Hypercholesterinämie: Unterversorgt oder nicht versorgt

10.10.2020 | Medizin


Im Hinblick auf Statine sind Betroffene in Österreich unterversorgt. In den aktualisierten europäischen Leitlinien wird Hoch-Hochrisikopatienten eine Reduktion des LDL-Cholesterins unter 55 mg/dl beziehungsweise unter 40 mg/dl empfohlen.
Manuela-Claire Warscher

Ende 2019 legten sowohl die European Society of Cardiology (ESC) als auch die European Atherosclerosis Society (EAS) aktualisierte Dyslipidämie-Leitlinien vor. Dass die Aktualisierung bereits drei Jahre nach der Publikation der Leitlinien 2016 erfolgte, ist der guten Datenlage zu verdanken. In den überarbeiteten Guidelines wird nun neben den Hochrisikopatienten eine neue Risikogruppe, die Hochhochrisikogruppe, definiert. Diese weist ein sehr hohes kardiovaskuläres Risiko auf, für das eine Senkung des LDL-Cholesterinspiegels unter 55 mg/dl (bisher: unter 70 mg/dl) empfohlen wird. Tritt trotz der lipidsenkenden Therapie innerhalb von zwei Jahren ein zweites kardiovaskuläres Ereignis auf, ist in den Leitlinien eine weitere Reduktion auf einen Zielwert unter 40 mg/dl vorgesehen. „Eine Progredienz unter einer laufenden Therapie definiert den Hochrisikopatienten zum Hochhochrisikopatienten, für den noch striktere Werte gelten“, erklärt Univ. Prof. Susanne Kaser von der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Innsbruck. „Darunter fallen Patienten mit einer atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankung oder auch Patienten mit schwerer chronischer Nierenerkrankung oder Diabetes mellitus“, konkretisiert Univ. Prof. Christoph Ebenbichler von der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Innsbruck.

Jede lipidsenkende Therapie wird durch das vaskuläre Risiko, das Ausgangs-LDL-Cholesterin sowie vom Ausmaß der LDL-C-Senkung definiert. Derzeit sind drei Substanzklassen mit einem jeweils anderen Wirkmechanismus für die Behandlung der

Hypercholesterinämie verfügbar; sie sollten in der Reihenfolge Statine, Ezetimib und PCSK9-Hemmer zum Einsatz kommen. „Diese drei Lipidsenker führen zu einer Reduktion des kardiovaskulären Risikos, was in mehreren Studien gut nachgewiesen werden konnte“, so Ebenbichler. Tatsächlich konnte in randomisierten Studien gezeigt werden, dass bei einer Senkung des LCL-C um 39 mg/dl Myokardinfarkte um 21 Prozent und die Gesamtmortalität um zwölf Prozent reduziert werden können.


Einteilung der Risiko-Patienten

Very high risk

  • Kardiovaskuläre Erkrankung (KHK, Stabile Angina Pectoris, TIA/Insult), PaVK, Carotisplaque)
  • Diabetes mit Endorganschaden (Neuropathie, Retinopathie, Mikroalbuminurie)
  • Chronische Niereninsuffizienz
  • Familiäre Hypercholesterinämie mit Risikofaktor

< 55 mg/dl UND Reduktion um  
> 50 Prozent des Ausgangswertes

High risk

  • Diabetes ohne Endorganschaden
  • Familiäre Hypercholesterinämie ohne Risikofaktor
  • Chronische Niereninsuffizienz

< 70 mg/dl UND Reduktion um  
> 50 Prozent des Ausgangswertes

Moderate risk

  • Junge Patienten unter 35 Jahren mit Diabetes mellitus Typ 1
  • Typ II-Diabetiker unter 50 Jahren ohne Risikofaktoren und Endorganschäden

< 100 mg/dl


Statine: gut untersucht

Statine bleiben das Mittel der ersten Wahl in der Behandlung von Hypercholesterinämie. „Statine sind jene Arzneimittelgruppe, die am längsten und besten untersucht ist“, betont Kaser. Dem Vorwurf, dass äußerst erfolgreiche Lobbying-Strategien der pharmazeutischen Industrie zu einem erhöhten Absatz der Statine geführt habe, kann sie nichts abgewinnen. „Alle verfügbaren Statine sind mittlerweile generisch. Im Gegenteil: In Österreich stehen wir vor dem Problem, dass Patienten hinsichtlich hochpotenter Statine immer noch untervorsorgt sind.“ Die höheren Absatzzahlen der lipidsenken Therapeutika macht Kaser an der Anpassung der Leitlinien fest, die im Laufe der Jahre die LDL-Zielwerte immer tiefer gesetzt haben, um die Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren. „Dennoch sind viele Patienten noch nicht im Zielbereich, in dem sie sein sollten.“ Ebenbichler ergänzt: „Zieht man die jährliche Zahl an Herzinfarkten und die Zahl der Patienten mit einer kardiovaskulären Erkrankung heran, dann müssten die Verschreibungszahlen von lipidsenkenden Arzneimitteln wesentlich höher sein als es gegenwärtig der Fall ist. Damit ist ein großer Teil der Patienten derzeit tatsächlich unterversorgt oder nicht versorgt.“

Werden mit Statinen und Ezetimib die Zielwerte nicht erreicht, kann auf PCSK9-Hemmer zurückgegriffen werden. Diese kommen derzeit bei einem mittleren LDL-Cholesterin von 180 mg/dl zur Anwendung. Das Enzym PCSK9 (Proprotein Convertase Subtilisin/Kexin Typ 9) spielt eine wesentliche Rolle bei der Regulierung des LDL-Cholesterin-Spiegels im Blut. In diesem Sinne beschleunigen PCSK9-Inhibitoren die Wiederverwertung von LDL-Rezeptoren an der Zellmembran und senken auf diese Weise das LDL-Cholesterin. „Diese monoklonalen Antikörper helfen vor allem Hochrisikopatienten, ihre LDL-Werte um bis zu 60 Prozent zu senken“, sagt Ebenbichler.

Alternativen bei Statin-Unverträglichkeit

Nicht nur Hochrisikopatienten, sondern auch Patienten, die Standardtherapien mit Statinen nicht vertragen, werden künftig vermehrt auf Alternativen, wie Bempedoinsäure oder PCSK9-Hemmer, eingestellt werden. Schätzungsweise fünf bis 20 Prozent der Patienten leiden an einer Statin-Unverträglichkeit. Allerdings dürfte die Zahl wohl wesentlich niedriger sein, denn „nur weil ein Patient ein Statin nicht verträgt, bedeutet das noch nicht, dass er eine Unverträglichkeit aufweist“. Vielmehr appelliert Kaser zumindest zwei Statine bei niedriger Dosis zu verschreiben, um herauszufinden, ob tatsächlich eine Intoleranz vorliegt.

Die häufigsten Nebenwirkungen von Statinen sind Statin-assoziierte Muskelsymptome (SAMS). Daher können Angaben von Patienten zu Muskelschmerzen ein wesentlicher Hinweis auf eine mögliche Unverträglichkeit sein erklärt Ebenbichler. „Der Rosenson-Score unterstützt bei der Diagnose der SAMS. Dabei werden die Beschwerden in zeitliche Abhängigkeit mit der Statine-Einnahme und Statinunterbrechung gebracht.“ Typischerweise klagen Patienten vier bis sechs Wochen nach Therapiebeginn über Schmerzen in den großen Muskelgruppen wie Oberschenkel, Schultergürtel oder Oberarme. „In Zukunft wird Bempedoinsäure das Mittel der Wahl bei Statin-Intoleranz sein“, zeigt sich Ebenbichler überzeugt.

Die künftige Therapie

Die laufende Forschung konzentriert sich auf die Senkung des LDL-Cholesterin, um künftig Atherosklerose noch besser vorbeugen und behandeln zu können. So wird mit Bempedoinsäure eine Reduktion des LDL-Cholesterin um 20Prozent möglich sein. Neben Antikörpern werden weitere Ansätze geprüft, um PCSK9 zu hemmen. „Inclisiran ist eine small interfering RNA gegen PCSK9-RNA und sehr wirksam und sicher“, sagt Ebenbichler. „Die Substanz wird als eine Art Depotanwendung nur zweimal im Jahr gespritzt werden.“ Dennoch ist der Experte überzeugt, dass „Statine wnicht verschwinden werden. Sie bleiben als hocheffektive, gut erforschte Lipidsenker der erste Baustein jeder Behandlung. Der Fokus jeder Therapie – egal ob heute oder in Zukunft – müsse auf der Erreichung der Zielwerte liegen. Ebenbichler weiter: „Wichtig ist, dass die zur Verfügung stehenden effektiven Arzneimittel tatsächlich genutzt werden, um die mit LDL-Cholesterin assoziierte Mortalität und Morbidität zu reduzieren.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2020