M. Alzheimer: Depression maskiert Demenz

10.11.2020 | Medizin


Weltweit leiden derzeit etwa 50 Millionen Menschen an Demenz, wobei sich die Inzidenz einer Demenz-Erkrankung nach dem 60. Lebensjahr alle zehn Jahre verdoppelt. Die mit Abstand häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Demenz. Bei der Diagnose kann vor allem die Überlappung der Symptome von Demenz und Depression Schwierigkeiten verursachen.
Irene Mlekusch

Die mit Abstand häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Demenz mit einem geschätzten Risiko von 1:5 für Frauen und 1:10 für Männer, im Laufe ihres Lebens daran zu erkranken. Viele Frühsymptome finden sich in ähnlicher Form auch bei normalen altersbedingten Veränderungen; eine kontinuierliche Verschlechterung oder von Bezugspersonen wahrgenommene Beeinträchtigungen stellen oft die ersten Hinweise dar. Im Vordergrund steht eine Gedächtnisstörung mit Veränderungen im Kurzzeitgedächtnis und kognitive Störungen. Gedächtnislücken, Schwierigkeiten beim Planen und Problemlösen, Einschränkungen im Alltag bei gewohnten Tätigkeiten, räumliche und zeitliche Orientierungsprobleme, Wahrnehmungsstörungen, Sprach- und Schreibschwächen wie zum Beispiel häufige Wiederholungen, das häufige Verlegen von Gegenständen, eingeschränktes Urteilsvermögen, Verlust von Eigeninitiative und Rückzug aus dem sozialen Leben sowie Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen sollten bei älteren Menschen sorgfältig beobachtet und gegebenenfalls abgeklärt werden. Univ. Prof. Peter Fischer von der Psychiatrischen Abteilung der Klinik Donaustadt in Wien macht darauf aufmerksam, zuerst Differentialdiagnosen wie beispielsweise eine rheumatoide Enzephalitis oder eine Autoimmunerkrankung und Komorbiditäten wie Depressionen und Angststörungen auszuschließen.

Vor allem die Überlappung der Symptome von Demenz und Depression kann zu diagnostischen Schwierigkeiten führen, da die Prävalenz von Depressionen bei älteren Menschen sehr hoch ist. Depressionen sind im Alter eher unterdiagnostiziert und daher auch untertherapiert. Zusätzlich weisen bis zu 60 Prozent der depressiven Patienten auch eine Angststörung auf. „Oft liegt eine Depression vor, die eine Demenz maskiert,” warnt Fischer. Bei der depressiven Pseudodemenz wiederum werden Patienten mit Depressionen aufgrund ihrer psychischen und körperlichen Verlangsamung und möglichen kognitiven Symptomen als dement eingestuft. Eine adäquate Behandlung der Depression im Alter sei ausgesprochen wichtig und wirke sich positiv auf den Verlauf einer gleichzeitig vorhandenen Demenz aus, wie der Experte betont.

Differentialdiagnose: Abgrenzung zum Delir

Andere Demenzformen wie vaskuläre Demenz, Lewy-Body-Demenz und Demenz im Rahmen einer Parkinson-Erkrankung sollten bei zeitlicher Desorientiertheit und Gedächtnisstörungen ebenso abgeklärt werden wie Gehirntumore, AIDS, Chorea Huntington, Hypothyreose, Vitaminmangel, Stoffwechselerkrankungen, Alkohol- und Substanzmissbrauch oder pharmakologische Nebenwirkungen. Fischer verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Abgrenzung zum Delir. Plötzlich einsetzende Störungen des Bewusstseins, Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und kognitiven Funktionen innerhalb von Stunden bis Tagen sowie Fluktuationen der Symptomintensität und bei einem Drittel der Betroffenen auch Halluzinationen und wahnhafte Störungen weisen auf ein delirantes Zustandsbild hin. „Eine hohe anticholinerge Last kann zu einem Cholinmangel-Delir führen“, erklärt Fischer. Nach dem Absetzen der anticholinergen Medikamente können sich die Gedächtnisbeeinträchtigungen wieder normalisieren. Vor allem Medikamente mit zentral anticholinerger Wirkung und Chinolone bei älteren Patienten, Polypharmazie, aber auch hypo- oder hyperglykämische Blutzuckerspiegel, Infektionen oder neurologische Ereignisse wie Insult, zerebrale Blutungen oder Entzündungen begünstigen ein Delir. Ganz generell kann man davon ausgehen, dass jede Demenz vom Alzheimertyp mit einer Gedächtnisstörung beginnt, aber nicht jeder Gedächtnisstörung bei älteren Menschen automatisch eine beginnende Alzheimer-Demenz zugrunde liegt.

In Studien wie der weltweit größten epidemiologischen Untersuchung MIRAGE (Multi Institutional Research of Alzheimer Genetic Epidemiology) konnte nachgewiesen werden, dass die Alzheimer-Demenz mit Beginn der Symptome nach 65 Jahren ebenfalls eine genetische Prädisposition aufweist. Die Genetik der Lateonset Alzheimer-Demenz ist sehr komplex und eher als zusätzlicher Risikofaktor in einer Interaktion mit umweltbedingten und epigenetischen Einflüssen zu sehen. Personen, bei denen ein Verwandter ersten Grades an Alzheimer-Demenz erkrankt ist, haben ein bis zu 30 Prozent erhöhtes Risiko, ebenfalls an Alzheimer zu erkranken. „Nur Keimbahnmutationen, wie sie bei familiärer Alzheimer-Demenz vorkommen, können in solchen Familien bestimmt werden und sind dann prädiktiv“, sagt Univ. Prof. Reinhold Schmidt von der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität in Graz. Und weiter: „Bei sporadischen Fällen gibt es genetische Risikofaktoren, die zwar eine deutliche Risikosteigerung bedeuten, wie etwa Apolipoprotein E Hetero-oder Homozygotie, die für das Individuum aber keine zuverlässige Aussage erlauben und daher nicht empfohlen werden.” Die genetische Basis ist bei Familien mit autosomal dominanter Alzheimer-Demenz, der sogenannten seltenen early-onset Alzheimer-Demenz, die bereits im Alter von 30 bis 60 Jahren auftritt, gut untersucht. Die Mutationen finden sich an den Chromosomen 1, 14 und 21 im Bereich der Gene Amyloid Precursor Protein (APP) sowie Presenilin 1 und 2 und liegen bei 60 bis 70 Prozent der Patienten mit early-onset Alzheimer-Demenz vor. Patienten mit Mutationen in diesen Genen habe eine nahezu 100-prozentige Wahrscheinlichkeit, im Lauf ihres Lebens an Alzheimer-Demenz zu erkranken. Auch Menschen mit Trisomie 21 entwickeln aufgrund einer Veränderung am APP-Gen für gewöhnlich in ihrer fünften Lebensdekade die klinischen und neuropathologischen Veränderungen einer Alzheimer-Demenz.

Zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem Auftreten von biochemischen Veränderungen im Gehirn liegt eine lange asymptomatische Phase von bis zu 30 Jahren. „Molekulare Veränderungen sind bereits 25 Jahre vor der entsprechenden Klinik im Liquor nachweisbar. Allerdings findet sich eine Reduktion des Peptids Abeta 1-42 bei jedem zweiten über 90-Jährigen und sollte daher vorsichtig interpretiert werden”, führt Fischer weiter aus.

Zwei weitere Biomarker im Liquor, die im Zusammenhang mit neuronalem Zelluntergang im Rahmen einer Alzheimer-Demenz ansteigen, sind das Tau-Protein und die phosphorylierte Variante pTau. Darüber hinaus finden sich in der modernen Bildgebung bis zu 15 Jahre vor der Symptomatik frühe Hinweise. Schmidt gibt zu bedenken, dass mit der bildgebenden Diagnostik im Hinblick auf die Frühdiagnostik der Demenz vom Alzheimertyp nur Hinweise möglich sind, aber keine definitive Diagnose gestellt werden kann. „Die diagnostischen Möglichkeiten umfassen MRT, Amyloid-PET und Tau-PET. Letztere derzeit aber nur in einigen Zentren weltweit,” so Schmidt. Die mittels Pittsburgh Compound-B Speicherung gemessenen Amyloid-Ablagerungen und Tau-Aggregationen sind im PET sehr früh in der Lage zwischen einer Alzheimer-Demenz und anderen Ursachen für Demenz zu differenzieren. Fischer erinnert daran, die Ergebnisse der apparativen Diagnostik nur im Zusammenhang mit der Klinik zu betrachten. Denn: Eine Diagnose zu stellen mache nur dann Sinn, wenn daraus eine Therapie folge.  

MRT: Atrophie oft nicht befundet

Bei der Abklärung von ersten dementiellen Symptomen spielen MRT und CT eine wesentliche Rolle zum Ausschluss zerebrovaskulärer Erkrankungen, struktureller Veränderungen wie Neoplasien, Normaldruck-Hydrocephalus, subduralem Hämatom und regionalen Hirnatrophien wie zum Beispiel der frontotemporalen Demenz. „Strukturelle Veränderungen im MRT, die auf eine Alzheimer-Demenz hinweisen können, finden sich ebenfalls schon 15 Jahre vor dem Beginn der Erkrankung in Form einer Atrophie des medialen Temporallappens“, berichtet Fischer. Er bedauert, dass die Atrophie oft nicht befundet wird, obwohl mit dem Medial Temporal Lobe Atrophy (MTA) Score – auch als Schelten-Skala bekannt – eine „hilfreiche“ Klassifikation zur Verfügung steht. Der MTA-Score wird in Abhängigkeit vom Alter des Patienten interpretiert und gilt bei über 75-Jährigen ab einem Wert von drei als auffällig. FDG-PET und SPECT kommen als funktionelle Verfahren eher zur Abgrenzung von Differentialdiagnosen zum Einsatz. Insgesamt gelten die topographischen Biomarker als weniger spezifisch als die molekularen. Im Stadium der milden kognitiven Beeinträchtigung könne man laut Schmidt Folgendes erwarten: „Bei Amyloidmarkern ohne Tau und ohne Mediotemporallappen-Atrophie besteht eine Progression zur Alzheimer-Demenz innerhalb von drei Jahren von 32 Prozent. Sind Amyloidmarker und Taumarker positiv ohne Atrophiezeichen, liegt die Progressionsrate bei 41 Prozent. Sind dagegen alle drei Marker positiv, beträgt das Progressionsrisiko 68 Prozent.”

Nach der asymptomatischen oder präklinischen Phase kommt es über weitere fünf bis zehn Jahre zu einer Phase der subjektiven kognitiven Verschlechterung, die schließlich in eine milde kognitive Störung übergeht. „Neuropsychologische Tests können als Screeningverfahren eingesetzt werden. Die Demenzdiagnose ist aber eine klinische Diagnose, die Testergebnisse mit einbezieht”, betont Schmidt. Als Screeningverfahren kommen der Uhrentest, der MMSE, der Demenz-Detection Test, das Montreal Cognitive Assessment (MoCA) und ADL-Skalen häufig zum Einsatz. Im Zuge einer umfassenderen Testung mittels CERAD (Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease) kann der Schweregrad der Demenz abgeschätzt werden. „Es gibt derzeit keinen Goldstandard bei den Demenztests. Aber der MMSE wird international zur Verlaufsbeurteilung eingesetzt“, bestätigt Fischer. Wenn die Betroffenen dabei im Mittel mehr als drei Punkte im Jahr verlieren, weißt dies auf einen raschen Verlauf hin und schnelles Handeln ist nötig.

Beide Experten sind sich darin einig, dass nur diejenigen mit kognitiven Beeinträchtigungen, nicht jedoch asymptomatische Personen einer weiteren Abklärung unterzogen werden sollten. Empfehlenswert hingegen ist es, Risikofaktoren wie vaskuläre Erkrankungen, Hypertonie, Übergewicht und Diabetes mellitus bestmöglich zu kontrollieren und gegebenenfalls zu behandeln, um einer Demenz im Alter oder deren Progression vorzubeugen. Ein körperlich aktiver Lebensstil bis ins hohe Alter mit einem regen Sozialleben und vielfältigen geistigen Aktivitäten stellt außerdem eine gute Strategie der Demenzprävention dar, resümieren die beiden Experten.

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2020