Poly­neu­ro­pa­thie: Hei­lung in Einzelfällen

15.07.2020 | Medizin

Die Mehr­zahl der Poly­neu­ro­pa­thien kann zwar nicht geheilt, aber beein­flusst wer­den. In Öster­reich lässt sich rund ein Drit­tel aller Fälle auf Dia­be­tes mel­li­tus zurück­füh­ren. Vit­amin B kann sowohl bei Man­gel als auch bei Über­do­sie­rung eine Poly­neu­ro­pa­thie ver­ur­sa­chen.
Sophie Fessl

Dass häu­fig noch weit ver­brei­tet die Mei­nung herrscht, bei Poly­neu­ro­pa­thien könne man nicht ein­grei­fen und die Betrof­fe­nen daher keine adäquate Dia­gnose und The­ra­pie erhal­ten, kann Univ. Doz. Udo Zifko von der Abtei­lung für Neu­ro­lo­gie im Evan­ge­li­schen Kran­ken­haus Wien bestä­ti­gen. Er hält ent­ge­gen, dass dem jedoch nicht so ist: „Bei Poly­neu­ro­pa­thien reicht das Spek­trum von nicht beein­fluss­ba­ren bis zu kom­plett heil­ba­ren Polyneuropathien“. 

Poly­neu­ro­pa­thien kön­nen mit sen­si­blen, moto­ri­schen und auto­no­men Sym­pto­men ein­her­ge­hen, auch neu­ro­pa­thi­sche Schmer­zen zäh­len zu den typi­schen Sym­pto­men. „Emp­fin­dungs­stö­run­gen sind typisch für Poly­neu­ro­pa­thie-Pati­en­ten, dazu kom­men Unsi­cher­heit beim Gehen, Ner­ven­schmer­zen, Taub­heits­ge­fühle, sowie auto­nome Stö­run­gen. Star­kes Schwit­zen im Gesichts­be­reich, Magen­sym­ptome aber auch Schwin­del bei Lage­wech­sel kön­nen daher Sym­ptome einer Poly­neu­ro­pa­thie sein“, betont Zifko. 

Zwi­schen 300 und 500 ver­schie­dene Ursa­chen für Poly­neu­ro­pa­thien sind bekannt, von denen einige aller­dings in Öster­reich nur sel­ten auf­tre­ten. „Die welt­weit häu­figste Ursa­che für Poly­neu­ro­pa­thie welt­weit ist Lepra“, erklärt Univ. Prof. Wolf­gang Löscher von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck. In Öster­reich las­sen sich die meis­ten Fälle, rund ein Drit­tel, auf Dia­be­tes mel­li­tus zurück­füh­ren. Wei­ters sind toxi­sche Neu­ro­pa­thien häu­fig, in ers­ter Linie auf­grund von Alko­hol oder Medi­ka­men­ten, ins­be­son­dere Che­mo­the­ra­pien. „Diese neh­men an Rele­vanz zu, da die meis­ten Che­mo­the­ra­pien Neu­ro­pa­thien erzeu­gen und die Häu­fig­keit der Che­mo­the­ra­pie sowie die Über­le­bens­zeit nach Che­mo­the­ra­pie zuneh­men“, führt Löscher aus. Rund ein Vier­tel der Per­so­nen, die an Poly­neu­ro­pa­thie lei­den, sind von kryp­to­ge­nen Poly­neu­ro­pa­thien betrof­fen; eine Rolle spie­len auch immun­ver­mit­telte Poly­neu­ro­pa­thien, ver­erbte Poly­neu­ro­pa­thien sowie Neu­ro­pa­thien auf­grund von Vit­amin B‑Mangel. „Diese Ursa­chen kön­nen patho­phy­sio­lo­gisch in zehn bis zwölf Grup­pen unter­teilt wer­den, je nach­dem, wel­cher Teil des Ner­ven­sys­tems betrof­fen ist, an wel­cher Stelle die Neu­ro­pa­thie auf­tritt und wel­che Ner­ven­fa­sern invol­viert sind“, erklärt Zifko, der zwei große Unter­for­men her­vor­hebt: axo­nale und demye­li­ni­sie­rende Neuropathien.

Die meis­ten Neu­ro­pa­thien sind län­gen­ab­hän­gig, betont Löscher. Dabei geht man davon aus, dass der axo­nale Trans­port zu bezie­hungs­weise von den Ner­ven­endi­gun­gen ursäch­lich betrof­fen ist. „Der axo­nale Trans­port ist bei vie­len Poly­neu­ro­pa­thie-Pati­en­ten beein­träch­tigt, das kann unter­schied­li­che Ursa­chen haben wie etwa feh­lende Ener­gie für den Trans­port oder beschä­digte Struk­tur­ele­mente.“ Bei immun­ver­mit­tel­ten Poly­neu­ro­pa­thien hin­ge­gen erfolgt in der Regel ein immu­no­lo­gi­scher Angriff auf die Ner­ven­fa­ser oder die Mye­lin­scheide, die­ser kann sowohl distal als auch pro­xi­mal erfol­gen. „Immun­ver­mit­telte Poly­neu­ro­pa­thien sind nicht län­gen­ab­hän­gig, Sym­ptome tre­ten typi­scher­weise auch pro­xi­mal auf.“ Wei­ters sind für Poly­neu­ro­pa­thien sowohl akute als auch chro­ni­sche For­men bekannt.

Elek­tro­n­eu­ro­gra­phie: dia­gnos­ti­scher Standard 

Ana­mnese, kli­ni­scher Befund sowie eine umfang­rei­che Labor­un­ter­su­chung bil­den die Grund­lage für die kor­rekte Dia­gnose. „Es ist nicht unüb­lich, dass eine Dia­be­tes-Erkran­kung in frü­hem Sta­dium erst über eine Labor­ab­klä­rung für eine Poly­neu­ro­pa­thie ent­deckt wird“, berich­tet Zifko. „Auch der Vit­amin B‑Spiegel ist wich­tig, denn sowohl ein Man­gel als auch eine Über­do­sie­rung ver­ur­sa­chen Poly­neu­ro­pa­thien.“ Neben dem Blut­bild sind die Über­prü­fung der Leber‑, Nie­ren- und Schild­drü­sen­funk­tion wich­tig zur Abklä­rung von Neu­ro­pa­thien. Eine Elek­tro­n­eu­ro­gra­phie zur Bestim­mung der Ner­ven­leit­fä­hig­keit ist dia­gnos­ti­scher Stan­dard, betont Zifko wei­ters. „Diese Unter­su­chung ist abso­lut not­wen­dig, da sie die Ein­tei­lung der Art der Neu­ro­pa­thie sowie des Schwe­re­grads ermög­licht. Außer­dem dient sie als Ver­laufs­pa­ra­me­ter und zur Objektivierung.“ 

Bei einer rasch fort­schrei­ten­den Poly­neu­ro­pa­thie bezie­hungs­weise einer ver­mu­te­ten ent­zünd­li­chen Poly­neu­ro­pa­thie kön­nen laut Zifko Lum­bal­punk­tion, Haut- und Ner­ven­bi­op­sie sowie unter Umstän­den auch eine Mus­kel­bi­op­sie als wei­tere Schritte sinn­voll sein. Bei Ver­dacht auf eine Small-Fiber-Neu­ro­pa­thie bleibt die Haut­bi­op­sie die ein­zige Dia­gno­se­op­tion. Diese Pati­en­ten haben nor­male Reflexe, Kraft und Ner­ven­leit­fä­hig­keit, kla­gen aber trotz­dem über Neu­ro­pa­thie-Sym­ptome. Falls cha­rak­te­ris­ti­sche Beschwer­den einer Poly­neu­ro­pa­thie auf­tre­ten, der Pati­ent aber einen nor­ma­len Labor­be­fund auf­weist, soll­ten mit­tels Haut­bi­op­sie die Ner­ven­fa­sern im Unter­schen­kel und im Ober­schen­kel ver­gli­chen wer­den. „Wenn die Ner­ven­fa­sern im Haut­ge­webe des Unter­schen­kels deut­lich weni­ger sind als im Ober­schen­kel, liegt eine Small-Fiber-Neu­ro­pa­thie vor“, so Zifko. 

Akute moto­ri­sche Ver­schlech­te­rung = Notfall

Die The­ra­pie­op­tio­nen einer Poly­neu­ro­pa­thie hän­gen von der zugrun­de­lie­gen­den Ursa­che ab. Unter den demye­li­ni­sie­ren­den Poly­neu­ro­pa­thien zählt die akute inflamm­a­to­ri­sche demye­li­ni­sie­rende Poly­neu­ro­pa­thie laut Zifko zu den am bes­ten behan­del­ba­ren For­men der Poly­neu­ro­pa­thie. „Diese Form der Poly­neu­ro­pa­thie kann zu schwer­wie­gen­den Läh­mun­gen sowie Atem­ver­sa­gen inner­halb weni­ger Tage füh­ren. Aller­dings ist sie mit hoch­do­sier­ten Immu­no­glo­bu­li­nen sowie bei schwe­rem Ver­lauf mit Plas­ma­phe­rese gut zu behan­deln.“ Wich­tig sei, dass Pati­en­ten mit aku­ter moto­ri­scher Ver­schlech­te­rung als Not­fall behan­delt und daher rasch an eine Abtei­lung für Neu­ro­lo­gie über­wie­sen werden. 

Bei einer chro­ni­schen inflamm­a­to­ri­schen demye­li­ni­sie­ren­den Poly­neu­ro­pa­thie erfolgt die Ver­schlech­te­rung der Sym­ptome über Wochen und Monate. „Diese wird häu­fig feh­ler­kannt. Eine pro­gre­di­ente Neu­ro­pa­thie, auch wenn sie lang­sam fort­schrei­tet, sollte von einem Neu­ro­lo­gen abge­klärt wer­den. Wie die akute Form ist die chro­ni­sche inflamm­a­to­ri­sche demye­li­ni­sie­rende Poly­neu­ro­pa­thie mit Immun­glo­bu­li­nen gut behan­del­bar“, führt Zifko wei­ter aus.

Die häu­fi­gere Form der axo­na­len Poly­neu­ro­pa­thien wird oft durch chro­ni­schen Alko­hol­kon­sum, Dia­be­tes mel­li­tus oder Medi­ka­mente ver­ur­sacht. Hier steht die Behand­lung der ursäch­li­chen Grund­er­kran­kung im Fokus. „Mus­kel­schwä­che oder Taub­heit kön­nen nur behan­delt wer­den, wenn die Ursa­che behan­del­bar ist. Bei dia­be­ti­scher Poly­neu­ro­pa­thie kann über die Ein­stel­lung des Blut­zu­ckers die Pro­gre­di­enz der Neu­ro­pa­thie ver­hin­dert wer­den, die Ner­ven­funk­tion kann aller­dings kaum gebes­sert wer­den“, erklärt Löscher. „Der Nerv hat zwar eine gewisse Fähig­keit zur Selbst­re­ge­ne­ra­tion, aber nur bis zu einem gewis­sen Grad. Bei einer Ner­ven­schä­di­gung infolge einer Che­mo­the­ra­pie ist das eben­falls zu beob­ach­ten. Nur bei leich­ten Schä­den kann der Nerv gesund wer­den, bei schwe­rer Schä­di­gung erholt er sich unter Umstän­den, aber nur teilweise.“

Auch wenn die Ursa­che einer Poly­neu­ro­pa­thie schein­bar klar ist, wie etwa bei Pati­en­ten mit schlech­ten Blut­zu­cker­wer­ten, plä­diert Zifko dafür, nach einer mög­li­chen zwei­ten Ursa­che wie schä­di­gende Medi­ka­mente oder Ernäh­rungs­män­gel zu suchen – denn auch das sollte behan­delt wer­den. Aber: „Gezielte The­ra­pien sind bei axo­na­len Poly­neu­ro­pa­thien eher sel­ten“, betont Zifko. „Aller­dings ist eine sym­pto­ma­ti­sche The­ra­pie der nächste Schritt.“ Bei Gang­un­si­cher­heit etwa Phy­sio­the­ra­pie oder neu­ro­lo­gi­sche Reha­bi­li­ta­tion, bei Miss­emp­fin­dun­gen und Schmer­zen kön­nen Medi­ka­mente gegen den Ner­ven­schmerz gezielt ein­ge­setzt wer­den. Auch phy­si­ka­li­sche The­ra­pie hat einen Stel­len­wert, man­che Pati­en­ten spre­chen auf Elek­tro­the­ra­pie gut an. Diese The­ra­pien könn­ten einen Bene­fit brin­gen, weiß der Experte, „müs­sen aber nicht.“ Reha­bi­li­ta­tion und Phy­sio­the­ra­pie sowie eine genaue Bera­tung über mög­li­che Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel, bei der einer Über­do­sie­rung an Vit­amin B vor­ge­beugt wird, spie­len für Zifko eine wich­tige Rolle im Manage­ment von Polyneuropathien.

Unter den ver­erb­ten For­men der Poly­neu­ro­pa­thie sind laut Löscher der­zeit nur die Small Fiber Neu­ro­pa­thie und vor allem die her­edi­täre amy­lo­ide Poly­neu­ro­pa­thie gut behan­del­bar. Bei der her­edi­tä­ren amy­lo­iden Poly­neu­ro­pa­thie han­delt es sich um eine rasch fort­schrei­tende Erkran­kung; die Betrof­fe­nen ster­ben durch­schnitt­lich nach sie­ben bis zehn Jah­ren. Löscher dazu: „Mit neuen The­ra­pien kann man die Pro­gres­sion deut­lich ver­lang­sa­men, teil­weise auch stoppen.“ 

Gene­rell spricht sich Zifko dafür aus, bei der Dia­gnose und The­ra­pie von Poly­neu­ro­pa­thien nicht vor­schnell auf­zu­ge­ben. „Natür­lich gibt es Fälle, bei denen wir nur sym­pto­ma­tisch unter­stüt­zen kön­nen. Aber auch das ist gut. Denn die Mehr­zahl der Poly­neu­ro­pa­thien kön­nen wir zwar nicht hei­len, aber beeinflussen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 13–14 /​15.07.2020