Geriatrisches Assessment: Funktionalität durch Prävention

25.01.2020 | Medizin


Das geriatrische Assessment in der Hausarztpraxis kann dabei helfen, die Funktionalität und somit die Lebensqualität von älteren Menschen nachhaltig zu verbessern. Mit dem MAGIC­Fragebogen kann sich der Allgemeinmediziner in wenigen Minuten einen ersten Eindruck verschaffen.
Julia Obruca

Auch bei onkologischen Erkrankungen, schweren Herzerkrankungen und COPD eignet sich das Basis-Assessment als Orientierungshilfe um das Ausmaß der Multimorbidität festzustellen“, so begründet Prof. Katharina Pils vom Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien die Bedeutung des geriatrischen As­sessments. Des Weiteren geht es auch darum, festzustellen, wie viele Funktionsstörungen vorliegen. Mit diesen beiden Kriterien sei letztlich auch die Lebenserwartung verknüpft. Pils weiter: „Je fragiler der Zustand einer Person ist und je schlechter sie im Assessment abschneidet, umso schlechter ist die Überlebenschance“.

Als entscheidende Faktoren für den noch größeren Einsatz als bisher in der allgemeinmedizinischen Ordination nennt die Expertin Folgendes: den Abbau von Hemmschwellen und zu vermitteln, dass Hausärzte mit einem nur geringen Aufwand viel zur nachhaltigen Funktio­nalität der Patienten beitragen können. Denn nach Ansicht von Pils komme das geriatrische Assessment bislang in den haus­ärztlichen Ordinationen zu wenig zum Einsatz. Derzeit ist das umfassende geriatrische Basis­-Assessment multiprofessionellen Teams – unter der Leitung eines Arztes – an Abteilungen für Akutgeriatrie vorbehalten. Den­noch eignen sich Teile davon „für eine erste Erhebung des Gesundheitszustandes von älteren Patienten in der allge­meinmedizinischen Ordination“, so Pils. Zielgruppe für eine solche Untersuchung sind demnach Patienten, bei denen ein gesundheitlicher oder funktioneller Abbau befürchtet wird oder schon eingetreten ist. Erfahrungsgemäß beginnt dies etwa ab dem 70. Lebensjahr.

Das rechtzeitige Erkennen einer „gewissen Vul­nerabilität im Chronic Care Management zur Erhaltung der Funktionalität“ steht für Univ. Prof. Regina Roller­-Wirnsberger von der Universitätsklink für Innere Medizin Graz im Vordergrund. Denn die Menschen er­lebten im Alltag nicht die Diagnose „Koronare Herzkrankheit“ oder „Diabetes mellitus“ als Einschränkung, sondern beispielsweise die Tatsache, dass sie beim Stiegensteigen keine Luft bekommen. Dazu kommt noch, dass es aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer mehr Pa­tienten gibt, die aufgrund ihrer Mul­timorbidität eine Dauermedikation mit vielen verschiedenen Medika­menten erhalten. Polypharmazie und Multimorbidität fördern die Entwicklung einer Frailty, die wiederum häufig dazu führt, dass die Betroffenen wiederholt hospitalisiert werden müssen. „Die Einbußen in der Lebensqualität, die daraus resultieren, erfordern Maß­nahmen zur Früherkennung eines geriatrischen Syndroms. Dies sollte in der Ordination des Allgemeinmediziners erfolgen“, unterstreicht Roller­Wirns­berger. Da dieser die Patienten schon jahrelang betreut, kann der Hausarzt mögliche Verschlechterungen des Gesundheitszustandes rechtzeitig feststel­len. „Dafür muss man dem Allgemeinmediziner die notwendigen Testinstru­mente zur Verfügung stellen“.

Signalfragen und MAGIC-Fragebogen

„Fühlen Sie sich voller Energie?“ und „Haben Sie Schwierigkeiten, eine Strecke von mehr als 400 Metern zu gehen?“ – das sind laut Pils die beiden Signalfragen, die im Zuge des Assessments gestellt werden sollten. Zeigen sich hier Auffäl­ligkeiten, ist eine vertiefende Abklärung der Beeinträchtigungen indiziert. Dafür kommt der „MAGIC-­Fragebogen“ (Manageable Geriatric Assessment) zum Ein­satz. Dieser enthält Fragen zu den neun Dimensionen Selbsthilfefähigkeit, Mo­bilität/Motorik, Kognition/Delir, Depressivität, soziale Situation, Schmerz, Er­nährung/Dysphagie, Schlaf und Substanzmissbrauch/Sucht. „In den Bereichen, in denen ein Problem auftaucht, folgt eine detaillierte Funktionsprüfung und Analyse“, erklärt Pils. Für die praktische Anwendung in der Ordination des Allge­meinmediziners könnte dies so aussehen, dass die Ordinations­Assistentin den MAGIC­-Fragebogen mit dem Patienten bespricht. Der Arzt bekommt dann den bereits ausgefüllten Fragebogen und „erhält so bereits einen ersten Überblick“, weiß die Expertin.

Als eines der praktikablen Assessment­Instrumente bezeichnet Roller­-Wirnsberger die Bestimmung der Ganggeschwindigkeit – stellt dies doch einen der wichtigsten und „einfach zu erhebenden“ Parameter dar. „Wir wissen heute, dass das ein hochsensibler Marker für den medizinischen Verlauf und die Pflegebe­dürftigkeit ist. Kein Diabetes, kein Laborwert sagt so sensibel, was bei einem Pa­tienten Sache ist.“ Auf diese Weise könne ein Arzt schon in wenigen Minuten ein Risiko bei seinen Patienten ermitteln.

Die beiden Expertinnen sehen auch außerhalb der Hausarztpraxis ein großes Potential für das geriatrische Assessment; so könne es durchaus auch für Notaufnahmen in Krankenhäusern empfohlen werden. Darüber hinaus schlägt Pils, geriatrische Evaluierungsmethoden in Schwerpunktkrankenhäusern und auch auf bestimmten Abteilungen wie etwa der Onkologie vor. Dabei könne es vor allem darum gehen, die Sinnhaftigkeit von bestimmten medikamen­tösen Therapien oder chirurgischen Eingriffen abzuklären. Diese Methoden könnten helfen bei der Antwort auf Fragen wie beispielsweise „Macht es noch Sinn, dem Patienten eine Chemotherapie oder eine künstliche Herzklappe zu implantieren oder ist die Überlebenswahrscheinlichkeit aufgrund seiner all­gemeinen Gebrechlichkeit so gering, dass der potentielle Zusatzgewinn der Lebenserwartung unerheblich ist?“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.1.2020