Harnwegsinfekte bei Kindern: Immer weiter abklären

25.05.2021 | Medizin

Können Krankheitssymptome bei einem Kind nicht eindeutig auf Ohrenschmerzen oder eine Bronchitis zurückgeführt werden, sollte an einen Harnwegsinfekt gedacht werden. Ein fieberhafter Harnwegsinfekt sollte immer weiter abgeklärt werden, um eine spätere irreparable Schädigung der Nieren auszuschließen.
Sophie Fessl

Rund zehn Prozent der Mädchen und drei Prozent der Knaben erleiden bis zum 18. Lebensjahr einmal einen fieberhaften Harnwegsinfekt“, erläutert Prim. Univ. Doz. Josef Oswald von der Abteilung für Kinderurologie des Ordensklinikums Linz Barmherzige Schwestern, dem nationalen Expertisezentrum für seltene kinderurologische Erkrankungen. Während Buben besonders im ersten Lebensjahr betroffen sind, steigt die Häufigkeit von Harnwegsinfekten bei Mädchen ab dem zweiten Lebensjahr. „Die Nieren können durch die aufsteigende Infektion vor allem bei verzögerter Diagnostik wie Therapie irreversibel geschädigt werden. Im Kindesalter sind die Nieren in einer vulnerablen Entwicklungsphase, dies kann zu ausgeprägten Nierennarben beziehungsweise dauerhaften Nierenschädigungen führen.“

Die Symptome eines Harnwegsinfekts sind altersabhängig. Typische Beschwerden bei Schulkindern sind Pollakisurie, sekundäre Enuresis, diffuse Bauchschmerzen, Flankenschmerzen, Erbrechen und beim febrilen Harnwegsinfekt hohes Fieber über 38,5 Grad. Bei Säuglingen zeigen sich unspezifische Symptome, berichtet Assoc. Prof. Alexander Springer von der Kinderurologischen Spezialambulanz am AKH Wien. „Bei Säuglingen deuten allgemeine Symptome von Krankheit wie Trinkunlust, Müdigkeit, Unruhe, Schreien und Schmerzen auf einen Harnwegsinfekt hin, im fortgeschrittenen Stadium auch Apathie.“ Aufgrund der Häufigkeit von Harnwegsinfekten im Kindesalter sollten diese bei Krankheitssymptomen, die nicht eindeutig auf eine andere Ursache zurückzuführen sind, unbedingt abgeklärt werden. „Wenn ein Kind krank ist und es nicht eindeutig etwa auf Bronchitis oder Ohrenschmerzen zurückführbar ist, sollte an einen Harnwegsinfekt gedacht werden.“

Die Anamnese ist daher besonders wichtig, betont Patrick Rein, Facharzt für Urologie in Dornbirn und Leiter des Arbeitskreises Kinderurologie der Österreichischen Gesellschaft für Urologie. „Bei einem erstmaligen Harnwegsinfekt sollte neben Dauer und Stärke der Beschwerden auch erfragt werden, ob das Kind den Harndrang unterdrückt und einkotet und ob der Harnstrahl abweicht.“ Bei der klinischen Untersuchung sollte eine Palpation von Abdomen, Unterbauch, Mittelbauch und Flanke durchgeführt werden. Eine Untersuchung auf Auffälligkeiten am äußeren Genitale wie eine Phimose sollte obligat in Anwesenheit der Eltern erfolgen.

Die Harndiagnostik ist essentiell in der Diagnose kindlicher Harnwegsinfekte. Bei älteren Kindern wird am besten Mittelstrahlharn gewonnen und mittels Harnstreifen analysiert. Bei nicht Toiletten-trainierten Kindern wird Beutelurin mittels Klebebeutel gewonnen oder eine Harnportion über die „Clean Catch Methode“ aufgefangen. Mittels Urinteststreifen sollte das Vorhandensein von Leukozyten, Erythrozyten und Nitrit untersucht werden.

Allerdings ist ein positiver Befund bei Beutelurin nicht beweisend, erläutert Oswald. „Ein negativer Befund ist ausschließend. Ein positiver Befund kann auch eine andere Ursache haben und muss durch Katheter-Urin bestätigt werden. Bei Kindern sollte der Katheter in einer Klinik gesetzt werden.“ Die suprapubische Punktion zur Harngewinnung spielt in Österreich eine untergeordnete Rolle. Obligat sollte eine Harnkultur angelegt werden. „Gerade bei nicht Toiletten-trainierten Kindern ist die Harnkultur beweisend“, betont Springer. „Wenn es irgendwie möglich ist, sollte eine Harnkultur gemacht werden, weil die Keimzahl der Beweis ist. Gleichzeitig können die Antibiotika-Resistenz getestet und das Keimspektrum analysiert werden.“

Als Komplikationen des fieberhaften Harnwegsinfekts können Urosepsis und Schock auftreten; besonders bei kleinen Kindern kann sich der Zustand rasch verändern. „Wenn das Fieber nach 24 Stunden nicht sinkt oder sich der Allgemeinzustand verschlechtert, was sich in Trinkunlust oder hohem Fieber äußert, sollte das Kind hospitalisiert werden“, betont Springer. Beginnt man nicht rechtzeitig mit einer suffizienten Therapie, seien langfristige Schäden an den Nieren möglich – besonders Nierennarben im Nierenparenchym, die zu Einschränkungen der Nierenfunktion führen können, warnt Oswald.

Harnwegsinfekte werden mit einer gewichtsadaptierten antibiotischen Therapie je nach Resistenzlage der Region beziehungsweise abgestimmt auf das in der Harnkultur bestimmte Keimspektrum behandelt. Bei fieberhaften Harnwegsinfekten empfiehlt Oswald die parenterale Gabe von Antibiotika in einer Klinik. Für den Einsatz von Phytotherapeutika gibt es bei Kindern keine Evidenz. Als ergänzende Verhaltensmaßnahme wird zu ausreichender Flüssigkeitsaufnahme geraten.

Eine erweitere Diagnostik zur Abklärung der Ursache sollte nach einem fieberhaften Harnwegsinfekt sowie bei rezidivierenden nicht-fieberhaften Harnwegsinfekten erfolgen. „Bei Kindern sollte bereits nach dem ersten fieberhaften Harnwegsinfekt eine weiterführende Abklärung durchgeführt werden“, betont Oswald. „Meist geschieht das. Doch wir sehen immer wieder Kinder erst nach sieben, acht fieberhaften Harnwegsinfekten, bei denen die Niere bereits geschädigt ist.“ Auch bei Harnwegsinfekten im Säuglingsalter sollte eine weiterführende Abklärung erfolgen, um angeborene Fehlbildungen in der Harnröhre, der Blase und Harnleiter auszuschließen beziehungsweise zu detektieren.

Uropathien als Ursache

Die häufigste Ursache für einen fieberhaften Harnwegsinfekt ist der vesikoureterale beziehungsweise vesikorenale Reflux, der bewiesen oder ausgeschlossen werden muss. Weitere Uropathien, an die bei Harnwegsinfekten gedacht werden sollte, sind die Doppelniere, Hydronephrose, Ureterabgangsstenose, Megaureter und der obstruktive Ureter. In der weiterführenden Diagnostik wird zunächst ein Ultraschall der Nieren und ableitenden Harnwege durchgeführt. „Ist der Ultraschall komplett unauffällig, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit keine hochgradige Uropathie – fehlender Harnleiter, vesikorenaler Reflux – vor“, berichtet Springer aus der Praxis. Mittels Miktionszysturethrographie kann ein vesikorenaler Reflux ausgeschlossen werden. Die DSMA-Szintigraphie wird eingesetzt, um das Vorhandensein von Nierenparenchymschäden zu überprüfen. „Die invasivste diagnostische Möglichkeit ist die Blasenspiegelung, die im Kindesalter immer in Sedierung erfolgt und deswegen zurückhaltend indiziert ist.“

Beim vesikoureteralen Reflux ist die Ventilfunktion zwischen Harnleiter und Blase gestört mit einem retrograden Fluss von Harn aus der Harnblase bis in das Nierenbecken. „Die Fehlbildung ist angeboren. Damit diese manifest wird und die Nieren schädigt, liegt bei Buben meist eine Harnröhrenproblematik vor, die im Röntgen nicht sichtbar ist. Bei Mädchen wird der Reflux meist erst bei Erreichen der Blasenkontrolle durch eine Dyskoordination von Beckenboden und Blasenkontraktion manifest“, berichtet Oswald.

Die Harnröhrenproblematik entsteht durch dünne Membranen in der Harnröhre, die zu einer Druckerhöhung führen. Diese Membranen entstehen bereits während der Embryonalentwicklung in der vierten bis fünften Schwangerschaftswoche. „Zu dieser Zeit ist die Harnröhre mit Membranen verschlossen, durch Apoptose verschwinden diese gänzlich. Wenn diese nur unvollständig stattfindet, bleiben Residualklappen bestehen, die in einer endoskopischen Untersuchung sichtbar sind“, erklärt Oswald. Während der endoskopischen Untersuchung werden die Residualklappen inzidiert. „Wir sehen allerdings auch Kinder, bei denen es aufgrund von Residualklappen bereits in utero zu einer Schädigung der Niere gekommen ist.“

Bei Mädchen wird der vesikoureterale Reflux meist durch eine Blasenfunktionsstörung, dem „dysfunctional voiding“, nach Erlangung der Blasenkontrolle manifest. Hier ist die Koordination zwischen der Kontraktion der Blase und der Relaxation des Beckenbodens dysfunktional. Dadurch kommt es zu einer Erhöhung des Drucks und der vesikorenale Reflux wird manifest. Auch diese Dysfunktion ist behandlungsbedürftig – etwa indem die Koordination zwischen Beckenboden und Blase trainiert wird. „Mittels Beckenboden-EMG-Bestimmung und verschiedener Visualisationstechniken erlernen die Kinder mit einer Urotherapeutin, eine gute Koordination zu erlangen.“

Der vesikoureterale Reflux selbst kann durch eine minimal invasive endoskopische Refluxtherapie behandelt werden mittels Unterspritzung der Harnleitermündungsstelle mit Hyaluronsäure und Dextranomer. Dadurch nähern sich die Ureterwände wieder an und die Ventilfunktion wird wiederhergestellt. „Bei rund 80 Prozent der Kinder kann der Reflux so behandelt werden“, berichtet Oswald. Und weiter: „Kinder mit einem schwerem Refluxgrad, Megaureter oder schwerer Nierenschädigung behandeln wir chirurgisch in Form der Harnleiterneuimplantation nach Cohen. Da liegt die Erfolgsrate bei 99 Prozent.“

Besonders bei älteren Mädchen können funktionelle Blasenentleerungsstörungen zu Harnwegsinfekten führen. Springer dazu: „Funktionelle Blasenentleerungsstörungen sind sehr häufig, aber nicht trivial und manchmal sehr schwer zu behandeln.“ Auch Verstopfung im Sinne einer Bladder-Bowel Elimination Disorder ist eine häufige Ursache von Harnwegsinfekten. Daher sei auch eine Stuhlgangregulation ein weiteres Mittel zur Vermeidung von Harnwegsinfektionen. „Funktionelle Blasenstörungen wie eine überaktive Harnblase gepaart mit einer Obstipation sind eine häufige Ursache für einen rezidivierenden Harnwegsinfekt“, berichtet Rein. „Diese Ursachen kann man konservativ mit Verhaltenstherapie oder medikamentös gut therapieren. In hartnäckigeren Fällen ist eine professionelle Anleitung in der Blasenschule notwendig.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2021