Harn­wegs­in­fekt im Alter: Abgren­zung wichtig

25.10.2021 | Medizin

Bei Harn­wegs­in­fek­ten ist die Abgren­zung zur asym­pto­ma­ti­schen Bak­te­ri­urie, deren Inzi­denz im Alter steigt, the­ra­peu­tisch wich­tig, da diese keine Indi­ka­tion für eine Anti­bio­tika-The­ra­pie dar­stellt. Vor einer anti­mi­kro­biel­len Lang­zeit­pro­phy­laxe soll­ten alle ande­ren Pro­phy­laxe-Optio­nen ver­sucht werden.
Sophie Fessl

Harn­wegs­in­fekte sind die zweit­häu­figste Infek­tion mit zwei

Alters­gip­fel: in der Kind­heit und Prä­pu­ber­tät – hier beson­ders bei Mäd­chen sowie im Alter, wo sie bei bei­den Geschlech­tern gehäuft auf­tre­ten. „Harn­wegs­in­fekte sind mit einem Anteil von 25 Pro­zent nach der Pneu­mo­nie der zweit­häu­figste Grund für eine Auf­nahme von Pati­en­ten über 65 Jah­ren aus Pfle­ge­hei­men“, berich­tet Univ. Prof. Ste­phan Maders­ba­cher von der Abtei­lung für Uro­lo­gie und Andro­lo­gie der Kli­nik Favo­ri­ten in Wien.

„Der wahr­schein­lich wich­tigste Risi­ko­fak­tor für Harn­wegs­in­fekte bei älte­ren Frauen sind schon in der Jugend begin­nende rezi­di­vie­rende Harn­wegs­in­fek­tio­nen, unter denen 2,4 Pro­zent aller Frauen wirk­lich lei­den“, berich­tet Univ. Prof. Flo­rian Thal­ham­mer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin I an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Warum das so ist, ist jedoch nicht bekannt, erläu­tert Maders­ba­cher. „Es wird ange­nom­men, dass sowohl gene­ti­sche Fak­to­ren als auch das Mikro­biom eine Rolle spielen.“

Zahl­rei­che Risi­ko­fak­to­ren für die Ent­ste­hung von Harn­wegs­in­fek­ten im Alter sind bekannt, berich­tet Thal­ham­mer. „Risi­ko­fak­to­ren sind erhöhte Rest­harn­men­gen, neu­ro­lo­gi­sche Stö­run­gen der Harn­ent­lee­rung, erhöhte Glu­ko­surie durch einen Dia­be­tes mel­li­tus, häu­fige Kathe teri­sie­run­gen bezie­hungs­weise Dau­er­ka­the­ter, Harn­steine sowie bei der Frau ver­min­derte Lac­to­ba­cil­lus flora vagi­nal post­me­no­pau­sal.“ Alters­be­dingt komme eine ver­min­derte Pro­duk­tion von Tamm-Hors­fall-Pro­tein – auch bekannt als Uromo­du­lin – dazu.

Beson­ders bei älte­ren Frauen ist auch der Östro­gen­man­gel ein wich­ti­ger Fak­tor, der the­ra­peu­tisch genutzt wer­den kann. Wei­ters spie­len bei Frauen Ver­än­de­run­gen in der Funk­ti­ons­weise des unte­ren Harn­trakts eine Rolle; vor allem Harn­in­kon­ti­nenz und Rest­harn­bil­dung sind Ursa­chen für ver­mehrte Harn­wegs­in­fekte im Alter. „Bei älte­ren Män­nern führt neben gene­ti­schen Fak­to­ren und dem Mikro­biom auch die ver­grö­ßerte Pro­stata dazu, dass Harn nicht mehr so gut ent­leert wird. Die Rest­harn­bil­dung prä­dis­po­niert zu Infek­ten“, erklärt Madersbacher.

Risi­ko­fak­tor Katheterisierung

Pfle­ge­be­dürf­tige ältere Men­schen haben ein höhe­res Risiko, infolge der all­ge­mei­nen Schwä­che und kom­pro­mit­tier­ten Infekt­ab­wehr im Alter, berich­tet Maders­ba­cher. „Die Kathe­te­ri­sie­rung ist einer der wich­tigs­ten Risi­ko­fak­to­ren für Harn­wegs­in­fekte. Aller­dings ist hier die Unter­schei­dung zwi­schen asym­pto­ma­ti­scher Bak­te­ri­urie und sym­pto­ma­ti­schem Harn­wegs­in­fekt essen­ti­ell.“ Bei der asym­pto­ma­ti­schen Bak­te­ri­urie sind sowohl ein Test mit­tels Harn­strei­fen als auch die Bak­te­ri­en­kul­tur aus dem Harn posi­tiv, die Pati­en­ten zei­gen aber keine Sym­ptome. Bei Kathe­te­ri­sie­rung steigt das Risiko für eine asym­pto­ma­ti­sche Bak­te­ri­urie, laut Maders­ba­cher, pro Tag um drei bis zehn Pro­zent. Bei prak­tisch allen Pati­en­ten, die län­ger als zwei Wochen einen Kathe­ter tra­gen, fin­det sich somit eine asym­pto­ma­ti­sche Bak­te­ri­urie. „Die Dau­er­ka­the­ter­trä­ger, auch jene mit einem Cys­to­fix, haben nahezu immer eine bak­te­ri­elle Kolo­ni­sa­tion“, so Thalhammer.

Eine asym­pto­ma­ti­sche Bak­te­ri­urie ist keine Indi­ka­tion für die Gabe von Anti­bio­tika, betont Maders­ba­cher. „Es ist grund­le­gend falsch, bei Pati­en­ten mit asym­pto­ma­ti­scher Bak­te­ri­urie ein Anti­bio­ti­kum zu geben. Außer­dem ist das einer der wesent­li­chen Ursa­chen für die Ent­wick­lung von Anti­bio­ti­ka­re­sis­ten­zen.“ Die asym­pto­ma­ti­sche Bak­te­ri­urie tritt auch im jün­ge­ren Lebens­al­ter auf und wird nur in weni­gen Fäl­len behan­delt. Aus­nah­men sind Schwan­gere, da eine Harn­wegs­in­fek­tion für das unge­bo­rene Kind nach­tei­lig sein kann, sowie schwer Immun­sup­p­ri­mierte und Pati­en­ten vor endou­ro­lo­gi­schen Ein­grif­fen (vor allem TURP und Ure­tero­reno­sko­pien); hier besteht eine Indi­ka­tion. Außer in die­sen Fäl­len bleibt eine anti­bio­ti­sche The­ra­pie den Pati­en­ten vor­be­hal­ten, die Sym­ptome einer Harn­wegs­in­fek­tion zei­gen. Aller­dings kön­nen bei älte­ren Per­so­nen die typi­schen Sym­ptome eines Harn­wegs­in­fekts wie Dys­urie, Poly­urie, Poll­a­ki­su­rie oder eine Makro­hä­ma­tu­rie feh­len. „Ger­ia­tri­sche Pati­en­ten kön­nen sich auch nur mit Fie­ber oder einer kogni­ti­ven Ver­schlech­te­rung prä­sen­tie­ren. Hier muss man auch an einen Harn­wegs­in­fekt als Ursa­che den­ken“, erklärt Madersbacher.

Mit­tel­strahl­harn vs Katheterharn

Für die Dia­gnose einer Harn­wegs­in­fek­tion sind neben der kli­ni­schen Sym­pto­ma­tik der posi­tive Keim­nach­weis mit einer Keim­an­zahl von mehr als 105/​ml ent­schei­dend. Wäh­rend bei männ­li­chen Pati­en­ten meist ein Mit­tel­strahl­harn aus­reicht, ist bei älte­ren Frauen, laut Maders­ba­cher, die Gewin­nung eines Kathe­ter­harns mit­tels Ein­mal­ka­the­ter not­wen­dig. Beson­ders bei älte­ren Pati­en­ten reicht ein Harn­strei­fen für die Dia­gnose nicht aus, betont Thal­ham­mer. „Der Harn­strei­fen ist eigent­lich ein schlech­ter Test, da die­ser häu­fig falsch posi­tiv – Harn steht lange, Kon­ta­mi­na­tion mit Vagi­nal­flüs­sig­keit oder falsch nega­tiv auf­grund von sau­rem Harn, Sta­phy­lo­kok­ken, Ente­ro­kok­ken, Can­dida – sein kann. Eine Harn­kul­tur sollte bei älte­ren Men­schen immer ange­legt wer­den – Aus­nahme ist die akute unkom­pli­zierte Zys­ti­tis bei der älte­ren Frau, um neben dem Erre­ger auch eine etwa­ige Resis­tenz detek­tie­ren zu können.“

Hohe Spon­tan­hei­lungs­rate

Sowohl nicht-anti­mi­kro­bielle als auch anti­mi­kro­bielle The­ra­pien ste­hen zur Behand­lung von Harn­wegs­in­fek­ten auch bei älte­ren Pati­en­ten zur Ver­fü­gung. „Aller­dings steht vor jeder The­ra­pie die Ana­mnese. Bei­spiels­weise ist es nicht uner­heb­lich, ob die Harn-wegsin­fek­tion nur im Zusam­men­hang mit einem Geschlechts­ver­kehr auf­tritt und das Gespräch mit der Pati­en­tin, wel­che The­ra­pie­op­tion ange­sichts einer Spon­tan­hei­lungs­rate von 30 bis 50 Pro­zent ein­ge­schla­gen wer­den soll“, erläu­tert Thalhammer.

Als nicht-anti­mi­kro­bielle The­ra­pie­op­tio­nen ste­hen Schmerz­me­di­ka­tion, Phy­to­prä­pa­rate oder Bla­sen­tees zur Ver­fü­gung. Bla­sen­tees wir­ken als Kom­bi­na­ti­ons­prä­pa­rate anal­ge­tisch, anti­mi­kro­biell, des­in­fi­zie­rend, diure­tisch und spas­mo­ly­tisch. Aller­dings dür­fen sie nicht ein­ge­setzt wer­den, wenn starke Schmer­zen, Fie­ber, Häma­tu­rie oder eine Pye­lo­n­e­phri­tis vor­lie­gen. Kommt es nach vier bis fünf Tagen Ein­nahme nicht zu einer Bes­se­rung, muss die Behand­lung mit Bla­sen­tees been­det wer­den. Außer­dem dür­fen die Neben­wir­kun­gen nicht außer Acht gelas­sen werden.

Bei rezi­di­vie­ren­den Harn­wegs­in­fek­ten sollte nach mög­li­chen Ursa­chen geforscht wer­den, berich­tet Maders­ba­cher aus der Pra­xis. „Ana­to­mi­sche Mal­for­ma­tio­nen, Bla­sen­steine und Nie­ren­steine kön­nen Ursa­chen für rezi­di­vie­rende Harn­wegs­in­fekte sein. Außer­dem sollte der Östro­gen­sta­tus kon­trol­liert wer­den.“ Bei Östro­gen­man­gel kann eine topi­sche Östro­gen­the­ra­pie zu einer bes­se­ren Durch­blu­tung füh­ren, und auch Harn­be­las­tungs- und Harn­dran­gin­kon­ti­nenz mode­rat verbessern.

Die anti­bio­ti­sche The­ra­pie erfolgt stan­dar­di­siert; Frauen wer­den in der Regel drei Tage anti­bio­tisch behan­delt, Män­ner fünf bis sie­ben Tage. Die Wahl des Anti­bio­ti­kums sollte gemäß dem loka­len Resis­tenz-Sta­tus erfol­gen, betont Maders­ba­cher. „Momen­tan ver­ab­rei­chen wir bevor­zugt Fos­fo­my­cin, Nitrof­u­ran­toin oder Piv­me­cil­linam. Gyrase-Hem­mer sind nicht erste Wahl, da bis zu 35 Pro­zent aller Esche­ri­chia coli-Stämme resis­tent sind. Dies ist aber der wich­tigste Erre­ger bei Harn­wegs­in­fek­tio­nen.“ Beson­ders bei rezi­di­vie­ren­den Harn­wegs­in­fek­tio­nen sei eine erre­ger­spe­zi­fi­sche, anti­bio­gramm­ge­rechte The­ra­pie zu for­dern, da die klas­si­schen Keime auch jene seien, die mehr­fach resis­tent sein könn­ten, so Thalhammer.

Dau­er­ka­the­ter: Bio­film vermeiden

Bei einem sym­pto­ma­ti­schen Harn­wegs­in­fekt bei lie­gen­dem Dau­er­ka­the­ter muss nach oder kurz vor Ende der Anti­bio­tika-The­ra­pie der Kathe­ter gewech­selt wer­den, um einen bak­tie­rel­len Befall bezie­hungs­weise die Bil­dung eines Bio­films am Kathe­ter zu ver­mei­den. Bei Dau­er­ka­the­ter­trä­gern setze sich, so Thal­ham­mer, auch die intra­ves­ikale Ver­ab­rei­chung von Anti­in­fek­tiva zuneh­mend durch, da sys­te­mi­sche Aus­wir­kun­gen ver­mie­den wer­den, durch die hohe Kon­zen­tra­tion „am Ort des Gesche­hens“ aber eine aus­ge­zeich­nete Wirk­sam­keit erzielt werde.

Die Anti­bio­ti­ka­the­ra­pie kann bei rezi­di­vie­ren­den Harn­wegs­in­fek­tio­nen auch in ande­rer Dauer ver­ab­reicht wer­den, wie Thal­ham­mer beschreibt. „Die Anti­bio­ti­ka­gabe kann als prä­emp­tive post­ko­itale („Pille danach“), empi­risch bei sym­pto­ma­ti­schen Infek­tio­nen auch als inter­mit­tie­rende Selbst­the­ra­pie über drei Tage oder pro­phy­lak­tisch über Wochen erfol­gen. Eine Lang­zeit­pro­phy­laxe solle abends ein­ge­nom­men wer­den, um über einen mög­lichst lan­gen Zeit­raum einen the­ra­peu­tisch wirk­sa­men Anti­bio­ti­ka­spie­gel im Harn­bla­sen­harn zu erzie­len. In 95 Pro­zent der Fälle gelinge es, die rezi­di­vie­ren­den Harn­wegs­in­fek­tio­nen so zu unter­bin­den. „Jedoch ist die anti­mi­kro­bielle Lang­zeit­pro­phy­laxe die letzte ‚Ver­tei­di­gungs­li­nie‘. Vor­her soll­ten gemein­sam mit der Pati­en­tin die nicht-anti­mi­kro­biel­len Pro­phy­laxe-Optio­nen ver­sucht wer­den, auch wenn diese oft nur unter­schied­lich erfolg­reich sind.“ Beson­ders in der Kohorte der betag­ten Men­schen bestehe, laut Maders­ba­cher, nur eine nied­rige Evi­denz für die Wirk­sam­keit von pro­phy­lak­ti­schen Maßnahmen.

Pro­phy­lak­tisch wich­tig sei eine aus­rei­chende Flüs­sig­keits­zu­fuhr, berich­tet Thal­ham­mer. „Eben­falls – bei allen Pati­en­ten mit und ohne Harn­ka­the­ter sowie jung oder alt – ist die Emp­feh­lung, abends einen Ess­löf­fel Apfel­es­sig ein­zu­neh­men, oft pro­blem­lö­send. Die­ses alte Haus­mit­tel wird auch in einer S2-Leit­li­nie beschrie­ben.“ Zur Harn­an­säu­rung kön­nen auch Ascor­bin­säure oder L‑Methionin ein­ge­setzt wer­den. Bak­te­ri­en­ly­sate zei­gen bei mehr als der Hälfte der Pati­en­tin­nen einen The­ra­pie­er­folg; bestimmte Lac­to­ba­cil­len schüt­zen eben­falls, da sie das natür­li­che vagi­nale Mikro­biom wie­der­her­stel­len. Zur Pro­phy­laxe zähle außer­dem, eine über­trie­bene Geni­tal­hy­giene wie Vagi­nal­du­schen ein­zu­stel­len und Sexu­al­prak­ti­ken sowie hor­mo­nelle Kon­tra­zep­tion zu bespre­chen, führt Thal­ham­mer aus.

Auch eine Imp­fung mit Bak­te­ri­en­stäm­men ist eine Option der Lang­zeit­pro­phy­laxe. Doch sei auch hier die Daten­lage in der Kohorte der älte­ren Pati­en­ten schwach, berich­tet Thal­ham­mer. „Bei Pati­en­tin­nen ohne Risi­ko­fak­to­ren betrug die Erfolgs­rate einer Stichimp­fung etwa 88 Pro­zent im zwei­ten Jahr, jene der Kon­troll­gruppe mit Nitrof­u­ran­toin 59 Pro­zent. Aller­dings bei Vor­lie­gen von Risi­ko­fak­to­ren drehte sich das Erfolgsverhältnis.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 20 /​25.10.2021