Kommentar Lukas Stärker: Zukunft heute gestalten

10.10.2020 | Politik


Die sich ändernden gesellschaftlichen und medizinischen Rahmenbedingungen werden enormen Einfluss auf das künftige Gesundheitssystem haben. Deswegen – und auch wegen der langen Vorlaufzeiten für zukunftsrelevante Entwicklungen – sollten Überlegungen für Weichenstellungen jetzt angestellt werden.
Lukas Stärker*

Rahmenbedingungen 2040

Den Anfang bildet eine möglichst realitätsnahe Skizzierung der 2040 zu erwartenden Rahmenbedingungen: Die Bevölkerung wird älter, Zivilisationskrankheiten nehmen tendentiell zu, der Betreuungs- und Pflegebedarf werden ebenso zunehmen wie die Bedeutung der Themen Ernährung und Bewegung. Ebenso wird die Digitalisierung wohl deutlich mehr als heute den Gesundheitsbereich beeinflussen. Eine stete Herausforderung wird auch das Thema Kommunikation bleiben, ebenso wie die zunehmende Migration und die Thematik Ballungsräume versus Peripherie.

Versorgung sicherstellen

Die relevante Frage lautet: Wie schaffen wir es in Österreich auf Basis dieser Rahmenbedingungen, auch noch im Jahr 2040 und danach eine bestmögliche medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen – konkret: Was muss dafür heute getan werden?

Welche Ärztinnen und Ärzte werden ab dem Jahr 2040 in Österreich erforderlich sein? Welche medizinischen Fachspezialitäten werden benötigt? Wie kann ein effektiver und effizienter Mix aus ärztlichen Generalisten neuen Typs und Spezialisten entwickelt und garantiert werden? Wie stellen wir den Informationsfluss zwischen diesen sicher? Wie gehen wir mit dem Phänomen Spezialisierung und der damit verbundenen Einengung um? Wie viele Sonderfächer braucht es wirklich? Wie viele Angehörige welches Sonderfaches sowie Allgemeinmediziner brauchen wir an welchen Standorten – Stichwort Sonderfachverteilung und regionale Verteilung? Welche Arbeitszeitmodelle und Teilzeitformen sichern Attraktivität und Motivation – zum Beispiel Arbeiten in Teams sowie Work-Life-Balance? In welchen Organisationsformen lässt sich dies bestmöglich bewerkstelligen? Wie lassen sich Beruf und Familie vereinbaren? Welche Medizinabsolventenzahl ist dafür erforderlich? Wie viele Studienanfänger sind hierfür notwendig? Wie findet man die für den ärztlichen Beruf am besten geeigneten Personen? Wie hält man diese in Österreich? Längerfristig werden wir es uns in Öster reich nicht leisten können, dass circa ein Drittel der Absolventen des Medizinstudiums nie als Ärztinnen und Ärzte in Österreich tätig wird. Ähnliches gilt für das Pflegepersonal.

Finanzierung

Weiters gilt es, die Finanzierung dieses Systems sicherzustellen, u.a. durch eine klare Prioritätensetzung zugunsten einer entsprechenden Dotierung des Gesundheitssystems sowie durch eine Reduzierung der Komplexität des Systems. Zusätzliche Ressourcen lassen sich auch durch den Abbau von Parallelstrukuren und Mehrgleisigkeiten und nachfolgende Umschichtungen finden: Wer braucht zehn Krankenanstaltengesetze oder über 30 verschiedene Dienstrechte – die sich natürlich alle in Details voneinander unterscheiden und stets von eigenen Verwaltungseinheiten vollzogen und bearbeitet werden müssen – in unserem Land? Warum ist noch immer nicht geklärt, welche Versorgungsstufe wann aufgesucht werden kann und soll? Wo ist die konkrete Information über den jeweiligen „best point of service“?

Erfolgsfaktoren

Ein Schlüssel zum Erfolg ist der sinnvolle und motivierende Einsatz der „Kernressource“ Arzt im Gesundheitssystem. Dies erfordert attraktive Arbeitsbedingungen – Stichwort mehr Medizin, weniger Administration – samt Teilzeitmodellen und eine wertschätzende Umgangskultur. Patienten wollen fitte und bestens ausgebildete Ärztinnen und Ärzte – das muss sichergestellt werden. Ärzte möchten Patienten behandeln und betreuen und nicht mit administrativen Tätigkeiten zugeschüttet werden. Damit hätte man zwei Fliegen auf einen Schlag: Die Kernressource „Arzt“ wäre besser eingesetzt, der Mangel daher geringer und die Ärztinnen und Ärzte wären motivierter. Dies inkludiert auch klare Verantwortungs- und Anordnungsstrukturen sowie motivierende Rahmenbedingungen, etwa ausreichende Personalausstattung in den Spitälern und Regelungen über den Zugang zu Spitalsambulanzen.

Bei Kassenärzten ist eine Durchforstung der Sozialversicherungsadministration und eine attraktivierende Modernisierung der Leistungskataloge angesagt.

Und hinsichtlich Jungärztinnen und Jungärzte: Warum kann das klinisch-praktische Jahr nicht so attraktiv gestaltet werden, dass die Jungärztinnen und Jungärzte danach im gleichen selben Spital gerne auch noch ihre Allgemeinmedizin- oder Facharztausbildung absolvieren? Völlig kontraproduktiv sind Überlegungen von Landespolitikern und Spitalsträgern, dem bestehenden Mangel durch ein zusätzliches „Auspressen“ der vorhandenen Ärztinnen und Ärzte – etwa durch Arbeitszeiterhöhungen – zu begegnen.

Hinzu kommen insbesondere noch folgende Maßnahmen,

1) um die Attraktivität in den Spitälern zu steigern:

  • Reduktion der administrativen Belastung: weniger aktive Dokumentationsarbeit, dafür mehr Zeit für ärztliche Tätigkeiten;
  • ausbildungsgerechte Verwendung der Jungmediziner/-innen;
  • administrative und nichtärztliche Tätigkeiten sollen von dafür geeignetem Personal verrichtet werden;
    • Sinnvoller, qualifikationsadäquater Personaleinsatz
    • Ärztinnen und Ärzte: Medizin
    • diplomiertes Pflegepersonal: Pflege und mitverantwortlicher Tätigkeitsbereich
    • Pflegeassistenz: Unterstützung des diplomierten Pflegepersonals
    • Stationssekretärinnen/-sekretäre: Administration
    • Hilfsdienste: Supportleistungen
  • Steuerung des Zustroms zu den Spitalsambulanzen;
  • verbesserte tagesklinische Betreuung statt stationärer Aufnahme;
  • Etablierung familienfreundlicher Ausbildungsmodelle und Arbeitsbedingungen sowie Umsetzung entsprechender Teilzeitmodelle;
  • Schaffung beziehungsweise Erhalt von Karrieremöglichkeiten in den Spitälern, transparente Verteilung der Ausbildungsstellen;
  • Sicherstellung eines verantwortlichen Leiters pro Organisationseinheit vor Ort;
  • International vergleichbare Grundgehälter für Spitalsärztinnen und Spitalsärzte
    • Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeithöchstgrenzen (KA-AZG, ARG …)
    • Etablierung von Systemen zur innerbetrieblichen Mitarbeitermotivation;
    • Erhalt der Arbeitsfähigkeit und Schaffung von Arbeitszeitmodellen für ältere Spitalsärztinnen und Spitalsärzte.

2) um die Attraktivität im niedergelassenen Bereich zu steigern:

  • Niederlassung attraktivieren: Sicherstellung eines adäquaten Einkommens und adäquater Arbeitsbedingungen speziell in peripheren Gebieten (u. a. bereits frühes „Werben“ um Jungärztinnen/Jungärzte wie zum Beispiel in Deutschland durch „Landarztstipendien“ während der Ausbildung, verstärkte Förderung von Lehrpraxen in Landarztordinationen);
  • Reduktion des administrativen Aufwands;
  • Unterstützung bei der Eröffnung einer Ordination (Vereinfachung baulicher Vorschriften, anwenderfreundliche Bürokratie, mehr Service, „One-Stop-Shop“);
  • Arbeitsbedingungen verbessern – insbesondere am Land (24-Stunden-Verfügbarkeit wird erwartet; sich verschärfende Haftungsproblematik);
  • Zusammenschluss zu mono- und multidisziplinären Gruppenpraxen erleichtern.

Fazit

Aufgrund der aus der Ausbildung – Studium und Facharztausbildung dauern mindestens zwölf Jahre – resultierenden langen Vorlaufzeit für zukunftsrelevante Weiterentwicklungen  sollten zukunftsträchtige und nachhaltige Entscheidungen nun getroffen und die notwendigen Schritte zügig in Angriff genommen werden. Fakten und Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch, für weitere Verzögerungen ist keine Zeit – sehr geehrter Herr Minister Anschober – hic rhodus, hic salta!

*) HR Doz. (FH) Dr. Lukas Stärker ist Kammeramtsdirektor der ÖÄK

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2020