Schwerpunkt Neurologie: Migränetherapie: Multimodal und individualisiert

25.05.2020 | Medizin


Die Therapie der Migräne ist multimodal und es steht ein breites Spektrum an medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die zahlreichen Nebenwirkungen sind jedoch oft der Grund dafür, wieso die Betroffenen bei der Prophylaxe nicht compliant sind.
Laura Scherber

In der Akuttherapie werden herkömmliche Analgetika wie Aspirin, Ibuprofen, Metamizol oder Diclofenac verwendet – frühzeitig und ausreichend hoch dosiert und – wenn diese nicht wirken – Triptane. Da Triptane zu einer Vasokonstriktion führen können, sind sie bei Personen mit zerebro- und kardiovaskulären Vorerkrankungen kontraindiziert, betont Priv. Doz. Stefan Leis von der Universitätsklinik für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation in Salzburg. „In Studien haben Triptane ihren Vorteil bewiesen, dass sie den wiederkehrenden Kopfschmerz besser verhindern als herkömmliche Schmerzmittel“, betont Sonja-Maria Tesar vom Klinikum Klagenfurt und Landeskrankenhaus Wolfsberg.

Die Prophylaxe beruht auf einer medikamentösen und einer nicht medikamentösen Säule. „Nicht medikamentöse Maßnahmen wie Ausdauersport, Entspannungsverfahren oder Biofeedback kann man allen Patienten empfehlen, da sie die Kopfschmerzhäufigkeit erwiesenermaßen reduzieren“, erklärt Leis. Dazu kommen medikamentöse Therapieoptionen für Patienten, die mindestens drei Kopfschmerztage pro Monat haben, bei denen die Akuttherapie, auch mit Triptanen, nicht gut wirkt beziehungsweise nicht toleriert wird, die regelmäßig unter sehr langen Migräneattacken (länger als 72 Stunden) leiden oder für Patienten nach einem migränösen Hirninfarkt. Für die prophylaktische Therapie stehen zum einen unspezifisch wirksame konventionelle Prophylaktika zur Verfügung, zum anderen neue, spezifische monoklonale Antikörper. Zu den konventionellen Prophylaktika gehören Betablocker wie Metoprolol, Propranolol und Bisoprolol, Kalziumantagonisten wie Flunarizin, Antidepressiva wie Amitriptylin und Antiepileptika wie Topiramat oder Valproinsäure. „Diese vier Medikamentengruppen sind erste Wahl zur Migräneprophylaxe. Sie haben alle allerdings zahlreiche Nebenwirkungen, die oft dazu führen, dass Patienten sie nicht dauerhaft nehmen“, fasst Leis zusammen. Außerdem werde die Valproinsäure – obwohl noch in den aktuellen Leitlinien empfohlen – aufgrund ihrer Teratogenität kaum mehr eingesetzt.

Der Einsatz von monoklonalen Antikörpern ist aufgrund ihrer guten Verträglichkeit und dem günstigen Nebenwirkungsprofil besonders vielversprechend. In Europa sind drei von ihnen für die episodische und chronische Migräne zugelassen: Galcanezumab und Fremanezumab, die sich gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) richten und Erenumab, der seine Wirkung am CGRP-Rezeptor entfaltet. Die Zulassungsstudien haben gezeigt, dass bei der episodischen Migräne eine Reduktion von drei bis knapp fünf Migränetagen pro Monat erreicht wurde; bei der chronischen Migräne, bei der mindestens 15 Kopfschmerztage pro Monat auftreten, von denen mindestens acht die Kriterien einer Migräne erfüllen, waren es vier bis 6,5 Migränetage weniger. „Bei ungefähr der Hälfte der Patienten wird die Kopfschmerzhäufigkeit um mindestens 50 Prozent reduziert“, berichtet Leis. Zugelassen sind monoklonale Antikörper für Erwachsene mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Seit April 2020 befinden sich alle drei Präparate in der Grünen Box und sind erstattungsfähig. Voraussetzungen dafür sind die Erstverordnung durch einen Neurologen, mindestens drei Versuche mit konventionellen Prophylaktika, die entweder zu keinem klinisch relevanten Erfolg oder zu einem Therapieabbruch aufgrund von Nebenwirkungen geführt haben, beziehungsweise beim Vorliegen von Kontraindikationen gegen konventionelle Prophylaktika.

Auch Tesar erlebt, wie sich die Lebensqualität der Patienten durch die monoklonalen Antikörper verbessert und nur leichte Nebenwirkungen wie Juckreiz oder Obstipation berichtet werden. „Der monoklonale Antikörper wird über sechs bis neun Monate monatlich gespritzt, nach drei Monaten erfolgt eine Kontrolle beim Facharzt anhand des Kopfschmerzkalenders und einer Überprüfung der Verträglichkeit sowie gegebenenfalls auch der Lebensqualität und nach sechs bis neun Monaten kann man einen Auslassversuch machen, weil man auch im Tierexperiment gesehen hat, dass es zu einer nachhaltigen Reduktion der Migräne-Frequenz kommt“, fasst die Expertin zusammen. Ausschlussgründe für monoklonale Antikörper sind kardiovaskuläre Vorerkrankungen, entzündliche Darmerkrankungen, Morbus Raynaud sowie ein Alter über 65 und unter 18. Eine weitere Therapieoption für die chronische Migräne stellt Botulinumtoxin dar, das alle drei Monate gespritzt wird, aber im Vergleich zu monoklonalen Antikörpern weiter an Bedeutung verliere. „Auch hier gibt es Patienten, die gut darauf ansprechen. Allerdings gibt es naturgemäß auch eine Wirkung als Nervengift auf die Mimik und die 33 Injektionen sind irgendwann nicht mehr gut auszuhalten“, weiß Tesar. Da Triptane für Patienten mit zerebro- und kardiovaskulären Erkrankungen kontraindiziert sind, konzentriert sich ein wichtiger Teil der derzeitigen Forschung darauf, für diese Patientengruppe andere Optionen zur Verfügung zu stellen. Aus zwei neuen Medikamentengruppen sind Substanzen für die Akuttherapie Leis zufolge in den USA schon zugelassen: Ditane, die am 5-HT1F Rezeptor ansetzen, ohne eine Vasokonstriktion zu bewirken, und Gepante, Antagonisten des CGRP-Rezeptors.

In puncto Therapieresistenz stellt sich laut Tesar fast unweigerlich die Frage nach der Therapie-Adhärenz. Zu Beginn der Therapie seien die Patienten hoch motiviert und hielten sich strikt an die verordnete Therapie. „Allerdings sind es nach sechs Monaten nur noch etwa 20 Prozent, die das Medikament in der entsprechenden Dosierung und Frequenz pro Tag einnehmen“, berichtet Tesar. Aber natürlich gibt es – wie bei jedem anderen Medikament – unter den verbleibenden Patienten auch einige Non-Responder. Bei monoklonalen Antikörpern ist die Adhärenz durch die monatliche Darreichungsform in der Regel gegeben. Außerdem kann Leis zufolge bei chronischen Kopfschmerzen neben der zugrundeliegenden Migräne zusätzlich Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerz vorliegen. Die kritische Grenze dafür liegt für Analgetika bei mindestens 15, für Triptane bei zehn oder mehr Einnahmetagen pro Monat. In diesen Fällen ist eine Medikamentenpause indiziert. „Bei etwa der Hälfte der Patienten reduziert sich die Kopfschmerzfrequenz nach ein bis zwei Wochen wieder“, weiß Leis. Zusätzlich bleiben immer noch die nicht medikamentösen Optionen. Im Rahmen des biopsychosozialen Erklärungsmodells lernen die Patienten in einer verhaltenstherapeutischen Gruppenintervention in Salzburg, wie sie ihre individuellen Triggerfaktoren erkennen und ihre Stressverarbeitung verbessern. Für die Patienten ist es wichtig, dass sie Vorboten von Migräneattacken wie Heißhunger, imperatives Gähnen, Harnflut, Gereiztheit, Lärmempfindlichkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten früh als solche erkennen und adäquat reagieren. „Wenn man die Patienten nicht nur einseitig therapiert, kann man die Migräne ziemlich gut managen“, resümiert die Expertin.


Migräne bei Kindern und Jugendlichen

Bei kleinen Kindern verläuft eine Migräne meist etwas anders als bei Erwachsenen. So ist beispielsweise die Dauer einer Migräneattacke generell kürzer (etwa eine Stunde) und kann sich manchmal „nur“ in einer abdominellen Migräne mit Bauchschmerzen äußern, was zu Fehlinterpretationen führen kann. „Wenn Kinder Migräne haben, hören sie auf, zu spielen, ziehen sich bewusst an einen stillen Platz zurück, schlafen manchmal auch ein und das Ganze ist vorbei“, berichtet Tesar. Zur medikamentösen Behandlung gibt es zum Beispiel Nurofen und für Kinder ab zwölf Jahren Zolmitriptan als Nasenspray. Für die prophylaktische Therapie wird der Calciumantagonist Sibelium eingesetzt, wobei die Nebenwirkung der Gewichtszunahme bei Kindern selten auftritt. Dazu kommt, dass bei Kindern nicht medikamentöse Verfahren noch besser wirken als bei Erwachsenen. „Der Migränepatient und auch das Migränekind brauchen mehr Pausen im Alltag. Das betroffene Kind braucht in der Früh mehr Zeit, in den Tag träumen zu können“, weiß Tesar. Und weiter: „Der Migränepatient hat eine Persönlichkeit, die eher leistungsorientiert ausgerichtet ist, charakterisiert durch ein ständiges Gefühl, funktionieren zu müssen und perfekt sein zu wollen, immer Druck zu haben, wodurch über die Jahre Wut und Autoaggression entstehen können“. Regelmäßige Schlafens- und Essenszeiten sowie Pausen im Alltag und Entspannungstechniken sind wichtige Maßnahmen. Gleichzeitig sei der Kopfschmerzkalender ein wichtiges Tool: Indem die Kinder zusätzlich zu den Eltern ihren eigenen Kopfschmerzkalender führen, zeigt sich ein therapeutischer Effekt allein durch die Auseinandersetzung mit der Migräne.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2020