Polio-Ausrottung: Schwierige letzte Meter

10.10.2020 | Medizin


Das Ziel, Polio bis 2020 weltweit zu eradizieren, konnte nicht erreicht werden. So zirkuliert das Wildpoliovirus Typ 1 nach wie vor in Afghanistan und Pakistan. Das weitaus größere Problem ist jedoch, dass auch das Impfpoliovirus zirkuliert. Ursache dafür: die schlechte Durchimpfungsrate.
Sophie Fessl

2020 hätte die Welt virenfrei sein sollen – von Poliomyelitis-Viren. Denn eigentlich war das Ziel der „Global Polio Eradication Initiative“ (GPEI), hinter der auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht, die weltweite Ausrottung von Polio bis zum Jahr 2000. Das ist allerdings bis jetzt noch nicht gelungen: Zwar wurde Nigeria 2020 als letztes Land Afrikas als frei von Wildpolioviren (WPV) erklärt, aber in Afghanistan und Pakistan zirkuliert Wild-Poliovirus Typ 1 noch immer. Und das ist nicht das größte Problem, erklärt Univ. Prof. Herwig Kollaritsch, Facharzt für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin in Wien. „Wildpolio virus 1 zirkuliert lediglich noch in zwei Ländern, das ist erfreulich, was die Wildpolio-Situation anbelangt. Kopfzerbrechen dagegen bereitet uns immer noch das zirkulierende Impfpoliovirus, das ist das größere Problem.“

Drei Serotypen des Wildvirus existieren: Typ 1 – auch bekannt als Brunhilde, Typ 2 („Lansing“) sowie Typ 3 („Leon“). Da keine Kreuzimmunität zwischen den Serotypen besteht, ist eine dreimalige Erkrankung an Poliomyelitis möglich. Im Rahmen der Global Polio Eradication Initiative, die 1988 gestartet wurde – als weltweit die Erkrankungsfälle bei 350.000 Fällen jährlich lagen – konnte hier ein Teilerfolg erzielt werden. 1999 wurde die Transmission des Wildpoliovirus Typ 2 erfolgreich gestoppt, 2012 wurde Wildpoliovirus Typ 3 zum letzten Mal in Nigeria nachgewiesen. Beide Serotypen wurden seither als global ausgerottet zertifiziert. 2018 kam es zu 29 Wildpolio-Fällen weltweit, 2019 zu 143. Dieses Jahr schließlich wurde Nigeria als frei von Wildpolio erklärt, somit sind fünf von sechs WHO-Regionen frei von Wildpolio – das entspricht mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung. In Pakistan und Afghanistan kommt es allerdings zu einem Anstieg von WPV1-Fällen; auch Regionen, die bereits frei von Polio waren, berichten wieder von Fällen.

 


Global Polio Eradication Initiative

Die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) ist eine öffentlich-private Partnerschaft unter der Leitung von nationalen Regierungen mit sechs Kernpartnern: Weltgesundheitsorganisation (WHO), Rotary International, US Centers for Disease Control and Prevention (CDC),  Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), Bill & Melinda Gates Foundation und Gavi, der Vaccine Alliance. 20 Millionen Freiwillige arbeiten an der Ausrottung der Kinderlähmung mit.

Im Jahre 1988 verabschiedete die WHO eine Resolution zur Ausrottung von Polio. Zu dieser Zeit war Polio in 125 Ländern endemisch und die WHO setzte sich das Ziel, Polio bis zum Jahr 2000 weltweit auszurotten. Derzeit ist Wildpolio in zwei Ländern endemisch: in Afghanistan und Pakistan.

 


Gefahr: lückenhafte Impfsituation

Für Impfpolio sieht die Situation allerdings anders aus. 2018 wurden 100 Fälle von Infektionen mit Impfpolio (VDPVs – Vaccine Derived Polio Viruses) nachgewiesen, 2019 bereits 250. Im Zeitraum zwischen 23. September 2019 und 22. September 2020 wurden weltweit 607 Fälle von Impfpolio nachgewiesen. „Das ist ein eindeutiges Missverhältnis zwischen Impfpolio und Wildpolio“, unterstreicht Kollaritsch. Zu einem Zirkulieren von Impfpolio kommt es, wenn die Durchimpfungsrate der Bevölkerung schlecht ist, erklärt der Experte. Denn der attenuierte Stamm, der in der oralen Polioimpfung nach Sabin verwendet wird, ist genetisch nicht absolut stabil und kann bei mehrfacher Passage durch Menschen sein pathogenes Potential wieder erlangen. Impfpolioviren werden bei der Impfung aufgenommen und vom geimpften Pateinten wieder ausgeschieden. Diese Viren kommen ins Abwassersystem, möglicherweise in die Nahrungsmittelkette und die Umgebung wird immunisiert. „Normalerweise erlischt die Verbreitung relativ rasch, da viele gegen das Poliovirus geimpft sind. Wird aber nur lückenhaft geimpft, trifft Impfpolio auf nicht-immune Personen und kann im Rahmen der Passagen wieder zum voll pathogenen Poliovirus remutieren. Somit erhalten wir wieder dieselbe Erkrankung, die auch durch Wildpolioviren ausgelöst wird“, berichtet Kollaritsch.

Zu einer lückenhaften Impfsituation kommt es, wenn Impfkampagnen aufgrund von Unruhen, kriegerischen Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen oder Angriffen auf Impfteams nicht ausreichend durchgeführt werden können. Kollaritsch führt Syrien als Beispiel für die Konsequenzen eines Zusammenbruchs der Strukturen an. „Syrien war im Kinderimpfwesen ein vorbildliches Land. Nach Ausbruch des Krieges kam es immer wieder zu Impfpolio-Fällen. Die Impfaktion steht und fällt also mit der Logistik und es kann rasch zu einem Ausbruch kommen, sodass man hier extrem aufpassen muss.“

Besonders hervorzuheben ist, dass die meisten Fälle von Impfpolio auf Impfpoliovirus Typ 2 zurückzuführen sind. „Und das, obwohl im jetzt verwendeten Polioschluckimpfstoff das Impfpoliovirus Typ 2 nicht enthalten ist. Es bedeutet, dass es sich hier um Restprobleme von alten Impfkampagnen handelt“, erläutert Kollaritsch. In den vergangenen zwölf Monaten sind Fälle von Impfpolio Typ 1 in Malaysien, Myanmar und den Philippinen aufgetreten. Im Juni 2020 wurden 19 Länder als vom zirkulierenden Impfpolio Typ 2 (cVPDV2) betroffen erklärt. „Das hat im Reiseverkehr dazu geführt, dass eine Impfpflicht besteht, wenn man mehr als vier Wochen in einem Land mit zirkulierender Impfpolio verbringt. Diese Impfplicht besteht bei der Ausreise, eine durchaus vernünftige Reaktion der WHO“, schlussfolgert Kollaritsch. „Wir sind auf gutem Weg, aber es fehlen noch die letzten Züge, damit Polio tatsächlich eliminiert wird.“

Neue orale Impfstoffe für Polio-Ausrottung

Polio wird erst dann vollständig ausgerottet sein, wenn alle Quellen des Virus einschließlich WPV und VDPV eliminiert sind. Ausbrüche von Impfpolio wurden als „Public Health Emergency of International Concern“ eingestuft; eine wirksame Kontrolle ist die Verwendung von gelagertem monovalenten OPV2. Die Verwendung dieses Impfstoffs birgt aber das Risiko, neue Ausbrüche von Impfpolio auszulösen, insbesondere bei nachlassender Schleimhautimmunität der Bevölkerung nach Beendung des Typ2-enthaltenden Schluckimpfstoffs.

Ein neuer Player bei der Ausrottung von Polio sind neue orale Impfstoffe (nOPV2). Klinische Studien haben gezeigt, dass nOPV2 einen vergleichbaren Schutz gegen das Poliovirus bietet, gleichzeitig aber genetisch stabiler ist und weniger wahrscheinlich in eine Form zurückfällt, die bei geringer Immunität zu Lähmungen führen kann. Die erhöhte genetische Stabilität des Impfstoffs bedeutet auch, dass ein geringeres Risiko für neue Ausbrüche des Impfpoliovirus Typ 2 besteht. nOPV2 wird für den Einsatz im Rahmen des EUL-Verfahrens (Emergency Use Listing Procedure) der WHO in Betracht gezogen, um eine rasche Verfügbarkeit zu ermöglichen.

Mit den Pocken ist bereits eine Ausrottung einer menschlichen Infektionskrankheit gelungen. Die Ausrottung von Polio gestaltet sich hingegen schwieriger, erklärt Kollaritsch. „Die Pocken waren leichter auszurotten, da diese Kampagne in einer anderen Zeit stattfand. Damals war man bei der Pockenimpfung viel rigoroser. Natürlich gibt es den Nachteil der zirkulierenden Impfpolio, aber es liegt nicht am Impfstoff, sondern an der Logistik.“

Auch Fehlinformationen stellen ein Problem dar: In Nigeria, wo sich das Wildpoliovirus besonders lange hielt, gab es deswegen Rückschläge, weil Gerüchte kursierten, wonach die Impfung Unfruchtbarkeit zur Folge hätte. „Solche Gerüchte zerstören das Vertrauen, die Impfung wird abgelehnt. In Zeiten der modernen Kommunikation verbreiten sich solche Gerüchte natürlich wahnsinnig schnell und sind nur schwer wieder aus dem Sinn zu bekommen.“

Auch die Corona-Pandemie könnte einen ähnlichen Effekt haben. „Viele Impfaktionen wurden ruhiggestellt oder fanden nicht statt. Es wird in den nächsten Jahren Probleme bereiten, diese Lücken zu füllen, aber in welchem Ausmaß werden wir erst abschätzen können, wenn wir diese Pandemie ausgestanden haben.“

Eine Wiedereinschleppung von Polio nach Österreich erachtet Kollaritsch dennoch als unwahrscheinlich. „Während der Syrien-Krise hatte man eine Einschleppung nach Europa befürchtet. Es ist allerdings nicht dazu gekommen“. Die Gründe dafür liegen in der guten hygienischen Situation und in der Polio-Impfung selbst. „Da unsere Abwasserentsorgung sehr gut ist, ist eine Übertragung über die fäkal-orale Route unwahrscheinlich. Und die Polioimpfung ist weiterhin Teil der allgemein empfohlenen Impfungen.“ Hier gibt es allerdings eine Veränderung: Nach der Immunisierung im Kindesalter werden nur noch zwei Auffrischungen empfohlen, bei Schuleintritt und bei Schulaustritt. Eine weitere Immunisierung im Erwachsenenalter ist nicht mehr vorgesehen. „Man kann davon ausgehen, dass keine weitere Immunisierung notwendig ist. Außer im internationalen Reiseverkehr, wenn ein Land mit zirkulierender Impfpolio bereist wird, hier besteht eine Indikation zur Impfung.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2020