Standpunkt Vizepräsident Herwig Lindner: Über den Tellerrand

17.08.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK

Lindner_Standpunkt__c_Bernhard_Noll_15So wenig ein Virus an Landesgrenzen halt macht, so wenig ändern sich die Herausforderungen durch eine Pandemie grundlegend von Land zu Land. Somit ist es immer sinnvoll, im internationalen Diskurs mit Kollegen Parallelen herauszuarbeiten und daraus Schlüsse zu ziehen. Da die Wahrscheinlichkeit für Pandemien eher zunehmen wird, ist es entscheidend, aus dem Gegenwärtigen zu lernen, um für die Zukunft besser gerüstet zu sein. Anfang Juli trafen sich die maßgeblichen Vertreter aller Ärztekammern des deutschsprachigen Raumes in Wien zu einem wichtigen Erfahrungsaustausch (siehe dazu auch Seite 9).

Unter dem Eindruck der COVID-Pandemie haben sich die Ärzteorganisationen auf ein gemeinsames Positionspapier verständigt. Gefordert werden darin eine schonungslose Analyse der bisher gesetzten Maßnahmen und vorausschauende Pandemiepläne. Europa darf kein zweites Mal derart überrumpelt werden, zumal die WHO schon seit Jahren vor einer weltweiten Pandemie warnte. Alle Strukturen und Maßnahmen müssen auf Effektivität und Defizite überprüft werden. Daraus müssen detaillierte Verantwortlichkeits- und Ablaufpläne für kommende Pandemien entstehen, um rascher reagieren zu können. Lockdowns haben sich als sinnvoll bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens erwiesen, sollten aber künftig nur ultima ratio sein. Den jetzt noch verhaltenen aber unüberhörbaren Forderungen nach Einsparungen im Gesundheitswesen ist entschieden entgegenzutreten. Weiters braucht Europa Unabhängigkeit bei wichtigen Arzneimitteln, Medizinprodukten und Schutzmaterialien. Die für das Gelingen der medizinischen Versorgung basal notwendigen Produkte müssen vom Ökonomisierungsdruck entkoppelt werden und diese Autarkie muss Europa auch etwas wert sein. Wir dürfen nicht noch einmal in die Lage geraten, für die Versorgung essenzielle Dinge nicht zur Verfügung zu haben.

Unabhängig von Corona sind auch beim Thema Sterbehilfe europaweit parallele Tendenzen festzustellen. Immer häufiger wird durch Gerichtsurteile die bisherige Wertehaltung ins Gegenteil verkehrt. Höchstgerichtsurteile sind zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie die Gesellschaft verändern. Für uns ist entscheidend, jeglichem Druck auf Ärzte vehement entgegenzutreten. Und Patienten dürfen nicht in Situationen geraten, ihren Lebenswillen rechtfertigen zu müssen. Auch bei diesen Entwicklungen lohnt sich der Blick über den Tellerrand.

Dr. Herwig Lindner
1. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2021