Horizonte: Persönlichkeiten – Das Antlitz von Kabuki

10.10.2020 | Service

Kinder mit einzigartigen Gesichtern, die an Schauspieler des traditionellen japanischen Theaters erinnern: Beim Kabuki-Syndrom handelt es sich um eine sehr seltene genetische Erkrankung, die 1981 zuerst von den beiden Ärzten Norio Niikawa und Yoshikazu Kuroki beschrieben wurde.

Das Kabuki-Syndrom – auch bekannt als Niikawa-Kuroki-Syndrom oder Kabuki-Make-up-Syndrom – manifestiert sich im Neugeborenen- und Kleinkindalter und erlangte vor allem durch die charakteristischen Gesichtszüge der Betroffenen Bekanntheit. Die Kinder wirken durch die spezielle Stellung der Augen, die gebogenen und teils haarlosen Brauen wie geschminkt. Der japanische Genetiker und Pädiater Norio Niikawa entdeckte das Syndrom nicht nur, sondern identifizierte mit seinen Kollegen auch das dafür verantwortliche Gen.

 


Die wichtigsten Symptome

  • Lange Lidspalten mit Ektropion des Unterlids im lateralen Drittel; Epikanthus-Falte; bogenförmige Augenbrauen, spärlich im lateralen Drittel
  • Ptosis, Strabismus, blaue Skleren
  • kurzes Nasenseptum, Gaumen-/Lippenspalten
  • große abstehende Ohren mit präaurikulären Fisteln
  • Zahnanomalien; offen gehaltener Mund
  • mentale Retardierung
  • Kleinwuchs; andere skelettäre Auffälligkeiten
  • Herzfehler
  • Überstreckbarkeit der Gelenke; muskuläre Hypotonie
  • persistierende fetale Fingerpolster
  • Mittelohrentzündungen; Hörstörungen

 

Mehrfache auffällige Anomalien

Niikawa schloss das Medizinstudium 1967 an der Universität Hokkaido ab. In seinem ersten Berufsjahr in einem kleinen kommunalen Krankenhaus der Stadt sah er ein neugeborenes Mädchen mit ungewöhnlichem Gesicht. Es hatte weder Ähnlichkeiten zu seinen Eltern, noch passten die Merkmale zu irgendeinem bekannten Syndrom. Etwas später, in seiner ersten eigenen Poliklinik für Genetische Medizin, stellten sich ihm und seinen Kollegen vier weitere Patienten mit derselben Symptomatik vor. In seinen Aufzeichnungen – öffentlich zugänglich auf der Website des Kabuki Syndrome Network – schreibt er: „Ich zweifelte immer noch daran, dass wir es mit einem eigenständigen Krankheitsbild zu tun hatten. Aber nach der Zusammenschau aller klinischen Befunde inklusive mehrerer Röntgen-Aufnahmen war ich sicher, dass es sich um eine bisher unbekannte Krankheit handeln musste.“ (Anm.: aus dem Englischen übersetzt)

Der passionierte Kinderarzt präsentierte seine Entdeckung als „Multiple kongenitale Anomalie/geistige Retardierung (MCA/MR)“ auf der ersten Japanischen Konferenz für Dysmorphologie 1979. Yoshikazu Kuroki vom Kanagawa Childrens Hospital „erinnerte sich plötzlich daran, selbst auch diese Kombination an Anomalien beobachtet zu haben“ – so der Wortlaut von Niikawa. Kuroki stellte seine beiden Fälle auf der Konferenz im darauffolgenden Jahr vor und sorgte dafür, dass das Syndrom weitere Bekanntheit erlangte. 1981 veröffentlichten beide Ärzte unabhängig voneinander ihre Papers in „The Journal of Pediatrics“* und gaben der Krankheit den Namen Kabuki-Make-up-Syndrom.

„Ich nannte das Syndrom ‚Kabuki-Make-up‘, weil mich die Gesichter der Patienten – vor allem die Eversion der unteren Augenlider – an die Schauspieler im Kabuki, einer traditionellen Form des japanischen Theaters, erinnerten“, so Niikawa. Kabuki hat seinen Ursprung im Japan des frühen 17. Jahrhunderts; die Schauspieler tragen Schminke auf, um ihren Augen mehr Ausdruck zu verleihen. Vorrangig in westlichen Ländern wird auf die Beigabe „Make-up“ allerdings verzichtet. Niikawa erklärt dies so: „In letzter Zeit scheinen Genetiker den Namen ‚Kabuki-Syndrom‘ zu bevorzugen. Sie glauben, dass Eltern betroffener Kinder den Terminus ‚Make-up‘ als unpassend oder gar beleidigend empfinden. Aber auch die Kabuki-Schauspieler könnten sich durch die Bezeichnung der Krankheit benachteiligt fühlen. Ich schlage daher die Alternative ‚Niikawa-Kuroki-Syndrom“ vor, auch wenn die Charakteristika der Krankheit so nur schlecht repräsentiert werden.“ In der Fachliteratur wird die Krankheit jedoch bis heute als „Kabuki-Syndrom“ geführt.

Pädiater, Forscher und Lehrer

Nach mehrjähriger Tätigkeit als Pädiater forschte Niikawa von 1972 bis 1975 im Labor für Endokrinologie und Zytogenetik am Department für Gynäkologie und Geburtshilfe im Kantonsspital der Universität Genf. Von 1984 bis 2007 lehrte er als Professor und Vorsitzender am Department für Menschliche Genetik an der Universität Nagasaki. Danach kehrte er in seine Studienstadt als Professor und Direktor am Forschungsinstitut für Personalisierte Gesundheitsforschung an der Universität Hokkaido zurück, wo er bis 2016 als Präsident tätig war. Der heute 78-jährige Norio Niikawa ist mittlerweile in Pension.

Kleinwuchs und mentale Einschränkungen

Das Kabuki-Syndrom ist eine genetisch bedingte Anlagestörung, die einerseits mit bestimmten phänotypischen Merkmalen und andererseits mit mentalen Einschränkungen sowie fast immer mit Kleinwuchs einhergeht. Die fazialen Auffälligkeiten sind schon im Neugeborenenalter augenscheinlich und prägen sich in den ersten Lebensjahren weiter aus. Die Kinder sind prädestiniert für Infekte der oberen Atemwege und in der Pubertät für Adipositas. Mutationen im MLL2-Gen (12q12-q14) und seltener im Gen KDM6A (X chromosomal) gelten als Ursache für das Kabuki-Syndrom. Die Mutationen kommen beim weiblichen und männlichen Geschlecht vor und sind in der Regel Neumutationen. Die Krankheit ist mit einer Prävalenz von 1:32.000 selten. Die meisten Fälle kommen aus Japan, die Krankheit tritt aber weltweit auf. Sie entwickelt sich sporadisch oder wird autosomal-dominant vererbt. Kinder mit Kabuki-Syndrom haben grundsätzlich eine günstige Prognose, die Lebenserwartung wird individuell vor allem durch Herzfehler oder Komplikationen des Immunsystems negativ beeinflusst.

Für das Kabuki-Syndrom gibt es keine klinischen diagnostischen Kriterien. Bei der Differentialdiagnose sind das CHARGE-Syndrom, das Branchio-oto-renale Syndrom, das Ehlers-Danlos-Syndrom (hypermobile Form), das Hardikar-Syndrom, IRF6-abhängige Krankheiten und das 22q11-Deletions-Syndrom zu berücksichtigen.

Diagnose: klinische Beobachtung

Die Diagnose basiert auf der klinischen Beobachtung von kranio-fazialen Symptomen, postnataler Wachstums-Retardierung, Skelettanomalien, Persistenz der fetalen Fingerpolster sowie intellektueller Behinderung (siehe Kasten). Molekulare Analysen können teils zur Bestätigung herangezogen werden. Die Therapie erfolgt symptomatisch. So werden Kleinkinder mit Fütterungsproblemen oftmals mit einer Sonde versorgt. Regelmäßige Kontrollen der Hör- und Sehfähigkeit sollten erfolgen; besteht eine hohe Infektanfälligkeit, ist ein Immunologe heranzuziehen. (JW)

*Niikawa, N.; Matsuura, N.; Fukushima, Y.; Ohsawa, T.; Kajii, T. (1981). Kabuki make-up syndrome: A syndrome of mental retardation, unusual facies, large and protruding ears, and postnatal growth deficiency. The Journal of Pediatrics. 99 (4): 565–9. doi: 10.1016/s0022-3476(81)80255-7

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2020