Horizonte: Persönlichkeiten – Harvey Cushing: Entdecker, Pionier und Biograf

10.11.2020 | Service

Der Neurochirurg Harvey William Cushing entdeckte nicht nur den ACTH-produzieren den Tumor der Hypophyse. Er etablierte die moderne Neurochirurgie als wissenschaftliches System, entwickelte die Strompinzette zum Verschluss von blutenden Gefäßen und wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Harvey Cushing, als letztes von zehn Kindern 1869 in eine Ärzte-Familie geboren, besaß eine grenzenlose Faszination für das menschliche Gehirn. Obwohl seine ersten Operationen Anfang des 20. Jahrhunderts an Patienten mit Hirntumoren am Johns-Hopkins-Hospital (Baltimore) für viele Betroffene mit dem Tod endete, blieb Cushing weiter am Ball. Er versuchte, seine Fehler zu analysieren, erstellte detaillierte Verlaufsprotokolle und Zeichnungen des Gehirns. Die Methoden damals waren mit der ˜ther-Narkose oder dem ziellosen Bohren von Löchern in den Schädel noch brachial. Cushing arbeitete sanfter und beoabchtete neben anderen Vitalzeichen auch den Blutdruck seiner Patienten. Es gelang ihm, seine Operationstechniken zu verbessern. So entwickelte er die Stromp inzette zum Verschluss blutender Gefäße –die Einführung der Elektrokauterisation. Seine Versuche unternahm er so gut wie im Alleingang, denn um 1900 gab es noch kaum Erfahrungen anderer Chirurgen, auf die Cushing hätte zurückgreifen können. Er war der erste, der sich diesem Feld ungeteilt widmete und die moderne Neurochirurgie als wissenschaftliches System etablierte.


Cushing-Syndrom: die wichtigsten Symptome

  • Mondgesicht mit überladenem Erscheinungsbild;
  • stammbetonte Adipositas; prominente supraklavikuläre und dorsal zervikale Fettpolster;
  • feingliedrige distale Extremitäten und Finger;
  • Muskelschwund und Muskelschwäche;
  • dünne, atrophische Haut mit schlechter Wundheilung und Hämatom-Entwicklung bei minimalem Trauma.

Durchbruch: Meningeom-Entfernung

1910 operierte Cushing den Generalstabschef der US-amerikanischen Armee, Leonard Wood. In einem komplizierten Eingriff entfernte er ein Meningeom vom Hinterhauptlappen. Wood überlebte und konnte seinen Beruf wieder ausüben. Im Jahr 1910 beschrieb er erstmals einen ACTH-produzierenden, gutartigen Tumor der Hypophyse. Bestätigt durch den Erfolg bei der Entfernung des Meningeoms beschleunigten sich die Karriereschritte von Cushing in der Neurochirurgie. Im Jahr 1912 wurde er Professor für Chirurgie an der Harvard University in Boston, 1913 stieg er zum Chef-Chirurgen des Peter Bent Brigham Krankenhauses auf, in dessen Planung er 1910 auch involviert war. Bis 1931 konnte Cushing durch die zügigen Weiterentwicklungen in der Gehirnchirurgie die Letalität seiner Operationen von 90 auf rund sieben Prozent senken. An der Yale University in Connecticut arbeitete er als Professor für Neurologie bis 1937, schrieb mehrere bedeutende Monografien, zum Beispiel zu Tumoren der Hypophyse und zu Meningeomen; ebenso auch mehr als 330 wissenschaftliche Abhandlungen.

Auch abseits der Medizin war Cushing äußerst erfolgreich: So erhielt er 1926 den Pulitzer-Preis für die Biografie über das Leben seines Lehrmeisters, den kanadischen Arzt, Physiologen und Medizinhistoriker William Osler. Sein Werk über den Chirurgen der Renaissance, Andreas Vesal, konnte er nicht mehr vollenden: Cushing erlag 1939 einem Myokardinfarkt.

Nach dem US-amerikanischen Arzt wurde nicht nur das Cushing-Syndrom, sondern auch der Cushing-Ulkus benannt – ein gastroduodenales Geschwür, das sich kurze Zeit nach einem Schädel-Hirn-Trauma entwickeln kann. 1901 entdeckte der ambitionierte Neurochirurg überdies den Cushing-Reflex, der eine Symptom-Trias aus Hypertonie, Bradykardie und Cheyne-Stokes-Atmung nach erhöhtem Hirndruck zur Sicherstellung der zerebralen Perfusion beschreibt. Überdies trug der Neurochirurg auch zur Erforschung der Akromegalie bei.

Das Cushing-Syndrom ist gekennzeichnet durch eine erhöhte Konzentration von Kortisol oder ähnlichen Kortikosteroiden im Blut – häufig aufgrund externer Zufuhr von Glukokortikoiden oder einer Überproduktion der Nebennieren. Charakteristika sind Stammfettsucht, Mondgesicht, Hämatome sowie im Vergleich dazu verhältnismäßig schlanke Arme und Beine. Die Überfunktion der Nebennierenrinde (Morbus Cushing) tritt abhängig vom Adrenocorticotropen Hormon (ACTH) oder unabhängig davon auf. Während erstere durch eine Hypersekretion von ACTH durch die Hypophyse, die Sekretion von ACTH durch einen nichthypophysären Tumor – zum Beispiel ein kleinzelliges Lungenkarzinom – oder die Verabreichung von exogenem ACTH entsteht, ist die Ursache einer ACTH-unabhängigen Überfunktion die therapeutische Gabe von Kortikosteroiden, Nebennierenademone oder Karzinome. Seltener ist eine primäre pigmentierte noduläre adrenale Dysplasie bei Jugendlichen und eine makronoduläre Dysplasie bei ˜lteren die Ursache.

Zur Verdachtsdiagnose führen die spezifischen Symptome und klinischen Zeichen. Der Nachweis eines Cushing-Syndroms erfordert die Kombination von Hormontests mit bildgebenden Verfahren. Die diagnostischen Möglichkeiten setzen sich aus der Messung des Spiegels von freiem Kortisol im Urin (UFC > 120g/24 h), dem Dexamethason-Suppressionstest, dem Mitternachtsserum oder dem Kortisolspiegel im Speichel sowie dem Serum-ACTH-Spiegel zusammen. Ist letzterer nach-weisbar, folgen Provokationstests. Bildgebende Verfahren der Hypophyse kommen zum Einsatz, wenn aufgrund der ACTH-Spiegel und der Provokationstests eine hypophysäre Ursache wahrscheinlich ist.

Die Behandlung erfolgt mit hohen Dosen Protein sowie Kalium und adrenalen Inhibitoren wie Metyrapon, Mitotan oder Ketoconazol. Gegebenenfalls ist eine Operation oder Strahlentherapie zur Entfernung von Hypophysen-, Nieren- oder ektopischen ACTH-produzierenden Tumoren erforderlich. In manchen Fällen werden Somatostatin-Analoge, Dopamin-Agonisten oder Mifepriston verordnet.

Das sogenannte Nelson-Syndrom tritt auf, wenn die Hypophyse nach einer beidseitigen Adrenalektomie weiterwächst, was in einem deutlichen Anstieg der ACTH-Sekretion resultiert; eine schwere Hyperpigmentation kann folgen. Bei mehr als 50 Prozent aller Patienten, die adrenalektomiert werden, kommt es zum Nelson-Syndrom. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten lässt sich vermutlich durch Bestrahlung reduzieren. Als Indikation für eine Hypophysektomie gilt eine Größenzunahme, die umgebendes Gewebe kompromittiert und unter anderem Gesichtsfeldausfälle oder Druck auf den Hypothalamus verursacht. (JW)

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2020