BKNÄ: Long-COVID: System an der Grenze

25.11.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK, Coronavirus

Das heimische Krankenkassensystem ist nicht auf die Behandlung von Long-COVID-Patienten vorbereitet und stößt an seine Grenzen. Davor warnte die Bundeskurie niedergelassene Ärzte bei einer Pressekonferenz.

„Niedergelassene Ärzte stehen in ihrem Ordinations-Alltag einer neuen und beträchtlichen Herausforderung gegenüber, nämlich der Diagnose und Betreuung von immer mehr Patienten mit Long COVID“, erklärte Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte. Von diesen sehr unterschiedlich ausgeprägten Langzeitfolgen, die nach einer akuten COVID-Erkrankung auftreten können, könne grundsätzlich jeder Patient betroffen sein. „Diese zu diagnostizieren und zu behandeln ist sehr aufwändig, dabei kommt den niedergelassenen Ärzten eine zentrale Rolle zu. Allerdings ist das Kassensystem darauf nicht vorbereitet und stößt an seine Grenzen“, konstatierte Steinhart.

„Mit Handschellen arbeiten“

Die Kardiologin Bonni Syeda wies darauf hin, dass fehlende Kassenleistungen, Limitierungen und Deckelungen das Kassensystem an seine Grenzen bringen würden, „wenn wir eine dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechende Medizin betreiben möchten.“ So sei etwa die Bestimmung eines Laborparameters, um festzustellen, ob ein Patient im Rahmen der COVID-Infektion eine Herzmuskelbeteiligung hatte, keine Kassenleistung. Deckelungen bei verschiedenen Untersuchungen würden ebenso die Arbeit erschweren. Beim Internisten würden nur 18 Prozent der Arztgespräche, bei Corona-Patienten immens wichtig, von den Kassen übernommen. „Durch Deckelungen eingeschränkt zu sein, ist so, als müssten wir Ärzte mit Handschellen arbeiten“, unterstrich Syeda.

Dietmar Bayer, Facharzt für Psychiatrie und Vizepräsident der Ärztekammer für Steiermark, führte aus, dass die Pandemie eine deutliche Zunahme von Angst, Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen mit sich gebracht habe. Psychische Störungen seien auch Teil der Long-COVID-Symptomatik. „Das bedeutet in der Primärdiagnostik einen beträchtlichen Mehraufwand“, so Bayer. Die Ressourcen in der Psychiatrie hätten hier nicht mithalten können. Generell brauche es bei Long COVID ein multiprofessionelles Zusammenwirken auf den individuellen Patienten bezogen. „Dazu benötigen wir eine gute und unkomplizierte Vernetzung zwischen verschiedenen Fachbereichen mit dem Hausarzt als Drehscheibe. Das kann heute sehr gut auf telemedizinischer Basis erfolgen“, sagte Bayer. Multiprofessionelle virtuelle Kompetenzzentren mittels Videokonferenzen seien inzwischen sehr einfach möglich, das Angebot müsse unbedingt weiter ausgebaut werden.

5 zentrale Punkte

Bundeskurienobmann Steinhart formulierte daher 5 Punkte für eine adäquate Versorgung:

  • Long COVID muss als ein Krankheitsbild akzeptiert werden, das uns voraussichtlich noch lange Zeit begleiten wird. Es muss der Konsens bestehen, dass davon Betroffene nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern bestmöglich versorgt werden. Das ist bei den zu erwartenden Patientenzahlen eine enorme Herausforderung und erfordert eine Flexibilisierung unseres Kassensystems: Anders ist einem komplexen Geschehen wie Long COVID, von dem sehr viele Menschen betroffen sein werden, nicht beizukommen.
  • Die Leistungsposition Long COVID muss in den kassenärztlichen Leistungskatalog der Österreichischen Gesundheitskasse aufgenommen werden. Im kassenärztlichen Honorarkatalog müssen der Krankheit angepasste Verrechnungspositionen für Long COVID geschaffen werden.
  • Deckelungen und Degressionen bei kassenärztlichen Leistungen müssen überall dort aufgehoben werden, wo sie die Betreuung von Long COVID behindern. Es geht an der Realität vorbei, dass nur ein gewisser Prozentsatz der ärztlichen Leistungen von den Kassen bezahlt wird, und zwar unabhängig vom tatsächlichen Bedarf.
  • Der in der Betreuung von Long-COVID-Patienten erforderliche Austausch zwischen den medizinischen Fächern darf nicht durch Limitierungen beschränkt werden – egal ob im direkten Gespräch oder telemedizinisch. Es muss die bestmögliche Betreuung möglich gemacht werden.
  • Eine adäquate Versorgung dieser komplexen Krankheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Da kommen enorme, zusätzliche Herausforderungen auf das Gesundheitssystem zu, dafür muss die öffentliche Hand im Interesse Betroffener die erforderlichen Ressourcen bereitstellen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2021