Schwer­punkt Neu­ro­lo­gie: Mul­ti­ple Skle­rose: Krank­heits­ver­lauf abschätzen

25.05.2020 | Medizin


Wäh­rend man sich frü­her bei der The­ra­pie der Mul­ti­plen Skle­rose schritt­weise ange­nä­hert hat, ver­sucht man heute, schon im Vor­feld den Krank­heits­ver­lauf ein­zu­schät­zen, die Betrof­fe­nen zu kate­go­ri­sie­ren und die The­ra­pie ent­spre­chend aus­zu­wäh­len. Künf­tig wird es darum gehen, neu­ro­pro­tek­tive und neu­ro­re­pa­ra­tive The­ra­pien zu entwickeln.

Für die Früh­phase der Mul­ti­plen Skle­rose haben wir mitt­ler­weile eine Viel­zahl von Sub­stan­zen zur Ver­fü­gung“, berich­tet Univ. Prof. Fritz Leut­me­zer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie in Wien. Unter­schiede gibt es vor allem bei den Wirk­me­cha­nis­men und Effekt­grö­ßen. So liegt die Wirk­sam­keit bei der Reduk­tion der Krank­heits­ak­ti­vi­tät im Ver­gleich zu Pla­cebo je nach Sub­stanz zwi­schen minus 30 bis minus 70 Pro­zent. Je nach Sicher­heits­be­dürf­nis und Risi­ko­be­reit­schaft des Pati­en­ten fällt die Ent­schei­dung für oder gegen ein bestimm­tes Prä­pa­rat. „Wäh­rend man das Risiko für Neben­wir­kun­gen anhand der Fall­zahl­be­rech­nun­gen rela­tiv gut abschät­zen kann, gibt es für den Nut­zen lei­der keine sichere Pro­gnose“, weiß Leut­me­zer. Da die Aggres­si­vi­tät der Mul­ti­plen Skle­rose nach dem ers­ten Schub nicht exakt ein­ge­schätzt wer­den könne, handle es sich bei der Behand­lung eher um eine Art Her­an­tas­ten. „Das The­ra­pie­schema hat sich durch die 2017 erschie­ne­nen, revi­dier­ten McDo­nald-Kri­te­rien indi­rekt grund­le­gend ver­än­dert“, sagt Assoz. Prof. Chris­tian Enzin­ger von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie in Graz. Wäh­rend man frü­her mit einer Basis­the­ra­pie begon­nen und sich stu­fen­weise der Eska­la­ti­ons­the­ra­pie ange­nä­hert hat, ver­sucht man heute im Vor­feld, den Krank­heits­ver­lauf bes­ser ein­zu­schät­zen. „Indem wir die Pati­en­ten in milde, mode­rate und aggres­si­vere Fälle kate­go­ri­sie­ren, kön­nen wir die The­ra­pie durch Aus­wahl der pas­sen­den Wirk­stärke der Medi­ka­mente effi­zi­en­ter gestal­ten“, erklärt Enzin­ger. So wer­den Prä­pa­rate wie Beta-Inter­fe­ron, Gla­ti­ra­merace­tat, Terif­lu­no­mid oder auch Dime­thyl­fu­ma­rat der Wirk­stärke 1 zuge­ord­net, Sipo­nimod und Cladribin der Stufe 2 sowie Nata­li­zu­mab und Ocreli­zu­mab der Stufe 3.

Im Gegen­satz zu den zahl­rei­chen medi­ka­men­tö­sen Optio­nen, die es für die schub­för­mige Phase gibt, sind für die pro­gre­di­ente Phase nur zwei Sub­stan­zen in der EU zuge­las­sen: Ocreli­zu­mab (Ocrevus®) seit 2018 für die pri­mär pro­gre­di­ente und Sipo­nimod (May­zent®) seit Jän­ner 2020 für die sekun­där pro­gre­di­ente Form. „Die bei­den The­ra­pie­an­sätze sind grund­sätz­lich nicht neu, neu ist nur ihr Anwen­dungs­be­reich für die pro­gre­di­en­ten For­men“, erklärt Enzin­ger. Aller­dings ist ihr Effekt gerin­ger als bei der schub­för­mi­gen Phase. „Wäh­rend für Ocreli­zu­mab bei der schub­för­mi­gen Mul­ti­plen Skle­rose Effekt­grö­ßen von 60 bis 70 Pro­zent erreicht wer­den, sind es bei der pri­mär pro­gre­di­en­ten Form nur mehr 25 Pro­zent“, führt Leut­me­zer aus. Ähn­li­che Ergeb­nisse gibt es für Siponimod.

The­ra­pie für pro­gre­di­ente Formen

Der huma­ni­sierte mono­klon­ale Anti­kör­per Ocreli­zu­mab rich­tet sich gegen CD20-expri­mie­rende B‑Zellen und wird in sechs­mo­na­ti­gen Abstän­den intra­ve­nös ver­ab­reicht. Die Ver­träg­lich­keit ist ins­ge­samt gut mit rela­tiv wenig Neben­wir­kun­gen. Doch es wer­den auch immer wie­der Schwä­chen dis­ku­tiert. „Neben den eher beschei­de­nen Abso­lut-Ergeb­nis­sen scheint es sich bei der Popu­la­tion der Wirk­sam­keits­stu­die um eine unge­wöhn­lich selek­tierte Gruppe gehan­delt zu haben“, bemerkt Leut­me­zer. Im Durch­schnitt kommt man erst nach fünf, sechs Jah­ren dar­auf, dass eine Mul­ti­ple Skle­rose vor­liegt. In der Wirk­sam­keits­stu­die habe es sich aber um jün­gere Pati­en­ten mit einer kür­ze­ren Krank­heits­dauer (Median: vier Jahre) gehan­delt. Außer­dem müsse erwähnt wer­den, dass einige Per­so­nen in der Inter­ven­ti­ons­gruppe im Ver­gleich zur Pla­cebo-Kon­troll­gruppe ein Mam­ma­kar­zi­nom ent­wi­ckelt haben.

Der selek­tive Sphin­gosin-1-Phos­phat-Rezep­tor-Modu­la­tor Sipo­nimod wird täg­lich in Tablet­ten­form ein­ge­nom­men und bin­det an die S1P-Rezep­tor-Sub­ty­pen 1 und 5. Sipo­nimod stellt die der­zeit ein­zige Behand­lungs­op­tion für Pati­en­ten dar, die zu Beginn eine schub­för­mige Erkran­kung hat­ten und in eine sekun­där pro­gre­di­ente Phase über­ge­gan­gen sind. Vor­teile im Ver­gleich zu bis­he­ri­gen The­ra­pien sind die Mög­lich­keit eines direk­ten Umstiegs von ande­ren The­ra­pien auf Sipo­nimod (Aus­nahme: Alem­tu­zu­mab) und die deut­lich schnel­lere Eli­mi­nie­rung. „Im Gegen­satz zur Vor­gän­ger­sub­stanz Fin­go­li­mod, bei der es zwei bis drei Monate dau­ert, bis die Sub­stanz den Kör­per ver­las­sen hat, gehen wir bei Sipo­nimod von etwa einer Woche aus“, schätzt Enzin­ger. Damit bewegt man sich in Rich­tung einer maß­ge­schnei­der­ten, wenn auch noch nicht per­so­na­li­sier­ten, The­ra­pie: Vor Beginn der Behand­lung fin­det eine Geno­ty­pi­sie­rung statt, um den Meta­bo­li­sie­rungs­sta­tus für Cytochrom-P450-Iso­en­zym 2C9 (CYP2C9) zu bestim­men. Anhand des Ergeb­nis­ses wer­den die Betrof­fe­nen in schnelle, mitt­lere oder lang­same Meta­bo­li­sie­rer kate­go­ri­siert und die Sub­stanz­do­sis ent­spre­chend adap­tiert. Hin­sicht­lich der Wirk­sam­keit bestehen aber auch für Sipo­nimod Zwei­fel. So schei­nen die 25 Pro­zent, bei denen eine Wir­kung erzielt wurde, vor­wie­gend Pati­en­ten ein­zu­schlie­ßen, bei denen noch eine gewisse Ent­zün­dungs­ak­ti­vi­tät besteht, bemerkt Leut­me­zer. Bei Pati­en­ten mit 20 Jah­ren Krank­heits­dauer wirke das Prä­pa­rat hin­ge­gen sehr wahr­schein­lich kaum. Dar­über hin­aus habe es laut Leut­me­zer bei Sipo­nimod gehäuft kar­diale Neben­wir­kun­gen gege­ben und ein erhöh­tes Risiko für bestimmte Haut­ma­li­gnome könne der­zeit eben­falls noch nicht aus­ge­schlos­sen wer­den. End­gül­tige Aus­sa­gen über Ursa­che-Wir­kungs-Bezie­hun­gen seien auf­grund des kur­zen Beob­ach­tungs­zeit­raums noch nicht möglich.

Ocreli­zu­mab und Sipo­nimod sind die ein­zi­gen medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie­op­tio­nen für die pro­gre­di­ente Mul­ti­ple Skle­rose. „Die große Her­aus­for­de­rung ist die Wirk­sam­keits­be­ur­tei­lung der neuen Prä­pa­rate“, betont Enzin­ger. Und wei­ter: „Wir müs­sen her­aus­fin­den, wel­che Pati­en­ten­grup­pen beson­ders von den neuen Sub­stan­zen pro­fi­tie­ren, wel­che Risi­ken sich erge­ben und was eine um 25 Pro­zent redu­zierte Pro­gres­sion der Erkran­kung für den ein­zel­nen Betrof­fe­nen bedeu­tet“. Durch Extra­po­la­tion wird dazu der Gesund­heits­sta­tus vor der the­ra­peu­ti­schen Inter­ven­tion und ein Jahr spä­ter ver­gli­chen, wobei jeder Betrof­fene dabei als seine eigene Kon­trolle fun­giert. Auf­grund der immun­sup­pres­si­ven Wir­kung von Ocreli­zu­mab und Sipo­nimod ist der Ein­satz die­ser Sub­stan­zen gerade bei älte­ren Men­schen genau abzu­wä­gen. Bei bestehen­den Infek­tio­nen, Lym­pho­pe­nie, Mali­gno­men oder höher­gra­di­gen kar­dia­len Vor­er­kran­kun­gen ist Zurück­hal­tung gebo­ten. Vor The­ra­pie­be­ginn wer­den umfang­rei­che Vor­un­ter­su­chun­gen durch­ge­führt. Dabei ist Enzin­ger zufolge auch unbe­dingt an den Impf­sta­tus zu den­ken, da die B‑Zellen wäh­rend der The­ra­pie mit Ocreli­zu­mab weit­rei­chend deple­tiert wer­den und man­che Imp­fun­gen daher zu ein­ge­schränk­ter Immu­ni­sie­rung füh­ren. Gene­rell gilt bei Mul­ti­pler Skle­rose, dass Lebend­impf­stoffe als pro­ble­ma­tisch betrach­tet wer­den müs­sen. Bei Sipo­nimod sind Imp­fun­gen auch wäh­rend der The­ra­pie mög­lich. Fer­ner soll­ten Frauen im gebär­fä­hi­gen Alter im Zeit­raum von zwölf Mona­ten nach der letz­ten Ocreli­zu­mab-Infu­sion ihren Emp­fäng­nis­schutz aufrechterhalten.

Neu­ro­pro­tek­tion wünschenswert

Zwar gibt es nun für die pri­mär und sekun­där pro­gre­di­ente Form der Mul­ti­plen Skle­rose mit Ocreli­zu­mab und Sipo­nimod jeweils eine evi­denz­ba­sierte The­ra­pie­op­tion, jedoch sind die Effekte beschei­den. Beide Exper­ten sind sich einig, dass die zukünf­tige For­schung dahin gehen muss, neu­ro­pro­tek­tive und neu­ro­re­pa­ra­tive The­ra­pien zu ent­wi­ckeln. „The­ra­pien, die Ner­ven­zel­len resis­ten­ter machen und vor dem Abster­ben schüt­zen, sind auch für andere neu­ro­de­ge­nera­tive Erkran­kun­gen wie Demenz, für Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten oder für den Alte­rungs­pro­zess per se inter­es­sant“, resü­miert Leut­me­zer. Bis­her steht man hier aber noch am Anfang. „Aus Fall­be­rich­ten wurde ver­mu­tet, dass Bio­tin als Coen­zym einen Schutz für Oli­go­den­dro­zy­ten und deren Ener­gie­sta­tus dar­stel­len könnte“, berich­tet Enzin­ger. Jedoch konnte diese Annahme in einer Pla­cebo-kon­trol­lier­ten Stu­die bei der pro­gre­di­en­ten Mul­ti­plen Skle­rose ohne Schübe und einer Dosis von drei­mal 100 mg pro Tag vor­erst nicht bestä­tigt wer­den. „Man darf nicht ver­ges­sen, dass Medi­ka­mente bei chro­ni­schen Ver­läu­fen viel schwie­ri­ger zu tes­ten sind“, betont Leut­me­zer. (LAS)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2020