Psychosomatik: Symptomatik ernst nehmen

15.12.2020 | Medizin


Lassen sich für körperliche Symptome keine organischen Auslöser finden, können Betroffene nur schwer damit umgehen. Daher gilt, mit dem Patienten zusammen frühzeitig ein gemeinsames bio-psychosoziales Krankheitsverständnis zu entwickeln. So soll unter anderem eine Chronifizierung der Symptomatik verhindert werden.
Laura Scherber

Beschwerden,die sich präsentieren wie eine körperliche Erkranung – „und trotzdem kann man trotz umfangreicher Untersuchungen keinen pathologischen Befund erheben, der diese Beschwerden erklärt“, so beschreibt Univ. Prof. Stephan Doering von der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie das Krankheitsbild der somatoformen beziehungsweise dissoziativen Störungen. Bei dieser zukünftig auch als „Somatische Belastungsstörungen“ bezeichneten Form liegt die Prävalenz bei etwa fünf bis sieben Prozent. Allerdings hat fast jeder Mensch gelegentlich einmal im Leben irgendwann ein körperliches Symptom ohne eindeutige organische Ursache, das auch wieder verschwindet und meist unproblematisch ist. Als Ursachen dafür nennt Doering unspezifische Belastungen wie Stress oder Trauma, die über Immunschwäche, hormonelle Veränderungen oder andere Vorgänge zu körperlichen Symptomen führen. Eine zweite Form bezieht sich auf Coping-Störungen, bei denen eine körperliche – häufig onkologische – Erkrankung besteht und bei der die Patienten Schwierigkeiten mit der Krankheitsbewältigung haben. „Die dritte Gruppe umfasst körperliche Erkrankungen, die aber sehr empfindlich für psychische Einflüsse sind und bei der psychosoziale Belastungen den Krankheitsverlauf sehr verändern können“, führt Doering weiter aus. Gemeint sind Erkrankungen wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, das Reizdarm-Syndrom oder Asthma, bei denen das Immunsystem empfindlich auf psychische Faktoren reagiert.

Bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis

Ein weiteres Thema der psychosomatischen Medizin ist die Interaktion zwischen einzelnen psychischen und somatischen Krankheitsbildern. Beispiele dafür sind Stoffwechselstörungen, Übergewicht, mit dem Gewicht in Zusammenhang stehende muskuläre Schmerzen und begleitende Depressionen. Die Betroffenen denken in der Regel primär an eine somatische Ursache. „Ein zentraler Punkt bei diesen Beschwerdesyndromen ist, frühzeitig mit dem Patienten eine erweiterte Sichtweise zu erarbeiten und ein gemeinsames bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis zu entwickeln“, erklärt Priv. Doz. Christian Fazekas von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie. Dabei werden die somatischen, psychischen und sozialen Faktoren berücksichtigt, welche prädisponierend, auslösend oder aufrechterhaltend wirken. „Einerseits gibt es diesen sensorischen Input im Sinne von Bottom-up-Prozessen. Und dann gibt es Erwartungen, die auch zum Erleben von Körperbeschwerden beitragen können im Sinne von Top-down-Prozessen“, weiß Fazekas. Wichtig sei in diesem Kontext, eine Chronifizierung der Symptomatik zu verhindern. „Normalerweise wollen Menschen, wenn sie medizinische Hilfe suchen, eine einfache Erklärung und Lösung. Hier müssen wir sie eigentlich damit konfrontieren, dass diese Beschwerden viele Einflussgrößen haben“, fügt der Experte hinzu.

Vertrauen aufbauen

Neben der medizinischen Abklärung ist der erste Schritt, dass man den Betroffenen zuhört und eine Vertrauensbeziehung aufbaut. Anhand der Patientengeschichte, ihren eigenen Überlegungen und Erklärungen sowie ihrer Lebenssituation lassen sich die bio-psycho-sozialen Einflussfaktoren bereits gut ablesen. „Wenn Menschen wissen, worum es da geht, dass es dafür einen medizinischen Fachbegriff gibt, dass das grundsätzlich nicht mit einer schlechteren Lebenserwartung einhergeht und dass es aktive Bewältigungsstrategien gibt, baut sich der damit einhergehende Stress ein wenig ab“, weiß Fazekas. Nicht selten verschwinden diese Symptome auch wieder von selbst.

Der nächste Schritt ist, gemeinsam mit dem Patienten aktive Bewältigungsstrategien zu erarbeiten, durch die er seine Aufmerksamkeit wieder zunehmend von den Beschwerden weg auf andere Aspekte seines Lebens lenkt. Sport und Bewegung haben sich in diesem Kontext als förderlich erwiesen. „Medikamentöse Ansätze sind ein vorübergehender Behandlungsversuch, dem bei bestehender Komorbidität eine gewisse Rolle zukommt“, erklärt Fazekas. Und weiter: „Die vorrangige Behandlungsmethode sind bei schwereren Verläufen aber psychotherapeutische Ansätze und multimodale Behandlungsverfahren“. Die meiste Evidenz gibt es für verhaltenstherapeutische und psychodynamische Konzepte. Auch andere Psychotherapierichtungen können – obwohl eine entsprechende Datenlage fehlt – durchaus wirksam sein. Für die Therapie der somatoformen Störung hat sich Doering zufolge auch die psychodynamische Kurzzeittherapie als wirksam erwiesen, bei der es sich um eine Intervention mit zehn therapeutischen Sitzungen handelt. Je nachdem, wie stark ein Mensch psychisch belastet ist, gibt es die Indikation für eine Psychotherapie über einen längeren Zeitraum. „Wenn man die psychischen Probleme erfolgreich behandelt, werden häufig auch diese Körperbeschwerden weniger“, resümiert Doering. Neben einer genauen Aufklärung über die Hintergründe der Erkrankung sei ein wichtiger Schritt, die sich durch die Besorgnis häufenden Doppelt- und Dreifachuntersuchungen sowie unnötige invasive Eingriffe zu vermeiden. „Auf diese Weise verhindert man eine negative Entwicklung und dass die Symptomatik mit den Jahren noch viel schlimmer wird“, betont Doering.

Fachlich lässt sich die psychosomatische Betreuung in mehrere Stufen unterteilen. „Die erste bezeichnet man als allgemeine ärztliche Psychotherapie, eine qualifizierte Gesprächsführung, bei der man sich Zeit für den Patienten nimmt und auf ihn und seine Beschwerden eingeht“, beschreibt Doering. Diese Kompetenz ist inzwischen Bestandteil des Medizinstudiums. Vertieft werden diese Kompetenzen mit dem ÖÄK-Diplom Psychosoziale Medizin (PSY 1). Das ÖÄK-Diplom Psychosomatische Medizin (PSY 2) befähigt dazu, ein bestimmtes Konfliktthema zu thematisieren und leichtere Störungen kurativ anzugehen und den Patienten zu helfen, mit ihrem Problem fertig zu werden. Beide ÖÄK-Diplome (PSY 1 und 2) sind laut Doering besonders für den niedergelassenen Bereich empfehlenswert, da man viele Patienten über Jahre und Jahrzehnte begleite, „was ein großer Vorteil ist“. Das ÖÄK-Diplom Psychotherapeutische Medizin (PSY 3) bildet die letzte Stufe und bezieht sich auf die Fachpsychotherapie, bei der es um längere psychotherapeutische Prozesse und schwerere Erkrankungen geht. „In vergleichbarem Umfang werden Psychotherapeuten und Fachärzte für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin ausgebildet“, fügt Doering abschließend hinzu.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2020