Gero­no­to­an­äs­the­sie: Ver­zicht und höhe­rer Zeitaufwand

15.07.2021 | Medizin

Je nach Ein­griff und indi­vi­du­el­lem Risiko ist die All­ge­mein­an­äs­the­sie ver­gleich­bar mit der Regio­nal­an­äs­the­sie – was das Gesamt­ri­siko anbe­langt. Ein wich­ti­ger Aspekt der Geron­to­an­äs­the­sie ist der Ver­zicht auf Ben­zo­dia­ze­pine, die bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten deli­ro­gen sind. Und: Der höhere Zeit­auf­wand bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten für Kom­mu­ni­ka­tion und Sorge muss ein­be­rech­net werden.
Sophie Fessl

„Der Anteil der über 65­-Jäh­ri­gen an der Bevöl­ke­rung steigt ste­tig. Ger­ia­tri­sche Pati­en­ten sind eine sehr vul­nerable Per­so­nen­gruppe, die vor allem dann beson­de­ren Manage­ments bedür­fen, wenn sie sehr alt und ins­be­son­dere frail, also gebrech­lich, sind“, berich­tet Priv. Doz. Michael Zink von der Abtei­lung für Anäs­the­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin am Kran­ken­haus der Barm­her­zi­gen Brü­der in St. Veit/​Glan. „Die große Pro­ble­ma­tik in die­ser Pati­en­ten­gruppe sind Frailty und Demenz.“

Obwohl ältere Pati­en­ten als Pati­en­ten ab 65 Jah­ren defi­niert sind, spielt das chro­no­bio­lo­gi­sche Alter in die­ser Pati­en­ten­gruppe eine unter­ge­ord­nete Rolle, betont auch Univ. Prof. Burk­hard Gus­torff von der Abtei­lung für Anäs­the­sie, Inten­siv­- und Schmerz­me­di­zin der Kli­nik Otta­kring in Wien. „Der bio­lo­gi­sche Zustand des Alters spielt eine jewei­lige Rolle, nicht rein das chro­no­bio­lo­gi­sche Alter.“

Rund zehn Pro­zent der über 65­-Jäh­ri­gen gel­ten als frail; der Anteil steigt mit dem Alter sprung­haft an: bei den über 80­-Jäh­ri­gen auf bis zu 50 Pro­zent. Frailty ist defi­niert als unge­woll­ter Gewichts­ver­lust, her­ab­ge­setzte Geh­ge­schwin­dig­keit, ein sub­jek­ti­ves Gefühl der Erschöp­fung, Schwä­che bezie­hungs­weise nied­rige Hand­kraft sowie ver­min­derte kör­per­li­che Akti­vi­tät. „Auch die Sar­ko­pe­nie, also der alters­be­dingte Mus­kel­mas­se­ver­lust, steigt an“, ergänzt Univ. Prof. Mar­cus Köl­ler von der Abtei­lung für Akut­ger­ia­trie und Remo­bi­li­sa­tion an der Kli­nik Favo­ri­ten in Wien. „Dabei spie­len Eiweiß-­ sowie ein Vit­amin D-­Man­gel eine wesent­li­che Rolle.“

Bio­lo­gi­sche Ver­än­de­run­gen im Alter

Unter den für die Anäs­the­sie wich­ti­gen bio­lo­gi­schen Ver­än­de­run­gen des alten Men­schen nennt Gus­torff die Ver­än­de­run­gen des Flüs­sig­keits­haus­hal­tes, die Ver­rin­ge­rung der Nie­ren­aus­schei­dung sowie starke Ver­än­de­run­gen des Her­z­­Kreis­lauf­-Sys­tems im Sinne einer gerin­ge­ren Anpas­sungs­fä­hig­keit, die zu einer gerin­ge­ren the­ra­peu­ti­schen Breite des Gefäß­sys­tems füh­ren. Aber auch die kogni­tive Kom­pen­sa­ti­ons mög­lich­keit ist alters­ab­hän­gig ver­än­dert. „Die Kom­pen­sa­ti­ons­fä­hig­keit für kurz fris­tige orga­ni­sche Ver­än­de­run­gen durch Ope­ra­tion, Trauma oder Schmerz ist im Alter gerin­ger – kör­per­lich wie geistig.“

Peri­- und post­ope­ra­tive Risi­ko­fak­to­ren bestim­men den Ver­lauf nach der Ope­ra­tion sowie das Risiko für ein Delirs. Daher rät Köl­ler, prä­ope­ra­tiv stan­dar­di­sierte ger­ia­tri­sche Assess­ments durch­zu­füh­ren, um zu wis­sen, wel­ches indi­vi­du­elle Risiko für einen Pati­en­ten besteht. „Bei Akut­Eingriffen ist das nicht mög­lich. Aber bei elek­ti­ven Ope­ra­tio­nen sollte man prä­ope­ra­tiv stan­dar­di­siert die Mus­kel­masse und den Ernäh­rungs­zu­stand des Pati­en­ten abklä­ren sowie ein neu­ro­ko­gni­ti­ves Assess­ment durch­füh­ren. Man sollte vor der Ope­ra­tion wis­sen, auf wel­che Pati­en­ten man beson­ders auf­pas­sen muss und ob man prä­ope­ra­tiv eine Ver­bes­se­rung anstre­ben kann.“

Wel­ches Scree­ning-­Tool dabei ange­wen­det wird, sei neben­säch­lich. Köl­ler rät zum Ein­satz von ein­fa­chen stan­dar­di­sier­ten Instru­men­ten für das prä­ope­ra­tive Manage­ment im Rah­men der OP­-Frei­gabe. Eine Mög­lich­keit, die Mus­kel­masse zu über­prü­fen, ist der soge­nannte „Chair­-Rising Test“, bei dem Pati­en­ten gebe­ten wer­den, von einem Ses­sel auf­zu­ste­hen. „Sar­ko­pene Pati­en­ten schaf­fen es nicht, mehr­mals hin­ter­ein­an­der aufzustehen.“

Bei elek­ti­ven Ope­ra­tio­nen gibt es Über­le­gun­gen, prä­ope­ra­tive Trai­nings­pro­gramme zu eta­blie­ren, um das peri­ope­ra­tive Risiko für ger­ia­tri­sche Pati­en­ten zu mini­mie­ren. „Bei Pati­en­ten, die bereits frail sind, könnte man mit einem kör­per­li­chen Trai­ning und ent­spre­chen­der pro­te­in­rei­cher Ernäh­rung die Frailty prä­ope­ra­tiv absi­chern. Denn ein mul­ti­mor­bi­der 80-­Jäh­ri­ger ver­liert bei drei Tagen Bett­läg­rig­keit so viel an Mus­kel­masse, wie ein jun­ger Erwach­se­ner in meh­re­ren Wochen.“ Prä­ope­ra­tiv sollte auch eine all­fäl­lige Poly­phar­ma­zie ange schaut und Über­le­gun­gen ange­stellt wer­den, wel­che Medi­ka­mente prä­ope­ra­tiv abge­setzt wer­den kön­nen bezie­hungs­weise wie die Dau­er­me­di­ka­tion opti­miert wird.

Auch wei­tere Risi­ko­fak­to­ren für die Ent­wick­lung eines Delirs – das laut Köl­ler bei rund 50 Pro­zent der über 80-Jäh­ri­gen auf­tre­ten kann – soll­ten abge­klärt wer­den. „Alter, Demenz, Abhän­gig­kei­ten, funk­tio­nelle Ein­schrän­kun­gen im Sinne einer Hilfe­ oder Pfle­ge­be­dürf­tig­keit, sowie Beein­träch­ti­gun­gen des Hörens oder Sehens erhö­hen das Delir­-Risiko. Inter­nis­tisch soll­ten Flüs­sig­keits­haus­halt, Nie­ren­funk­tion, Anämie und der Elek­tro­lyt­haus­halt abge­klärt werden.“

Bei elek­ti­ven Ope­ra­tio­nen kön­nen mit­tels Scoring auch die­je­ni­gen Pati­en­ten iden­ti­fi­ziert wer­den, die bes­ser von einem klei­nen Ein­griff oder einer kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie pro­fi­tie­ren, berich­tet Zink aus der Pra­xis. Doch nicht nur das Alter spielt eine Rolle, führt Gus­torff aus. „Das Anästhesie­bezogene Risiko ist von Alter und Vor­er­kran­kung abhän­gig, aber auch ein­griffs­ab­hän­gig. Die moderne Anäs­the­sie führt daher eine indi­vi­du­elle Risi­ko­stra­ti­fi­zie­rung durch und ver­folgt ein Risiko­adaptiertes Vor­ge­hen, das Risi­ko­fak­to­ren aber auch die Risi­ken des ope­ra­ti­ven Ein­griffs miteinbezieht.“

Frage: Regio­nal­an­äs­the­sie oder Vollnarkose?

Keine all­ge­mein­gül­tige ein­deu­tige Ant­wort ist auf die Frage, ob ger­ia­tri­sche Pati­en­ten eine Regio­nal­an­äs­the­sie oder Voll­nar­kose bes­ser ver­tra­gen, betont Gus­torff. „Der­zeit gibt es einen Trend zur Regio­nal­an­äs­the­sie bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten. Aber wir sehen die intra­ope­ra­tive Hypo­to­nie als einen rele­van­ten Fak­tor. Und vor allem bei der Regio­nal­an­äs­the­sie, spe­zi­ell der Spi­nal­an­äs­the­sie, besteht ein hohes Risiko für das Auf­tre­ten einer intra­ope­ra­ti­ven Hypo­to­nie.“ Dabei kommt zu einem intra­ope­ra­ti­ven Blut­druck­ab­fall über einen rela­tiv kur­zen Zeit­raum von 15 bis 20 Minu­ten. „Die kumu­la­tive Hypo­to­nie ist ein rele­van­ter Risi­ko­fak­tor für post­ope­ra­tive kar­dio­vas­ku­läre Kom­pli­ka­tio­nen. Wenn alters­be­dingt Herz-­Kreis­lauf­-Erkran­kun­gen vor­han­den sind, ist die intra­ope­ra­tive Hypo­to­nie ein äußerst rele­van­ter Faktor.“

Zwar gäbe es der­zeit den Trend dazu, vor allem die peri­phere Regio­nal­an­äs­the­sie bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten ein­zu­set­zen, da diese – wenn es der Ein­griff erlaubt – beson­ders ver­träg­lich sei und den Pati­en­ten weni­ger mani­pu­liert. „Aber abhän­gig vom Ein­griff und indi­vi­du­el­lem Risiko ist die All­ge­mein­an­äs­the­sie ver­gleich­bar zur Regio­nal­an­äs­the­sie, was das Gesamt­ri­siko angeht“, berich­tet Gus­torff. Vor allem in Hin­blick auf das Risiko eines post­ope­ra­ti­ven Delirs sieht Gus­torff die Kom­bi­na­tion von Sedie­rung und Regio­nal­an­äs­the­sie als pro­ble­ma­tisch. „Diese Kom­bi­na­tion wird in Öster­reich häu­fig ein­ge­setzt. Der Vor­teil der Regio­nal­an­äs­the­sie, nicht die kogni­ti­ven Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten des Pati­en­ten weg­zu­neh­men, wird aber dadurch kon­ter­ka­riert, dass man den Pati­en­ten sediert. Denn Seda­tive selbst sind ja Nar­ko­tika, die deut­li­che Neben­wir­kun­gen haben, etwa die Ver­wir­rung.“ Auch Zink berich­tet vom Ver­such, wäh­rend der Regio­nal­an­äs­the­sie weit­ge­hend auf Ben­zo­dia­ze­pine zu ver­zich­ten. „Manch­mal ist es bes­ser, ein­fach mit dem Pati­en­ten zu reden, beru­hi­gende Musik zu spie­len. Gerade ältere Pati­en­ten, die bereits viel erlebt haben, kön­nen mit einer Ope­ra­tion oft bes­ser umge­hen als junge Patienten.“

Ein wich­ti­ger Aspekt der Geron­to­an­äs­the­sie sei daher der Ver­zicht auf Ben­zo­dia­ze­pine, die bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten deli­ro­gen sind, sowie der Ver­zicht auf zen­tral­ner­vös-­ne­ben­wir­kende Medi­ka­mente wie Anti­hist­ami­nika, die häu­fig zur Übel­keits­pro­phy­laxe ein­ge­setzt wer­den. „Mit den heu­ti­gen Anäs­the­tika, den moder­nen Nar­ko­se­me­di­ka­men­ten und den moder­nen Moni­tor­sys­te­men ist nicht das gewählte Mit­tel ent­schei­dend. Viel­mehr ist wich­tig, wel­che evi­denz­ba­sierte Methode die Teams – von der Anäs­the­sie über den Auf­wach­raum bis hin zur Phy­sio­the­ra­pie – regel­mä­ßig und als Best Prac­tice ein­set­zen. Egal mit wel­chem Anäs­the­ti­kum: mit einer guten Oxy­ge­nie­rung und einer sta­bi­len Kreis­lauf­füh­rung pro­fi­tie­ren die Pati­en­ten“, betont Gustorff.

Nach­wir­kung in der post­ope­ra­ti­ven Phase

Der ver­zö­gerte Abbau von Anäs­the­tika führt zu einem Medi­ka­men­ten-­Über­hang und einer Nach­wir­kung in der post­ope­ra­ti­ven Phase; alters­be­dingt nimmt die Häu­fig­keit des post­ope­ra­ti­ven Delirs zu. „Medi­ka­mente mit anti­cho­li­ner­ger Wir­kung erhö­hen das Risiko eines Delirs“, berich­tet Köl­ler. Auch Infekte, Dehy­drat­a­tion, bestehende Visus­-Stö­run­gen, Elek­tro­lyt­stö­run­gen sowie Schmer­zen begüns­ti­gen das Ein­tre­ten eines Delirs. Hypo­na­trä­mie ist eben­falls ein hoher Risi­ko­fak­tor. „Viele Medi­ka­mente, gerade Psy­cho­phar­maka, kön­nen Hypo­na­trä­mie ver­ur­sa­chen. Man muss beglei­tend schauen, dass bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten peri-­ und post­ope­ra­tiv eine Sta­bi­li­tät auf allen Ebe­nen erreicht wird.“

Das Delir kann in einer akti­ven und einer pas­si­ven Form auf­tre­ten. In der akti­ven Form zei­gen Pati­en­ten Unruhe, möch­ten sich selbst mobi­li­sie­ren, was bis hin zum Ent­fer­nen von Schläu­chen geht. In der pas­si­ven Form des Delirs sind Pati­en­ten in sich zurück­ge­zo­gen und zei­gen Ady­na­mie. Delir­fak­to­ren soll­ten beson­ders bei älte­ren Pati­en­ten ver­mie­den wer­den: mit einer prä­ope­ra­ti­ven Schmerz­un­ter­drü­ckung, aus­rei­chen­der Hydrat­a­tion auch prä­ope­ra­tiv sowie post­ope­ra­tiv mit einer gut dosier­ten Schmerz­the­ra­pie und einem kla­ren Tag-­Nacht­-Rhyth­mus. „Bei nicht mehr ganz ori­en­tier­ten Pati­en­ten kann ein Kran­ken­haus­auf­ent­halt kom­bi­niert mit Schmer­zen zu einem del­iran­ten Sta­tus füh­ren“, berich­tet Zink. „Post­-ope­ra­tiv wer­den ger­ia­tri­sche Pati­en­ten auf der Ger­ia­trie­-Sta­tion betreut, wo ori­en­tie­rende Ele­mente, eine gute Beleuch­tung und wenig stö­rende Ele­mente in der Nacht dafür sor­gen, dass die Ver­wir­rung redu­ziert wird.“ Auch das Vor­han­den­sein eines Bla­sen­ka­the­ters ist ein Risi­ko­fak­tor für ein post­ope­ra­ti­ves Delir. Daher sollte geprüft wer­den, ob die­ser post­ope­ra­tiv rasch ent­fernt wer­den kann.

Prä­ope­ra­tiv wer­den Ben­zo­dia­ze­pine tra­di­tio­nel­ler­weise zur Anxio­lyse ein­ge­setzt. Hier plä­diert Gus­torff dar­auf, auch in der Prä­me­di­ka­tion auf deli­ro­gene Ben­zo­dia­ze­pine zu ver­zich­ten. „Eine gute stan­dar­di­sierte angst­arme Vor­be­rei­tung wäre ideal, viel­leicht sogar in Beglei­tung der Ange­hö­ri­gen.“ Medi­ka­men­tös werde zuneh­mend Pre­ga­ba­lin off-label zur Anxio­lyse ein­ge­setzt. In einem prä­ope­ra­ti­ven Auf­klä­rungs­ge­spräch soll­ten auch die Erwar­tun­gen der Pati­en­ten erfragt sowie auf die post­-ope­ra­tive Früh­mo­bi­li­sie­rung hin­ge­wie­sen wer­den. „Wenn wir das vorab bespre­chen, erin­nert sich der Pati­ent daran, dass er am Tag der Ope­ra­tion mobi­li­siert wird und ist ein­ver­stan­den damit“, berich­tet Zink. „Ger­ia­tri­sche Pati­en­ten bedür­fen eines viel höhe­ren Auf­wan­des an Kom­mu­ni­ka­tion und Sorge. Diese Zeit muss man ein­rech­nen und haben.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 13–14 /​15.07.2021