einer Schallempfindungsschwerhörigkeit kommen.

Ab etwa dem zehnten Lebensjahr spielt auch Lärm eine Rolle in der Entstehung von Hörschäden. Eine Dauerbelastung durch regelmäßiges, langes Hören von Musik über Kopfhörer kann eine Hörbeeinträchtigung verursachen, berichtet Gstöttner. „Es hängt auch von der genetischen Veranlagung ab, aber auch von der Dauer und der Intensität des Lärms. Wenn jemand zehn Stunden am Tag Musik hört, genügen auch 70 bis 80 Dezibel, um durch die Dauer das Hören zu beschädigen.“ Bei Lärmspitzen hingegen, etwa bei Silvesterknallern oder lauten Konzerten, können auch kurze Einwirkungen zu Schäden führen, die bei früher Behandlung reversibel sind. Chronische Hörschäden treten vor allem durch Lärmbelastung in der Arbeit, aber auch bei Chorsängern auf. Diese beginnen mit einem Hochtonabfall; über die Jahre kommt es zur irreversiblen Verschlechterung der Innenohrfunktion, die nur mit einem Hörgerät oder einem Implantat behandelt werden kann.  

Altersadaptierte Diagnostik

Seit 2003 ist in Österreich das Neugeborenen-Hörscreening im Mutter-Kind-Pass verankert. So sollen angeborene Hörschäden erkannt werden. „Eine frühzeitige Diagnose ist notwendig, um rechtzeitig intervenieren zu können“, erläutert Schmutzhard. Meist werden bereits in der ersten Lebenswoche die otoakustischen Emissionen gemessen, um die Funktion des Innenohrs zu prüfen. „Die äußeren Haarzellen des Innenohrs kontrahieren sich frequenzspezifisch zur besseren Frequenzauflösung. Diese Kontraktionen kann man mittels otoakustischer Emissionen messen.“

Wenn otoakustische Emissionen nicht nachweisbar sind, werden zur diagnostischen Absicherung akustisch evozierte Hirnstammpotentiale abgeleitet. Dabei werden im Schlaf oder unter Sedierung definierte Hörreize gegeben und die Aktionspotentiale der Schädeloberfläche abgeleitet. Gstöttner dazu: „Die Hirnstamm-Audiometrie zeigt, ob die Hörbahn angelegt und aktiv ist.“ Bei angeborenen Hörschäden erfolgt außerdem eine genetische Abklärung sowie eine strukturelle Abklärung mittels MRT und CT, um den Schaden oder die Fehlbildung zu lokalisieren.

Bei Neugeborenen beziehungsweise Kleinkindern mit angeborenen Hörschäden muss bis zum Ende des ersten Lebensjahrs entschieden werden, wie das Kind versorgt wird. „Als Elternteil ist man verpflichtet, dem Kind irgendeine Möglichkeit der Kommunikation zu bieten“, erklärt Schmutzhard. Einerseits besteht die Möglichkeit, das Kind in Gebärdensprache zu sozialisieren, andererseits kann eine Cochlea-Implantation durchgeführt werden. Besonders deswegen sind eine rasche Entscheidung und auch rasches Handeln wichtig. „Kinder, die vor dem ersten Lebensjahr mit einem Cochlea-Implantat versorgt werden, haben – unter der Voraussetzung einer korrekten Förderung – eine normale Sprachentwicklung.“

Eltern sollten speziell bei kleinen Kindern das Hören sehr aufmerksam beobachten, betont Gstöttner. „Wenn man auf Verzögerungen der Sprachentwicklung als Anzeichen eines Hörschadens wartet, ist es mitunter zu spät, um das Kind adäquat zu fördern.“ Anzeichen eines Hörschadens können etwa Schwierigkeiten bei der Lokalisation von Lärm sein oder wenn Kinder bei lautem Hintergrund nicht aufwachen. „Oft berichten Eltern, ihr Kind habe auf Rufen oder Klopfen gehört und sie haben daher keinen Verdacht geschöpft. Doch das Kind spürte und reagierte auf die Vibrationen“, erklärt Gstöttner. „Am besten spricht man das Kind leise von der Seite an. Reagiert es gar nicht, sollte man das bei einem Hörtest abklären.“ Bei etwas älteren Kindern fällt auf, dass sie öfter nachfragen oder CD-Player und Fernseher laut einschalten. Laut Schmutzhard sollte bei diesen Anzeichen eine mögliche Schallleitungsschwerhörigkeit abgeklärt werden.

Die weitere Diagnostik hängt vom Alter und den Möglichkeiten des Kindes ab. Ist eine koordinierte Antwort – etwa bei Säuglingen – noch nicht möglich, werden otoakustische Emissionen beziehungsweise akustisch evozierte Hirnstammpotentiale gemessen. Bei der Impedanz-Audiometrie wird die Beweglichkeit des Trommelfells gemessen. Eine weitere Möglichkeit ist die Verhaltensaudiometrie, bei der die Zuwendungsreaktionen der Augen oder des Kopfes gemessen werden. Bei größeren Kindern werden Techniken der Spielaudiometrie eingesetzt. „Im Freifeld werden dem Kind unterschiedlich laute Töne und Lichter präsentiert und ihre Reaktion darauf gemessen. Diese Tests sollten von erfahrenen Pädaudiologen durchgeführt werden“, betont Gstöttner. Bei Verdacht auf höhergradige Hörschäden wird auf objektive Messkriterien wie otoakustische Emissionen oder Hirnstammpotentiale zurückgegriffen.

Hörschaden bestimmt Therapie

Die therapeutischen Möglichkeiten bei Hörschäden im Kindesalter hängen von der Art und vom Schweregrad des Schadens ab. Schäden im Innenohr können nicht ursächlich behandelt werden, betont Schmutzhard. „An Gentherapie wird geforscht. Allerdings ist noch keine Therapie entwickelt worden.“ Schädigungen im Mittelohr durch einen Sekretstau können – wenn abschwellende Medikamente nicht zum Erfolg führen – mit einer Paracentese behoben werden, die in den meisten Fällen zur Ausheilung führt. Bleibt der Erfolg aus, ist vorübergehend der Einsatz eines Paukenröhrchens möglich.

Bei einer leichten Schwerhörigkeit aufgrund von Schäden im Innenohr – definiert als Hörverlust zwischen 20 und 30 dB – kann das Kind mit einem Hörgerät versorgt werden. Allerdings ist das nicht immer notwendig. Eine Beobachtung der beeinträchtigten Frequenzbereiche könne laut Gstöttner ausreichen. „Aber die Schule sollte genau informiert werden, wie das Kind durch die richtige Position in der Klasse am besten unterstützt werden kann.“ Bei einer mittelgradigen Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust bis zu 60 dB benötigt das Kind ein Hörgerät. Zusätzlich sollte in jungen Jahren das Hören trainiert und zumindest einmal im Jahr eine Verlaufskontrolle durchgeführt werden. Bei mittlerer bis schwerer Schallleitungsschwerhörigkeit kann die Versorgung mit einem Mittelohrimplantat das Hören überbrücken und die Schwerhörigkeit behandeln.

Auch bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 70 bis 80 dB wird ebenfalls ein Hörgerät eingesetzt. „Wenn die Versorgung mit einem Hörgerät nicht möglich ist, können diese Kinder mit einem Cochlea-Implantat versorgt werden“, berichtet Gstöttner. „Ab einem Hörverlust von 80 dB reicht ein Hörgerät nicht mehr, um den Schaden auszugleichen, und es besteht die Möglichkeit einer Cochlea-Implantation.“

Besonders für die kindliche Entwicklung sei die rechtzeitige Diagnose und Behandlung wichtig, so Gstöttner. „Bei Verdacht oder einer fraglichen Reaktion sollte rasch ein Hörtest gemacht werden. Oft ist es eine harmlose Hörstörung aufgrund von Flüssigkeit im Ohr. Aber es muss abgeklärt werden.“ Wird nicht behandelt und nicht ausreichend gefördert, kann es zu Defiziten in der Sprachentwicklung kommen, weiß Schmutzhard. „Das Kind artikuliert nicht adäquat oder kann Sprache nicht adäquat bilden. Hier ist eine rasche Behandlung und Förderung notwendig, damit das Kind nicht hinter seinen potentiellen Erwartungen zurückbleibt.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2021