Nowit­schok: Hoch toxi­sches Nervengift

10.11.2020 | Medizin


Als Nowit­schok bezeich­net man eine Gruppe von stark wirk­sa­men Ner­ven­gif­ten der vier­ten Gene­ra­tion. Dabei wir­ken die toxi­schen A‑Substanzen durch eine irrever­si­ble Hem­mung der Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase mit einer Über­sti­mu­la­tion aller betrof­fe­nen Sys­teme. Auf­grund der hohen Toxi­zi­tät müs­sen die Behand­ler auf den Selbst­schutz ach­ten.
Sophie Fessl

Der rus­si­sche Name„Nowitschok“ bedeu­tet „Neu­ling“. Nowit­schok ist eine Gruppe stark wirk­sa­mer Ner­ven­kamp­stoffe der vier­ten Gene­ra­tion. Sub­stan­zen der Nowit­schok-Gruppe sind binäre Kampf­stoffe, die in den 1970er Jah­ren in der ehe­ma­li­gen UdSSR ent­wi­ckelt wur­den. „Auch in den USA wur­den binäre Kampf­stoffe ent­wi­ckelt. Ihr Cha­rak­te­ris­ti­kum ist, dass zwei ungif­tige Kom­po­nen­ten gemischt wer­den, die dann die toxi­sche Sub­stanz bil­den“, erklärt Ass. Prof. Han­nes Todt vom Depart­ment für Neu­ro­phy­sio­lo­gie und Neu­ro­phar­ma­ko­lo­gie des Insti­tuts für Phar­ma­ko­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Mit „Nowit­schok“ wer­den dabei die Vor­gän­ger­sub­stan­zen bezeich­net, aus denen die toxi­sche Sub­stanz ent­steht. „Aus Nowit­schok 5 ent­steht die toxi­sche Sub­stanz A232, aus Nowit­schok 7 die toxi­sche Sub­stanz A234“, erklärt Todt.

Ein Grund für die Ent­wick­lung solch binä­rer Kampf­stoffe dürfte – so Todt – die Umge­hung von Pro­ble­men bei der Erzeu­gung, Lage­rung und Ent­sor­gung von toxi­schen Stof­fen gewe­sen sein. „Wenn das Lager, in dem Kampf­stoffe auf­be­wahrt wer­den, vom Geg­ner getrof­fen wird, ent­ste­hen natür­lich Pro­bleme. Wenn nur ungif­tige Vor­stu­fen erzeugt und gela­gert wer­den, las­sen sich diese vermeiden.“ 

Wenig gesi­cherte Informationen

Gesi­cherte Infor­ma­tio­nen über die che­mi­schen Eigen­schaf­ten von Nowit­schok gibt es auch wei­ter­hin nur wenig, betont auch Univ. Prof. Josef Don­ne­rer vom Insti­tut für Phar­ma­ko­lo­gie der Johan­nes-Kep­ler-Uni­ver­si­tät Linz. „Soweit bekannt, han­delt es sich um Orga­no­phos­phate mit ver­schie­de­ner Struk­tur und Toxi­zi­tät. Es gibt unter­schied­li­che Ver­mu­tun­gen dar­über, in wel­cher Form sie ver­wen­det wer­den. Sowohl flüs­sig als auch in Pul­ver­form wäre mög­lich.“ Auch andere Kampf­stoffe zäh­len zu den Orga­no­phos­pha­ten wie etwa Sarin, Soman oder das spä­ter ent­wi­ckelte VX. „Rus­si­sches VX“ gilt als der Pro­to­typ für die Serie der Nowit­schok-Sub­stan­zen. Auf­grund des lang­jäh­ri­gen Ein­sat­zes von Orga­no­phos­pha­ten als Insek­ti­zid in der Land­wirt­schaft und damit ein­her­ge­hen­den akzi­den­tel­len und absicht­li­chen Ver­gif­tun­gen ist viel über die Behand­lung von Orga­no­phos­phat-Ver­gif­tun­gen bekannt. 

Über die che­mi­sche Struk­tur von Nowit­schok herrschte lange Zeit Unklar­heit, da die Stoffe in einem Geheim­pro­gramm der UdSSR ent­wi­ckelt wur­den. „Infor­ma­tio­nen haben wir auf­grund von Publi­ka­tio­nen betei­lig­ter Wis­sen­schaft­ler, die in den 1990er Jah­ren die Exis­tenz von Nowit­schok ent­hüll­ten, ande­rer­seits von Publi­ka­tio­nen, die bereits vor dem Start des Geheim­pro­gramms ver­öf­fent­licht wur­den“, berich­tet Todt. „Man hat Struk­tu­ren geschaf­fen, die nicht unter die Che­mie­waf­fen-Kon­ven­tion fal­len bezie­hungs­weise nicht expli­zit darin auf­ge­führt werden.“ 

Ver­mu­tun­gen über che­mi­sche Struktur

Einige gene­relle Schlüsse über die wahr­schein­li­che che­mi­sche Struk­tur der Nowit­schok-Sub­stan­zen kön­nen gezo­gen wer­den. So besteht keine Bin­dung zwi­schen Koh­len­stoff und Phos­phor. Daher sind die toxi­schen A‑Substanzen mit Fluo­ro­phos­pha­ten ver­wandt, die nicht unter die Che­mie­waf­fen-Kon­ven­tion fal­len. Eine häu­fige Ver­bin­dung dürfte statt­des­sen die Bin­dung eines Phos­phor-Atoms mit einem Sau­er­stoff-Atom sein, das wie­derum mit einem Stick­stoff-Atom ver­bun­den ist (P‑O-N). Diese Ver­bin­dung sei eben­falls nicht in der Che­mie­waf­fen­kon­ven­tion ange­führt, erklärt Todt. „Es wird also ver­mu­tet, dass die Umge­hung der Che­mie­waf­fen-Kon­ven­tion ein Ziel die­ses Pro­gramms war. Auch die UdSSR hat diese Kon­ven­tion unter­zeich­net. Außer­dem ist der Nach­weis unbe­kann­ter Sub­stan­zen schwierig.“ 

A‑Substanzen sind äußerst toxisch. Wäh­rend Sarin einen LD50-Wert von 1.700 mg und Soman einen LD50-Wert von 350 mg bei per­ku­ta­ner Auf­nahme auf­wei­sen, lie­gen die LD50-Werte der toxi­schen A‑Substanzen A234 und A232 im Bereich von ein bis fünf Mil­li­gramm. „Es sind Gift­stoffe mit äußerst hoher Toxi­zi­tät. Das ist pro­ble­ma­tisch – vor allem wenn nicht recht­zei­tig die kor­rekte Behand­lung in Gang gesetzt wird“, berich­tet Don­ne­rer. Auf­grund der hohen Toxi­zi­tät müs­sen die Behand­ler auf den Selbst­schutz ach­ten; spe­zi­elle Emp­feh­lun­gen zur Dekon­ta­mi­na­tion sind zu befolgen. 

Die toxi­schen A‑Substanzen wir­ken durch eine irrever­si­ble Hem­mung der Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase: Das Phos­phor-Atom geht eine Bin­dung mit dem Serin-Rest im akti­ven Zen­trum des Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase-Mole­küls ein. Somit kann die Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase nicht mehr das in den syn­ap­ti­schen Spalt aus­ge­schüt­tete Ace­tyl­cho­lin abbauen. Es erfolgt eine Über­sti­mu­la­tion der Sys­teme, in denen Ace­tyl­cho­lin als Neu­ro­trans­mit­ter agiert: vor allem der moto­ri­schen End­platte, der mus­ka­ri­ner­gen und niko­tin­er­gen Rezep­to­ren im para­sym­pa­thi­schen und sym­pa­thi­schen Ner­ven­sys­tem sowie der mus­ka­ri­ner­gen und niko­tin­er­gen Rezep­to­ren im Zen­tral­ner­ven­sys­tem. „Da Ace­tyl­cho­lin an vie­len Stel­len des Ner­ven­sys­tems agiert, ent­ste­hen durch die viel­fach ver­stärkte Wir­kung von Ace­tyl­cho­lin so unter­schied­li­che und viel­fäl­tige Sym­ptome“, erklärt Donnerer. 

Ver­gif­tung: drei Facet­ten der Wirkung

Die Hem­mung der Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase äußert sich laut Todt in drei Facet­ten. Ers­tens ent­steht eine Über­sti­mu­la­tion an den mus­ka­ri­ner­gen Rezep­to­ren vor allem des Para­sym­pa­thi­kus. Aus einer Viel­zahl an Sym­pto­men ste­chen dabei eine starke Bron­chi­al­se­kre­tion, Bron­chos­pas­mus und Atem­not her­vor. Wei­ters kommt es zu Übel­keit und Erbre­chen sowie in man­chen Fäl­len Bra­dy­kar­die. Da aber auch Ner­ven des Sym­pa­thi­kus betrof­fen sind, kann es ebenso auch zur Tachy­kar­die und Hyper­to­nie kommen. 

Zwei­tens führt die Hem­mung der Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase zunächst zu Mus­kel­zu­ckun­gen und Krämp­fen, in wei­te­rer Folge zu Mus­kel­schwä­che und Mus­kel­läh­mun­gen. „Das kann zum raschen Tod auf­grund von Zwerch­fell­läh­mung füh­ren. Die Betrof­fe­nen müs­sen daher rasch beatmet wer­den“, führt Todt aus. Drit­tens ent­ste­hen Sym­ptome im Zen­tral­ner­ven­sys­tem: In nied­ri­ger Dosis kön­nen Angst­ge­fühl, Schwin­del, Ruhe­lo­sig­keit und Kopf­schmer­zen auf­tre­ten, aber auch Krampf­an­fälle. „Ein Sta­tus epi­lep­ti­cus kann zu einem rela­tiv schnel­len Tod füh­ren, außer­dem kön­nen so auch Spät­fol­gen auf­tre­ten.“ Bewusst­lo­sig­keit und Atem­läh­mung kön­nen auch durch die zen­trale Sym­pto­ma­tik ent­ste­hen. Durch die ver­stärk­ten mus­ka­ri­ner­gen Akti­vi­tä­ten kommt es außer­dem zu ver­stärk­ter Drüsentätigkeit. 

Bei der Behand­lung der Ver­gif­tung wird emp­foh­len, Atro­pin als Ant­ago­nist zu ver­ab­rei­chen. „Atro­pin sollte mög­lichst rasch intra­ve­nös oder intra­ossär gege­ben wer­den, um die Wir­kung von Ace­tyl­cho­lin an den mus­ka­ri­ner­gen Rezep­to­ren zu ant­ago­ni­sie­ren“, erklärt Todt. Ver­schie­dene Behand­lungs­sche­mata emp­feh­len die wie­der­holte Gabe von Atro­pin in stei­gen­der Dosis. „Die Atro­pin-Gabe sollte sich nach der Lun­gen­sym­pto­ma­tik rich­ten: ob es gelingt, den Bron­chos­pas­mus auf­zu­he­ben.“ Für die Behand­lung der zere­bra­len Krämpfe wer­den vor­ran­gig Ben­zo­dia­ze­pine emp­foh­len; auch andere Anti­epi­lep­tika kön­nen ange­wen­det werden. 

Um die Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase zu reak­ti­vie­ren, wer­den Oxime ein­ge­setzt. Aller­dings müs­sen diese früh­zei­tig gege­ben wer­den, da Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase bei einer Inak­ti­vie­rung durch Orga­no­phos­phate altert. „Bei einem geal­ter­ten Enzym ist die Inak­ti­vie­rung irrever­si­bel. Dann kann nur mehr die Sym­pto­ma­tik behan­delt und auf eine neue Syn­these des Enzyms gewar­tet wer­den“, führt Don­ne­rer aus. Bei einer star­ken Into­xi­ka­tion könne außer­dem ver­sucht wer­den, noch zir­ku­lie­ren­des Gift durch die Gabe von Buty­ryl-Cho­li­ne­s­ter­ase zu binden. 

Über die lang­fris­ti­gen Fol­gen einer Ver­gif­tung mit A‑Substanzen ist noch wenig bekannt. Wenige Wochen nach der Expo­si­tion kann eine Orga­no­phos­phat-indu­zierte ver­zö­gerte Neu­ro­pa­thie auf­tre­ten, die sich durch Mus­kel­läh­mun­gen äußert. „Oft ist nur ein lang­sa­mes Erho­len mög­lich, da neue Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase erst in aus­rei­chen­der Menge gebil­det wer­den muss. Mög­li­cher­weise könnte es in schwe­ren Fäl­len auch zu Schä­di­gun­gen der Ner­ven­enden kom­men“, berich­tet Donnerer. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 21 /​10.11.2020