Kinder- und Jugendpsychiatrie: Dauerhafter Ausnahmezustand

10.05.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK


Vor allem Kinder und Jugendliche treffen die coronabedingten Maßnahmen sehr hart. Überforderte Eltern, zu wenig Zeit und Isolation gehen nicht spurlos an ihnen vorbei. Die Experten der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren vor gravierenden Folgen für das ganze Leben.
Viktoria Frieser

Die Corona-­Pandemie kam schnell und unerwartet. Einen vorgefertigten Krisenplan gab es in Europa zu diesem Zeitpunkt nicht. Aufgrund des weltweiten Infektionsgeschehens und der immer wieder neu eingeschleppten Virus­-Mutationen wurden in Österreich mehrmals harte Lockdowns inklusive Schulschließungen beschlossen. Im Vordergrund stand hier immer die physische Gesundheit, auf die psychische Verfassung wurde dabei weniger Rücksicht genommen. Das blieb nicht ohne Folgen.

Die umfassenden Schließungen und Einschränkungen durch die Lockdowns trafen die gesamte Bevölkerung hart. Neben Kurzarbeit und Kündigungen trugen die stückweisen Verlängerungen der Maßnahmen zur allgemeinen Verunsicherung bei. Besonders hart traf das die Kinder und Jugendlichen. Gerade in einer Phase, in der die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist und Orientierung oft über soziale Interaktion erfolgt, wurden diese in die heimische Isolation verbannt. Hier kamen viele Risikofaktoren für die psychische Gesundheit zusammen. Zu fehlender Tagesstruktur, Langeweile und Einsamkeit kamen gestresste Eltern. Laut dem Bundesfachgruppenobmann für Kinder­ und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Helmut Krönke sei die Stimmung zuhause prinzipiell schlechter geworden. Es werde mehr gestritten, geschrienen oder die Kommunikation überhaupt eingestellt. Das führe zu mehr Depressionen, Ess­ und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zur sozialen Komponente der Schulschließungen komme noch ein weiterer Aspekt: die Kinder und Jugendlichen könnten die verpasste Bildung oft nicht mehr aufholen und verlieren die Perspektive auf eine weiterführende Ausbildung. Weniger Bildung führt auch zu schlechterer Gesundheit und einer kürzeren Lebenserwartung.

„Die Pandemie fungiert als Katalysator. Sie bringt das ohnedies schon überlastete System der Kinder­ und Jugendpsychiatrie endgültig an seine Grenzen,“ erklärt der Bundesfachgruppenobmann. Bereits vor der Pandemie waren Psychiatrieplätze für Patienten im niedergelassenen wie auch im Spitalsbereich rar gesät. Das liege zum einen an der Neuheit des Fachs der Kinder­ und Jugendpsychiatrie, aber auch an zu wenig Ausbildungsstellen im Vergleich zum Versorgungsbedarf. Neue Stationen wie im KH Nord können oft gar nicht ausreichend besetzt werden. Auch der Ruf nach mehr niedergelassenen Psychiatern würde einzig den Spitalsbereich ausdünnen. Bereits vor der Pandemie mussten Jugendliche wegen mangelnden Betreuungsplätzen in Erwachsenenpsychiatrien untergebracht werden. Da Psychiatrie auf dem Gespräch mit den Patienten aufbaut, sind auch die Möglichkeiten, aus dem Ausland neue Kräfte zu rekrutieren, sehr begrenzt.

Helmut Krönke hofft, dass es zukünftig wieder mehr Kinder­ und Jugendpsychiater geben wird. Durch die Förderung der Lehrpraxis bei niedergelassenen Psychiatern könnte das Ausbildungsdefizit langfristig verbessert werden. Bis dahin könnte die Lücke mit kostenfreier Psychotherapie für Kinder überbrückt werden. Hier gebe es viel zu oft lange Wartezeiten für die jungen Patienten. Insgesamt brauche es mehr Geld und mehr Ressourcen, mehr Sozialarbeit an den Schulen und eine stärkere Vernetzung mit der Kinder­ und Jugendpsychiatrie: „Man kann ein ganzes Leben und die Lebensqualität eines Menschen exorbitant erhöhen, indem man bereits am Beginn von Schwierigkeiten Lösungsoptionen bringt,“ so Helmut Krönke.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2021